Ein Hörbuch-Experiment
 

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Aus dem Reiche der Phantasie – Heft 2 – Die Totenstadt – 5. Teil

Robert Kraft
Aus dem Reiche der Phantasie
Heft 2
Die Totenstadt
Verlag H. G. Münchmeyer, Dresden, 1901

Die weitere Entwicklung

Für Richard begann nun kein anderes Leben, als wie es Robinson auf seiner weltverlassenen Insel geführt hatte, obgleich er sich noch immer in dem Glauben befand, von allen Erzeugnissen der Kultur in Hülle und Fülle umgeben zu sein. Er musste in allem fast gänzlich von vorn anfangen, als ob er nackt auf die Welt gekommen sei, und er arbeitete denn auch eifrig.

Zunächst musste er sich Feuer verschaffen, denn die Streichhölzer waren zwar getrocknet, aber blieben unbrauchbar. Es gelang ihm, die Patronen des Revolvers, so verrostet dieselben auch waren, zur Entzündung zu bringen. Er öffnete eine Patrone, rieb einen trockenen Lappen mit Pulver ein und schoss ihn in Brand.

Auch an Fleisch und Brot mangelte es ihm nicht. Das Mehl trocknete zwar ein, lieferte aber trotzdem schmackhaftes Gebäck, und da sich Tauben einstellten, die er fütterte, was natürlich dieselben noch mehr anzog, so brauchte er einen vortrefflichen Braten nicht zu entbehren.

Dann fand er in dem Haus außer einigen Jagdgewehren mit Munition auch Angelgerätschaften, sodass der Fluss ihm öfters Fische bieten konnte, und die Zeit verging ihm schnell, denn er hatte immer Beschäftigung. Bald putzte er Gewehre, bald konstruierte er schon für später, wenn er einmal keine Patronen mehr besaß, einen Feuerbohrer oder fertigte Bogen und Pfeile, indem er als Spitzen für dieselben Nägel benutzte. Dann wieder sorgte er für die Zukunft, indem er Kartoffeln pflanzte, und endlich fertigte er einen Holzrahmen an, den er mit Gardinen überzog, um so, wenn er diese heißen Stunden im Schatten verträumt, einen Schutz gegen die Mücken zu haben, die hier am Fluss in zahllosen Schwärmen auftraten. Inzwischen beobachtete er die Vegetation und die Tierwelt. Da bemerkte er gar Sonderbares. Die Wintersaat war schon zwei Meter hoch und begann zu verdorren. Neues Grün sprosste zwischen den gelben Halmen hervor, und es zeigten sich doch keine Ähren. Das heißt, Ähren mit Samen waren wohl da, aber das waren keine Getreidekörner.

Das Getreide wuchs eben auf Kosten des Samens so rasch in die Höhe. Es verwilderte, es vergraste. Denn unser Roggen, Weizen, Gerste sind schließlich auch nichts weiter als eine Grasart, die aber in gemäßigtem Klima auf Kosten ihrer Halmhöhe so weit veredelt worden ist, dass sie mehligen Samen, Körner, hervorbringt. Es gedeiht in südlichen Gegenden solches Getreide nicht, d. h., es wächst dort nur als hohes Gras und gibt keine Ähren.

Dieselbe Erfahrung machte Richard bei den einheimischen Obstbäumen, wie Kirschen, Äpfeln, Birnen und so weiter. Die Bäume trieben ungeheure Blüten und Blätter, aber alles auf Kosten der späteren Früchte. Diese wurden nur ganz klein und holzig, und nach wenigen Jahren musste sich der schönste, aromatische Tiroler Apfel in eine ungenießbare Holzkugel verwandelt haben. Nicht einmal die Pfirsiche wollten recht gedeihen, auch sie wurden holzig oder verfaulten am Stamm.

Hast du, lieber Leser, nicht schon von den köstlichen Früchten gehört und gelesen, die auf dem heißen Gürtel der Erde dem Bewohner jener glücklichen Gegenden zum Mund hineinwachsen? Von der saftigen, herrlichem Ananas zum Beispiel, die wild im Freien gedeiht?

Glaube es nicht, es ist nicht wahr! Die Ananas, die dort unten wächst, ist ganz holzig und ungenießbar. Diejenige, die wir essen, ziehen wir bei uns in Gewächshäusern, und will der Westinder eine gute Ananas haben, so muss er sie auch erst im Haus ziehen. Aber er tut das nicht, er bezieht sie aus England, und daher sind die Ananas in ihrer Heimat viel, viel teurer als in Deutschland, Frankreich und England. Fast ähnlich ist es mit allen anderen Früchten, um welche wir manchmal die glücklichen Südländer so beneiden. Was ist denn an den mehligen, widerlich süßen Bananen, an den wässrigen Orangen, an dem groben Fleisch der Kokosnuss dran? Mit einem Apfel, einer Birne und dem feinen Kern einer Haselnuss lässt sich dies doch nicht vergleichen. Der Nordbrasilianer lobt seine Früchte über alles, er hat prächtige Namen für sie, aber wenn man hinkommt, so legt er sie erst in Essig oder Spiritus und Zucker ein, ehe er sie isst, und mit solchen Ingredienzien kann man schließlich auch Nussschalen wohlschmeckend machen.

Nein, mit allen diesen vielgepriesenen Früchten des heißesten Südens ist es nichts; nur die gemäßigte Zone bringt an Geschmack das Beste und Edelste hervor, wie schon der Rheinwein beweist.

Mit den Blumen ist es etwas anderes, da kommt nicht die Frucht in Betracht, und so sah auch hier Richard sich herrliche Blüten entwickeln, die er wegen ihrer Größe und ihres Duftes kaum als die einstigen, ihm wohlbekannten Blumen wiedererkannte. Dagegen verholzte auch das Gemüse im Garten.

Aber nicht alles verdarb. Das veränderte Klima, es brachte auch Neues, Nützliches hervor. Auf dem Mühlenhof entstand von selbst ein Feld, als die Halme wuchsen und einige sehr breite Blätter trieben, entwickelten sich Ähren, und nun erkannte Richard mit Erstaunen, dass es ein mit Reis vermischtes Maisfeld war.

Er konnte sich das Wunder bald erklären. Er hatte die Tauben mit vorgefundenem Reis und Mais gefüttert. Der Mais wurde rasch groß und lieferte Kolben, der Reis allerdings wollte nicht recht gedeihen, der verlangte eine besondere Pflege und hauptsächlich viel Feuchtigkeit. Richard hatte gelesen, wie die Chinesen ihre Reisfelder anlegen, die bald unter Wasser gesetzt, bald wieder trocken gelegt werden müssen, und er wollte die Reiskultur schon ausprobieren.

Die Tierwelt veränderte sich zunächst viel weniger, und Richard wusste auch gar nicht, wie sie sich hätte verändern sollen. Neue Tiere konnten doch nicht entstehen! Wohl sah er Adler und große Geier. Diese verschwanden aber gar bald wieder. Dagegen fanden sich an dem Flussufer Reiher ein, die den Fischen auflauerten, dann auch Pelikane, Flamingos und andere südländische Vögel.

Unangenehm machten sich auch die Mücken bemerkbar, die den Wassertümpeln entstiegen. Sie stachen ganz anders wie früher, der Stich juckte nicht mehr, sondern schmerzte und verursachte oft bösartige Beulen und Geschwüre, gerade, als ob die Mücken schon Moskitos geworden wären.

Aber sind denn Moskitos etwas anderes als unsere Mücken? Wir stellen sie uns nur immer größer vor, oft so groß wie Bremsen. In Wirklichkeit sind sie aber nicht größer als unsere Mücken. Es sind nur unsere Mücken in allen ihren Abarten. Der Nordamerikaner nennt sie nur Moskitos, in Südamerika, wo sie besonders eine Plage sind, kennt man diesen Namen schon nicht mehr. Dort heißen sie Iegenes oder Tempraneros oder Zecundos, jede Gegend hat ihren anderen Namen für diese Insekten. Dort wirkt ihr Stich gefährlicher, weil das Blut, das beim ersten Stich an ihrem Rüssel hängen bleibt, schnell in Verwesung übergeht, oder weil sie sich auch direkt auf faulendes Fleisch gesetzt haben, sodass ein jeder neuer Stich eine Blutvergiftung erzeugt, die sich als Eiterbeule und auch durch Fieber äußert.

Es waren also schon echte Moskitos, die Richard stachen.

Die Tauben vermehrten sich ungeheuerlich. Eines Tages ließ sich ein großer Schwarm auf sein Reis- und Kornfeld nieder, fraß im Handumdrehen das letzte Korn auf, vereinigte sich mit einem anderen, noch größeren Schwarm, der aus der Richtung der Stadt kam, dann flogen beide auf Nimmerwiedersehen davon, und es schien gar keine Tauben mehr zu geben.

Die Tauben sind Körnerfresser, und da sie hier keine Körner mehr fanden, so wurden sie Wandervögel, die nach besseren Weideplätzen ausspähten. Dafür stellten sich aber andere Vögel ein, die mit Grassamen und Insekten vorliebnahmen. Doch diesen musste Richard schon mehr als Jäger nachstellen, und da nach einigen Regenperioden auch die Patronen zu versagen begannen, war er auf den Ertrag von Pfeil und Bogen angewiesen.

Die Angelhaken verloren sich nach und nach, Nägel, soweit sie nicht verrostet waren, ließen sich doch schlecht dazu verwenden, und so begann Richard auch die Fische mit Pfeilen zu schießen. Der Fluss wimmelte von ihnen, und zwar befanden sich darunter recht große. Auch etwas anderes fiel ihm auf. Früher, wenn er mit dem Schmetterlingsnetz botanisieren ging, war es immer für ihn ein Triumph gewesen, einen Salamander mit nach Hause zu bringen. Jetzt waren Salamander keine Seltenheit mehr, und sie erreichten eine außergewöhnliche Größe, ebenso wie die Frösche, die des Nachts ein mächtiges Gebrüll anstimmten. Das heiße Klima schien ihnen gut zu bekommen.

Dann erschrak Richard einmal vor einer ungeheuren Schlange. Wenigstens im ersten Augenblick kam sie ihm ungeheuerlich vor. Doch als er sie durch einen glücklichen Steinwurf tötete, erkannte er in ihr nur eine harmlose Ringelnatter, die allerdings die ansehnliche Länge von mehr als einem Meter erreicht hatte. Leider war er bald darauf gezwungen, auch eine Kreuzotter zu töten, die ihm ebenfalls recht groß vorkam.

Wieder in der Stadt

Richard führte einen Kalender, und dieser sagte ihm, dass er nun schon ein Jahr in der Mühle gehaust hatte. Er dachte nun daran, doch einmal zur Stadt zu gehen. Erstens wollte er seine Gefährten wieder aufsuchen, und dann fehlte ihm auch Verschiedenes, was er sich aus der Stadt zu holen beabsichtigte, so zum Beispiel war ihm die Seife ausgegangen. Bisher hatte ihn immer die Erinnerung an die verwesenden Leichen von einem Stadtbesuch abgehalten.

Kleiderschränke und Kommoden enthielten noch brauchbare Sachen genug. Er machte also Toilette, wenn auch nicht gerade für eine Gesellschaft, schnitt sich vor dem Spiegel, der ihm ein schwarzbraunes Gesicht mit Moskitobeulen zeigte, das lange Haar ab, bewaffnete sich mit Axt, Messer, Bogen und Pfeilen, nahm zur Fürsorge auch den Feuerbohrer mit und war reisefertig.

Bis zur Stadt hatte er, seiner Meinung nach, nur eine Stunde zu marschieren. Erinnerte er sich doch, obwohl er wusste, dass die nähere Umgebung des Mühlenhofes, aus der er sich bei seinen Jagden niemals entfernt, sehr verwildert war, noch deutlich der allerdings bereits mit hohem Gras bedeckten Landstraße, die er ja bei seinem Marsch benutzen konnte.

Allein nun war auch nicht mehr eine Spur von der ehemaligen Landstraße zu entdecken. Die ganze Gegend war eine Savanne von über mannshohem Gras geworden, durch welches Richard sich förmlich durchbrechen musste; dazwischen wuchs undurchdringbares Gestrüpp, das hier früher auf dem freien Feld noch nicht vorhanden gewesen sein konnte.

Hätte sich Richard nicht nach der Sonne zu orientieren verstanden, er würde die Stadt überhaupt nicht wiedergefunden haben. Später tauchte die Spitze des Kirchturmes auf und diente ihm zur Richtschnur.

Endlich kam er zwischen die Häuser. Das Pflaster der Straße war natürlich ein schlechter Boden für Vegetation, aber grün überzogen war alles, und zwischen den Fugen der Steine schossen schon schlanke Halme empor. Ebenso hatten sich die Häusermauern mit Grün bedeckt, wo sich nur die kleinste Fuge befand, da trieb und knospte es, und wie diese kleinen Wurzelchen das feste Steinpflaster dereinst in Humuserde verwandeln mussten, so würden sie auch bald die Häuser auseinandertreiben und die ganze Stadt in Ruinen legen. Es war eine vergessene, unter Pflanzen begrabene Stadt, wie sie die Reisenden ähnlich in Südamerika als Andenken an die alten Azteken finden.

Richard hatte in seiner Vaterstadt doch jeden Winkel gekannt, nun fand er sich kaum noch zurecht. Er verirrte sich und gelangte auf einen Platz, auf den er sich nicht entsinnen konnte.

Was aber war das? An den Häusern kletterten ja schon tropische Schlingpflanzen mit prachtvollen, tellergroßen Blüten empor. Wo kamen die her? Die Szenerie wurde immer exotischer, dieses kleine aus dem Boden sprossende Blatt konnte nur das einer Palme sein, hier wuchs eine ganze Palme, dort ein Kaktus, und noch einige Schritt weiter, so befand sich Richard in einem Orangenhain mit großen, goldgelben Früchten; auch sah er tragende Dattelpalmen, mehrere Feigenbäume, und diese schmalen, langen Früchte an jedem Strauch, sie konnten nur Bananen sein.

Richard war vor Staunen außer sich. Schon wollte er die Erklärung darin suchen, dass Vögel den unverdauten Samen dieser exotischen Pflanzen hierhergetragen hätten, wobei immer noch rätselhaft blieb, wie sich die Samenkörner innerhalb eines Jahres zu fruchttragenden Bäumen entwickelt haben konnten, denn so schnell geht die Sache doch nicht, auch nicht unter dem Äquator, als er die richtige Lösung des Geheimnisses fand.

Hier war, wie er aus den zersprungenen am Boden und auf Kisten liegenden Glasfenstern schloss, eine Kunstgärtnerei gewesen, deren Besitzer zum Privatvergnügen einen botanischen Garten mit exotischen Pflanzen angelegt hatte. Diese hatten die Umhüllung des Gewächshauses gesprengt und sich in Freiheit entwickelt. Ihr Samen würde sich nun verbreiten und die Eichen, Buchen und Birken verdrängen, und wichen diese nicht schnell genug, so würden sie die Schlingpflanzen in ihrer Umarmung ersticken.

Überall lagen noch die Skelette von Menschen und Tieren, schneeweiß gebleicht, neben ihnen Goldstücke, Gold- und Silberuhren oder echter Schmuck, soweit sie solchen getragen hatten, alles andere war den Raubvögeln und dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen und spurlos verschwunden. Sachen aus anderem Metall, wie zum Beispiel Taschenmesser, waren vor Rost ganz unkenntlich geworden. Die Raubvögel hatten die Gegend verlassen, weil es nichts mehr für sie zu fressen gab.

Richard erreichte den Marktplatz mit der Kirche. Dieser war zementiert gewesen, deshalb hatte er sich nur mit einer Moosart überziehen können. Aber auch diese würde den harten Boden sprengen. An den Schleusen aber hatten sich schon Gebüsche gebildet.

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