Das unheimliche Buch – Das Gespenst
Das unheimliche Buch
Herausgegeben von Felix Schloemp
Knut Hamsun
Das Gespenst
Mehrere Jahre meiner Kindheit verbrachte ich bei meinem Onkel auf dem Pfarrhof im Nordland. Es war eine harte Zeit für mich, viel Arbeit, viele Prügel und selten oder niemals eine Stunde zu Spiel und Vergnügen. Da mein Onkel mich so streng hielt, bestand allmählich meine einzige Freude darin, mich zu verstecken und allein zu sein. Hatte ich ausnahmsweise einmal eine freie Stunde, so begab ich mich in den Wald, oder ich ging auf den Kirchhof und wanderte zwischen Kreuzen und Grabsteinen herum, träumte, dachte und unterhielt mich laut mit mir selbst.
Der Pfarrhof lag ungewöhnlich schön, dicht bei der Glimma, einem breiten Strom mit vielen großen Steinen, dessen Brausen Tag und Nacht, Nacht und Tag ertönte. Die Glimma floss einen Teil des Tags südwärts, den übrigen Teil nordwärts, je nachdem Flut oder Ebbe war, immer aber brauste ihr ewiger Gesang, und ihr Wasser rann mit gleicher Eile im Sommer wie im Winter dahin, welche Richtung es auch nahm.
Oben auf einem Hügel lagen die Kirche und der Kirchhof. Die Kirche war eine alte Kreuzkirche aus Holz, und der Kirchhof war ohne Pflanzen und die Gräber ohne Blumen; hart an der steinernen Mauer aber pflegten die üppigsten Himbeeren zu wachsen, eine große und saftige Frucht, die Nahrung aus der fetten Erde der Toten sog. Ich kannte jedes Grab und jede Inschrift, und ich erlebte, dass Kreuze, die ganz neu aufgestellt wurden, im Laufe der Zeit sich zu neigen begannen und schließlich in einer Sturmnacht umstürzten.
Waren da aber keine Blumen auf den Gräbern, so wuchs im Sommer hohes Gras auf dem ganzen Kirchhof. Es war so hoch und so hart, dass ich oft da saß und dem Wind lauschte, der in diesem sonderbar harten Gras sauste, das mir bis an die Hüften ging. Und dann mitten in diesem Gesaust hinein konnte die Wetterfahne auf dem Kirchturm sich herumdrehen, und dieser rostige, eiserne Ton klang jammernd über den Pfarrhof hin. Es war, als ob dieses Stück Eisen gegen irgendein anderes Eisen die Zähne knirschte.
Wenn der Totengräber bei der Arbeit war, hatte ich gar manches Mal eine Unterhaltung mit ihm. Er war ein ernster Mann, er lächelte selten, aber er war sehr freundlich gegen mich, und wenn er so dastand und Erde aus dem Grab aufschaufelte, kam es wohl vor, dass er mir zurief, ein wenig aus dem Weg zu gehen, denn nun habe er ein großes Stück Hüftknochen oder den grinsenden Schädel eines Toten auf dem Spaten.
Ich fand oft Knochen und Haarbüschel von Leichen auf den Gräbern, die ich dann wieder in die Erde eingrub, wie es der Totengräber mich gelehrt hatte. Ich war so hieran gewöhnt, dass ich kein Grausen empfand, wenn ich auf diese Menschenreste stieß. Unter dem einen Ende der Kirche befand sich ein Leichenkeller, wo Unmengen von Knochen lagen und sich umhertrieben, und in diesem Keller saß ich gar manches Mal, spielte mit den Knochen und bildete aus dem zerbröckelten Gebein Figuren auf dem Boden.
Eines Tages aber fand ich einen Zahn auf dem Kirchhof.
Es war ein Vorderzahn, schimmernd weiß und stark. Ohne mir weiter Rechenschaft darüber abzulegen, steckte ich den Zahn zu mir. Ich wollte ihn zu etwas gebrauchen, irgendeine Figur daraus zurechtfeilen und ihn in einen der wunderlichen Gegenstände einfügen, die ich aus Holz schnitzte.
Ich nahm den Zahn mit nach Hause.
Es war Herbst und die Dunkelheit brach früh herein. Ich hatte noch allerlei anderes zu besorgen, und es vergingen wohl ein paar Stunden, bis ich mich in die Gesindestube hinüberbegab, um an meinem Zahn zu arbeiten. Indessen war der Mond aufgegangen; es war Halbmond.
In der Gesindestube war kein Licht, und ich war ganz allein. Ich wagte nicht, ohne Weiteres die Lampe anzuzünden, ehe die Knechte hereinkamen; aber mir genügte das Licht, das durch die Ofenklappe fiel, wenn ich tüchtig Feuer anmachte. Ich ging deshalb in den Schuppen hinaus, um Holz zu holen.
Im Schuppen war es dunkel.
Als ich mich zu dem Holz vorwärtstaste, fühle ich einen leichten Schlag, wie von einem einzelnen Finger, auf meinem Kopf.
Ich wandte mich hastig um, sah aber niemand.
Ich schlug mit den Armen um mich, fühlte aber niemand.
Ich fragte, ob jemand da sei, erhielt aber keine Antwort.
Ich war barhäuptig, griff nach der berührten Stelle meines Kopfes und fühlte etwas Eiskaltes in meiner Hand, das ich sofort wieder los ließ. Das ist doch sonderbar!, dachte ich bei mir. Ich griff wieder nach dem Haar hinauf, da war das Kalte weg.
Ich dachte: Was für Kaltes das wohl gewesen sein mag, das von der Decke herunterfiel und mich auf den Kopf traf?
Ich nahm einen Arm voll Holz und ging wieder in die Gesindestube, heizte ein und wartete, bis ein Lichtschein durch die Ofenklappe fiel.
Dann holte ich den Zahn und die Feile hervor.
Da klopfte es an das Fenster.
Ich sah auf. Vor dem Fenster, das Gesicht fest an die Fensterscheibe gedrückt, stand ein Mann. Er war mir ein Fremder, ich kannte ihn nicht, und ich kannte doch das ganze Kirchspiel. Er hatte einen roten Vollbart, eine rote wollene Binde um den Hals und einen Südwester auf dem Kopf. Worüber ich damals nicht nachdachte, was mir aber später einfiel: Wie konnte sich mir dieser Kopf so deutlich in der Dunkelheit zeigen, namentlich an einer Seite des Hauses, wo nicht einmal der Vollmond schien? Ich sah das Gesicht mit erschreckender Deutlichkeit, es war bleich, beinahe weiß, und seine Augen starrten mich gerade an.
Es verging eine Minute.
Da fing der Mann an zu lachen.
Es war kein hörbares, schüttelndes Lachen, sondern der Mund öffnete sich weit, und die Augen starrten wie vorhin, der Mann aber lachte.
Ich ließ fallen, was ich in der Hand hatte, und ein eisiger Schauer durchrieselte mich vom Scheitel bis zur Sohle. In der ungeheuren Mundhöhle des lachenden Gesichtes vor dem Fenster entdeckte ich plötzlich ein schwarzes Loch in der Zahnreihe. Es fehlte ein Zahn.
Ich saß da und starrte in meiner Angst geradeaus. Es verging noch eine Minute. Das Gesicht fing an, Farbe anzunehmen, es wurde stark grün, dann wurde es stark rot; das Lachen aber blieb. Ich verlor die Besinnung nicht, ich bemerkte alles um mich herum; das Feuer leuchtete ziemlich hell durch die Ofenklappe und warf einen kleinen Schein bis auf die andere Wand hinüber, wo eine Leiter stand. Ich hörte auch aus der Kammer nebenan, dass eine Uhr an der Wand tickte. So deutlich sah ich alles, dass ich sogar bemerkte, dass der Südwester, den der Mann vor dem Fenster auf hatte, oben im Kopfstück von schwarzer, abgenutzter Farbe war, dass er aber einen grüngemalten Rand hatte.
Da senkte der Mann den Kopf nach der Fensterscheibe herab, ganz langsam herab, immer weiter, sodass er sich schließlich unterhalb des Fensters befand. Es war, als gleite er in die Erde hinein. Ich sah ihn nicht mehr.
Meine Angst war entsetzlich, ich fing an zu zittern. Ich suchte auf dem Fußboden nach dem Zahn, wagte aber nicht, die Augen von dem Fenster zu entfernen. Vielleicht konnte das Gesicht ja wiederkehren.
Als ich den Zahn gefunden hatte, wollte ich ihn gleich wieder zum Kirchhof bringen, hatte aber nicht den Mut dazu. Ich saß noch immer allein und konnte mich nicht rühren. Ich hörte Schritte draußen auf dem Hof und meinte, dass es eine der Mägde sei, die auf ihren Holzpantoffeln geklappert kam; ich wagte aber nicht, sie anzurufen, und die Schritte gingen vorüber. Eine Ewigkeit verging. Das Feuer im Ofen fing an auszubrennen, und keine Rettung zeigte sich mir.
Da biss ich die Zähne aufeinander und stand auf. Ich öffnete die Tür und ging rückwärts aus der Gesindestube heraus, unverwandt nach dem Fenster sehend, an dem der Mann gestanden hatte. Als ich auf den Hof hinausgekommen war, rannte ich zum Stall hinüber, um einen der Knechte zu bitten, mich zum Kirchhof hinüber zu begleiten.
Die Knechte befanden sich aber nicht im Stall.
Nun unter freiem Himmel war ich indessen kühner geworden, und ich beschloss, allein zum Friedhof hinaufzugehen; dadurch würde ich es auch vermeiden, mich jemandem anzuvertrauen und dann später in des Onkels Klauen zu geraten.
So ging ich denn allein den Hügel hinauf.
Den Zahn trug ich in meinem Taschentuch.
Oben an der Kirchhofpforte blieb ich stehen. Mein Mut versagte mir seinen ferneren Beistand. Ich hörte das ewige Brausen der Glimma, sonst war alles still. In der Kirchhofpforte war keine Tür, nur ein Bogen, durch den man hindurchging; ich stellte mich voller Angst auf die eine Seite dieses Bogens und steckte den Kopf vorsichtig durch die Öffnung, um zu sehen, ob ich es wagen könne, weiterzugehen.
Da sank ich plötzlich platt auf die Knie.
Ein Stück jenseits der Pforte, da drinnen zwischen den Gräbern stand mein Mann mit dem Südwester. Er hatte wieder das weiße Gesicht, und er wandte es mir zu, gleichzeitig aber zeigte er vorwärts zum Kirchhof hinauf.
Ich sah dies als Befehl an, wagte aber nicht zu gehen. Ich lag sehr lange da und sah den Mann an, ich flehte ihn an, und er stand unbeweglich und still da.
Da geschah etwas, was mir wieder ein wenig Mut machte: Ich hörte einen der Knechte unten am Stallgebäude geschäftig umher gehen und pfeifen. Dieses Lebenszeichen um mich her bewirkte, dass ich mich erhob. Da entfernte sich der Mann ganz allmählich, er ging nicht, er glitt über die Gräber dahin, immer vorwärts zeigend. Ich trat durch die Pforte. Der Mann lockte mich weiter. Ich tat einige Schritte und blieb dann stehen; ich konnte nicht mehr. Mit zitternder Hand nahm ich den weißen Zahn aus dem Taschentuch und warf ihn mit aller Macht auf den Kirchhof. In diesem Augenblick drehte sich die eiserne Stange auf dem Kirchturm herum und der schrille Schrei ging mir durch Mark und Bein. Ich stürzte zur Pforte hinaus, den Hügel hinab und nach Hause. Als ich in die Küche kam, sagten sie mir, mein Gesicht sei weiß wie Schnee.
Es sind nun viele Jahre seitdem vergangen, aber ich entsinne mich jeder Einzelheit. Ich sehe mich noch auf den Knien vor der Kirchhoftür liegen, und ich sehe den rotbärtigen Mann.
Sein Alter kann ich nicht einmal ungefähr angeben. Er konnte zwanzig Jahre alt sein, er konnte auch vierzig sein. Da es nicht das letzte Mal sein sollte, dass ich ihn sah, habe ich auch später noch über diese Frage nachgedacht; aber noch immer weiß ich nicht, was ich über sein Alter sagen soll.
Manchen Abend und manche Nacht kam der Mann wieder. Er zeigte sich, lachte mit seinem weitgeöffneten Mund, in dem ein Zahn fehlte, und verschwand. Es war Schnee gefallen, und ich konnte nicht mehr auf den Kirchhof gehen und ihn in die Erde legen. Und der Mann kam wieder und wieder, aber mit immer längeren Zwischenräumen, den ganzen Winter hindurch. Meine haarsträubende Angst vor ihm nahm ab; aber er machte mein Leben sehr unglücklich, ja unglücklich bis zum Übermaß. In jenen Tagen war es mir oft eine gewisse Freude, wenn ich daran dachte, dass ich meiner Qual ein Ende machen könnte, indem ich mich in die Glimma stürzte.
Dann kam der Frühling, und der Mann verschwand gänzlich.
Gänzlich? Nein, nicht gänzlich, aber für den ganzen Sommer. Den nächsten Winter stellte er sich wieder ein. Nur einmal zeigte er sich, dann blieb er lange Zeit fern. Drei Jahre nach meiner ersten Begegnung mit ihm verließ ich das Nordland und blieb ein Jahr fort. Als ich zurückkehrte, war ich konfirmiert und, wie ich selber meinte, ein großer, erwachsener Mann. Ich wohnte nun nicht mehr bei meinem Onkel auf dem Pfarrhof, sondern daheim bei Vater und Mutter.
Eines Abends zur Herbstzeit, als ich gerade schlafen gegangen war, legte sich eine kalte Hand auf meine Stirn. Ich schlug die Augen auf und erblickte den Mann vor mir. Er saß auf meinem Bett und blickte mich an. Ich lag nicht allein im Zimmer, sondern mit zwei von meinen Geschwistern zusammen; aber ich rief trotzdem keines von ihnen. Als ich den kalten Druck gegen meine Stirn fühlte, schlug ich mit der Hand um mich und sagte: »Nein, geh weg!« Meine Geschwister fragten aus ihren Betten, mit wem ich spräche.
Als der Mann eine Weile still gesessen hatte, fing er an, sich mit dem Oberkörper hin und her zu wiegen. Dabei nahm er mehr und mehr an Größe zu, schließlich stieß er beinahe an die Decke, und da er offenbar nicht viel weiter kommen konnte, erhob er sich, entfernte sich mit lautlosen Schritten von meinem Bett, durch das Zimmer, zum Ofen, wo er verschwand. Ich folgte ihm die ganze Zeit mit den Augen.
Er war mir noch nie so nahe gewesen wie diesmal; ich sah ihm gerade ins Gesicht. Sein Blick war leer und erloschen, er sah zu mir hin, aber gleichsam an mir vorüber, quer durch mich hindurch, weit in eine andere Welt hinein. Ich bemerkte, dass er graue Augen hatte. Er bewegte sein Gesicht nicht und er lachte nicht. Als ich seine Hand von meiner Stirn wegschlug und sagte »Nein, geh weg!«, zog er seine Hand langsam zurück. Während all der Minuten, die er auf meinem Bett saß, blinzelte er niemals mit den Augen.
Einige Monate später, als es Winter geworden und ich wieder von Hause gereist war, hielt ich mich eine Zeitlang bei einem Kaufmann W. auf, dem ich im Laden und auf dem Kontor half. Hier sollte ich meinem Mann zum letzten Mal begegnen.
Ich ging eines Abends auf mein Zimmer hinauf, zündete die Lampe an und entkleidete mich. Ich wollte wie gewöhnlich meine Schuhe für das Mädchen hinaussetzen, ich nahm die Schuhe auch in die Hand und öffnete die Tür.
Da stand er auf dem Gang, dicht vor mir, der rotbärtige Mann.
Ich wusste, dass Leute im Nebenzimmer waren, daher war ich nicht bange. Ich murmelte: »Bist du nun schon wieder da.«
Gleich darauf öffnete der Mann seinen großen Mund wieder und fing an zu lachen. Dies machte keinen erschreckenden Eindruck mehr auf mich; aber diesmal wurde ich aufmerksamer: Der fehlende Zahn war wieder da!
Er war vielleicht von irgendjemand in die Erde hineingesteckt worden. Oder er war in diesen Jahren zerbröckelt, hatte sich in Staub aufgelöst und mit dem übrigen Staub vereint, von dem er getrennt gewesen war. Gott allein weiß das!
Der Mann schloss seinen Mund wieder, während ich noch in der Tür stand, wandte sich um und ging die Treppe hinab, wo er tief unten verschwand.
Seither habe ich ihn nie wieder gesehen. Und es sind nun viele Jahre vergangen.
Dieser Mann, dieser rotbärtige Bote aus dem Land des Todes, hat mir durch das unbeschreibliche Grausen, das er in mein Kinderleben gebracht, sehr viel Schaden zugefügt. Ich habe mehr als eine Vision gehabt, mehr als einen seltsamen Zusammenstoß mit Unerklärbarem, nichts aber hat mich so tief ergriffen wie dies.
Und doch hat er mir vielleicht nicht ausschließlich Schaden zugefügt, dieser Gedanke ist mir oft gekommen. Ich könnte mir vorstellen, dass er eine der ersten Ursachen gewesen war, dass ich gelernt habe, die Zähne zusammenzubeißen und mich hart zu machen. In meinem späteren Leben habe ich hin und wieder Verwendung dafür gehabt.
Es folgt: Das unbewohnte Haus von A. M. Frey
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