Das unheimliche Buch – Vorwort
Das unheimliche Buch
Herausgegeben von Felix Schloemp
Vorwort
In einem ihrer zahllosen Wochenbetten gebar die Mutter Fantasie zwei Brüder.
Man konnte nichts Ungleicheres finden als diese beiden. Um die Wiege des einen war beständige Heiterkeit, ein gleichmäßiger Frohsinn, Lust am Leben, die Sonnenstrahlen, die ihn trafen, lachten, die Wärterinnen lachten und sogar die Milchflasche wurde ganz breit vor Grinsen. Über dem Bettchen des anderen aber lagen Schatten, die Luft um ihn schien von seltsamen Gestalten belebt, und allerlei unerklärliche Vorkommnisse deuteten auf geheimnisvolle Wirkungen düsterer Sterne. Als die Brüder groß und stark geworden waren und ins Leben traten, blieben ihnen ihre Mächte treu. Der lichte Bruder behielt die Gabe, alles, selbst das Schmerzliche, in große Zusammenhänge verklärend einzuordnen, der düstere Bruder aber machte alles um sich stumm vor Spannung und Erwartung eines Ungewöhnlichen. Er ließ Zusammenhänge eben ahnend erkennen, aber sie waren dunkle Brücken ins Unbekannte. Beide Brüder aber gaben, jeder in seiner Art, das Gefühl größeren Lebens.
Diese Brüder sind der Humor und das Grauen.
So ganz und gar verschieden und feindlich sie auf den ersten Blick erscheinen, es sind dennoch Zwillingsbrüder. Sie sind aus derselben Wurzel entsprungen, die geliebtesten Kinder der Fantasie, ihre stärksten und stolzesten Söhne. Man hat ihnen nachgesagt, sie vertrügen sich nicht. Aber das ist Gewäsch von literarischen Hebammen und Waschweibern.
Sie vertragen sich sehr gut. Sie achten einander und lieben einander und lassen einander, wie dies rechter Brüder Art ist, ohne Bekehrungsversuche ihre Wirkungen üben.
Was sie vor allem aneinander achten, ist dies, dass sie beide ein Gefühl der Souveränität in sich tragen, ein starkes Bewusstsein der Herrschaft über Dinge und Schicksale.
Beide schalten frei mit dem Leben.
Was ist das Leben? Eine Folge von Ereignissen, die angeblich durch ein Gesetz von Ursache und Wirkung verbunden sind, ein Gesetz, das nichts erklärt und jenseits von Gut und Böse ist.
Der Humor gibt dieser Kette einen Sinn, einen lachenden Sinn, eine Zuversicht, eine Richtung, sei es auch nur die auf die Einsicht, niemals recht begreifen zu können, was das Leben von uns will und wir von ihm wollen. Schließlich läuft die Weisheit des Humors darauf hinaus: geschehen zu lassen, was mag, in seinem Kreis recht zu wirken und im Übrigen dem Unbekannten zu vertrauen.
Das Grauen aber findet dieses sogenannte Gesetz schrecklich, beruhigt sich nicht bei Ursache und Wirkung, findet Gräber und Verstorbene in uns und allen unseren Taten, deckt noch hinter den letzten Begreiflichkeiten das Unbegreifliche auf und endet damit: geschehen zu lassen, was uns verhängt ist und dem Unbekannten zu misstrauen.
Der Realist aber, der zwischen den beiden ist, hängt sich an den Göpel der Tatsachen, dreht sich im Kreis, dass die Zahnräder Ursache und Wirkung ein knarrendes Geräusch verüben, und glaubt Verdienstliches geleistet zu haben, wenn das Stroh der Tatsachen ausgedroschen ist.
Humor und Grauen schalten souverän mit dem Leben.
Das Leben ist weder so wie der Humor noch so wie das Grauen es malt. Beide müssen es umformen, um es ihren Zwecken dienstbar zu machen, beide müssen verschwinden lassen, hervorheben, unterdrücken, unterstreichen. Beide stilisieren. Beide erfordern die empfindsamste Seele, den schärfsten Verstand und die festeste Hand.
Die empfindsamste Seele, um auch noch die letzten feinsten Schwingungen wahrzunehmen und zu prüfen, um auch noch in den toten Dingen den Pulsschlag ihres Lebens zu erfühlen; den schärfsten Verstand, um alles in seine großen Zusammenhänge einzuordnen; die festeste Hand, um dem künstlerischen Gebilde ihrer Weltanschauung die makelloseste Form zu geben.
Humor und Grauen sind ausgesprochen männliche Weltanschauungen und künstlerische Formprinzipien. Ich habe noch nichts von einer großen Humoristin oder einer großen Dichterin des Grauens gehört.
Denn es ist ein ganz lächerlicher Irrtum, zu glauben, der Dichter des Grauens schreibe seine Werke, gejagt von einer tödlichen Angst, von Halluzinationen verfolgt, von Gespenstern umtanzt. (Ein Irrtum, der leider von einigen Autoren genährt wird, deren Eitelkeit es schmeichelt, sich dem Publikum als Besessene vorzustellen.)
Was auf diese Weise zustande käme, wäre ein Chaos, nicht besser als das Tagebuch eines Irrsinnigen. Es ist noch keinem Wahnsinnigen gelungen, drei Zeilen zu schreiben, die Anspruch auf dichterische Geltung erheben könnten. Und da kommen noch immer einige Herren und behaupten etwa, Maupassants Horla sei ein Anzeichen seines beginnenden Wahnsinns, oder Hoffmann habe seine Dichtungen als Alkoholiker, Edgar Allan Poe die seinen in seiner Eigenschaft als Epileptiker geschaffen.
Nein, verehrte scharfsinnige Zeitgenossen: Maupassant ist wahnsinnig geworden, Hoffmann mag Alkoholiker und Edgar Allan Poe Epileptiker gewesen sein, aber als sie ihre Dichtungen des Grauens schufen, waren sie gesund, hatten kühle Köpfe und feste Hände und waren jedenfalls scharfsinniger als ihre Kritiker, die die psychische Minderwertigkeit dieser Dichter als Entschuldigungsgrund mildernd ans Licht stellen.
Gerade deshalb, weil den Dichter des Grauens das erste Erlebnis mit solchen Schauern des Entsetzens überfällt, weil er plötzlich fürchterliche Geheimnisse auf Strecken hin erhellt zu sehen glaubt, um sich in noch tieferes Dunkel zu verlieren, weil er es mit dem Abgrund und den Schatten zu tun hat – gerade deshalb muss er umso stärker in sich selbst sein, muss eine so ungeheure Kraft des Ordnens und Formens in sich haben, wie kein anderer Dichter. Baudelaire durfte mit Recht sagen: »Die Reize des Grauens berauschen nur die Starken …«
Leute, die nicht imstande sind, sich dem Unheimlichen zu ergeben, sind enge Seelen, denen jeder Versuch einer Ausdehnung unserer Grenzen gleich geistige Koliken verursacht.
Wenn das ästhetische Vergnügen nach einer ziemlich weit verbreiteten Theorie darin besteht, dass man unaufhörlich das Dargestellte an der Wirklichkeit misst, um wieder zur Darstellung zurückzukehren, wenn dieses Vergnügen also eine Art geistiger Wellenbewegung ist, so muss dieses Vergnügen bei den Dichtern des Unheimlichen am größten sein. Denn hier ist der Abstand zwischen Dargestelltem und Wirklichkeit am größten, hier ist die größte Wellenlänge, größter Schwung der geistigen Bewegung garantiert.
Ein gesunder Geist wird darum an Gegenständen aus dem Bereich des Unheimlichen ein Behagen empfinden. Mir ist die Spinnstubengepflogenheit und Spinnstubenpoesie immer wie ein Zeichen einstiger außerordentlicher Gesundheit unseres Volkes erschienen.
Einer erzählt schauerliche Geschichten, die um ihn lauschen angespannt, Grauen und Behagen sind auf seltsame Weise gemischt. Die Geschichte ist fürchterlich, aber schon, dass sie einer so gut und wirksam erzählt, flößt Vertrauen zu ihm ein. Man ist wie unter einer Taucherglocke, wenn ringsherum die Ungeheuer glotzen. Man hat das Gefühl, in der wohlbehüteten Wirklichkeit geborgen zu sein, in der sich solche Dinge nicht zutragen können. Dabei bleibt aber dieses prickelnde Und doch einer vagen Möglichkeit. Dem beschränktesten Geist weitet sich in solchen Augenblicken sein Weltgefühl, wir ziehen die Grenzen der Wirklichkeit nur um unserer Sicherheil willen, stellen uns blind und taub für das Jenseitige. Und doch! Wer will es mit Bestimmtheit sagen …?
Viele Spinnstubengeschichten enden damit, dass der Ungläubige auf den Kirchhof geht und am Morgen mit umgedrehtem Genick gefunden wird …
Der Erzähler aber, ja Sapperment! Der ist ein Teufelskerl, der hat etwas von einem furchtlosen Beschwörer und Geisterbanner.
So empfand seinerzeit der gesunde Sinn des Volkes.
Und wirklich, wenn der Kunstwerk einer Dichtung innerlich an der Erschütterung unserer Seelen und äußerlich an der Bewältigung der Schwierigkeiten der Darstellung gemessen wird, so muss dem Dichter des Unheimlichen der Preis zuerkannt werden. Aus der Erkenntnis dieser ungeheuren Gefahr und ihrer souveränen Überwindung kommt dieses Spinnstubenbehagen in einen höheren Sinn. Das Lebensgefühl, das diesem ästhetischen Eindruck entspricht, ist etwa die Freude an einer sicheren Kraftbetätigung, am Zügeln durchgehender Pferde, an einer körperlichen Leistung voll schöner Geschmeidigkeit.
Die landläufigen Einwände gegen die Gespenstergeschichte sind in nachstehender Kritik über den Vorgänger dieses Bandes Das Gespensterbuch desselben Herausgebers klassisch zusammengefasst: »Und eine Zeit, die ihre Schwäche verbirgt, indem sie stärkelt und rasselt, die am Gesunden, Natürlichen und Ruhigen vorübergeht und aus innerster Sympathie das Krankhafte, Fieberhafte, Künstliche, Aufgepeitschte preist, sie wird sich den Nervenkitzel des Unheimlichen nicht entgehen lassen. Es ist eine alte Geschichte, dass an Gespenstergeschichten gerade furchtsame Kinder und Frauen, weiter Schwächlinge und Feiglinge allerart das größte Vergnügen haben.«
Hat dieser Kritiker recht?
Dann sind unsere alten deutschen Holzschnittmeister Schwächlinge und Feiglinge gewesen? Diese Meister, von denen jeder mit dem Teufel auf Du und Du stand, machten ihre Totentänze und Versuchungen des heiligen Antonius mit einer Welt von fratzenhaften Ungetümen, ihre apokalyptischen Reiter aus »Sympathie für das Krankhafte, Fieberhafte und Aufgepeitschte«? Diese Hieronymus Bosch, Brueghel, Holbein, Dürer und Unzählige andere wollten »ihre Schwäche verbergen« und sich »den Nervenkitzel des Unheimlichen nicht entgehen lassen«?
Wer wird verkennen, dass gerade bei diesen Meistern die Lust, sich ins Grauen zu stürzen und sich mit dem Teufel herumzubalgen, einem Höchstmaß an Gesundheit, an Mut und Übermut entspringt? Und dass sich bei ihnen dem Grauen sein Bruder gesellt – der Humor? Der Humor, der sich manchmal gesondert auswirkt, manchmal aber mit dem Grauen vereinigt und dann etwas ganz Absonderliches und Köstliches hervorbringt – die Groteske?
Nur literarische Hebammen, Waschweiber, Abortfrauen, Trambahnweichenstellerinnen, Kerzelweiber und Veilchenmädchen werden behaupten, Humor und Grauen vertrügen sich nicht. Gerade die Klassiker des Grauens sind Beispiele für das Gegenteil. E. Th. A. Hoffmann hat eine Menge von Geschickten reinsten Humors, und in Edgar Allan Poes Lebenswerk steht der Humor neben dem Unheimlichen breit da.
Wer wollte aber behaupten, der Humor spekuliere auf das Krankhafte und den Nervenkitzel, gehe »am Gesunden, Ruhigen, Natürlichen vorüber«? Und so hätten denn unsere alten Meister, hätten Hoffmann und Poe zwei Gesichter, ein gesundes, natürliches und ein krankhaftes, perverses …?
O Gott!
Nein, Humor und Grauen sind Brüder, sind verschiedene Äußerungen einer und derselben Kraft, sind Ausstrahlungen desselben männlichen souveränen Willens zur Macht über das Leben.
Im Jahre 1909 schrieb Frédéric Boutet ein prophetisches Wort: »Das Grauen gewinnt immer mehr Terrain in der Literatur …« – Der Erfolg des Vorgängers dieses Buches ist ein Symptom für die Richtigkeit dieser Prophezeiung.
Warum denn nur! Vielleicht weil unsere Zeit immer schwächer und feiger wird! Nein, weil sie stärker wird, weil sie immer mehr Eisen im Blut hat, immer mehr Phosphor im Gehirn, weil sie sich neue Gebiete erobert hat, die Luft und die Tiefen des Ozeans.
Sind aber dadurch die sogenannten Realisten obenauf gekommen! Haben die nicht als Richtung, als kompakte Majorität kläglich abgewirtschaftet?
Nach dem Gesetz von der Erhaltung und Transformation der Kraft wandelt sich die im Realen errungene Energie in geistige Werte. Mehr als je verlangt die Zeit nach den stärksten Kraftproben der Fantasie: dem Humor und – dem Grauen.
Brünn, August 1913
Karl Hans Strobl
Es folgt: Das Gespenst von Knut Hamsun
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