Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 8 – 11. Kapitel
Aus den Geheimakten des Weltdetektivs
Band 8
Die Geliebte des Staatsanwalts
11. Kapitel
Rettung
Sherlock Holmes erwachte aus seiner Betäubung unter der Falltür durch die Schritte der Konstabler über ihm. Er wollte um Hilfe rufen, doch brachte er keinen Ton hervor: Der Knebel im Mund verhinderte jeden Laut. Nach wenigen Minuten schon entfernten sich oben die Beamten fluchend.
Trotz aller Energie, die Schwäche, die sich seiner bemächtigt hatte, zu bekämpfen, erlag der Detektiv dennoch dem Gesetz der Natur. Als er nach längerer Zeit wieder zu sich kam, befand er sich in einem dunklen Raum.
Seine Hände waren gefesselt. Wie lange er bewusstlos gewesen war, wusste er nicht. Er sann über seine Lage nach und musste zornig anerkennen, dass er der List einer Frau erlegen und dass diese ihm mit ihren Helfershelfern entkommen war. Nun schwamm sie sicher schon auf dem Meer dem Land zu, das ihr, bei vorsichtiger Landung, zweifellos Schutz und Schirm vor jeder Verfolgung gewährte.
Doch bald gewann Holmes seine Kaltblütigkeit zurück. Die nächste Frage war die: Wie konnte er – dazu noch mit gefesselten Händen und geknebeltem Mund – seinem unbekannten dunklen Gefängnis entrinnen?
Vergebens zerbrach er sich den Kopf – vergebens trachtete er danach, sich seiner Fesseln zu entledigen. Mit auf dem Rücken gebundenen Händen schob er seinen Körper mühsam weiter. Bald stießen die Füße an eine Wand. Nun drehte er sich so, dass er am Boden dieser Wand entlangrutschen konnte. So durchmaß er den Raum und konnte feststellen, wie groß er ungefähr war. Sein Geviert mochte reichlich drei bis vier Meter sein. Nun erhob sich Holmes auf die Knie, dann stellte er sich auf die Füße. Der Raum war höher, als sein Körper maß: Der Kopf berührte die Decke nicht.
In dem Raum befanden sich keine Möbel – keine Streu für ein Lager. Sinnend lehnte er sich gegen eine der Wände, die aus festen Holzbohlen gefügt schienen, und grübelte, wie er aus diesen Wänden entfliehen konnte. Die Leiter, auf der Lady Likeness und ihre Helfershelfer durch die Falltür entflohen waren, hatte man mitgenommen. Zweifellos befand sich im Boden des Raumes eine zweite Falltür, die nach einem darunter gelegenen Gang führte, der wiederum ins Freie lenkte. Wenn es ihm möglich war, diese Falltür im Fußboden zu entdecken und zu öffnen?
Abermals ließ er sich auf den Boden fallen und tastete, sich auf dem Rücken weiterschiebend, über die Dielen. Eine kaum scheinbare Fuge verriet ihm in einer Ecke des Raumes das Vorhandensein der Falltür. Wie aber sollte er diese öffnen?
Wenn er nur seine Hände frei bekommen könnte!
Er verrenkte seinen Körper so weit, dass er mit den Händen an die Seitentasche seines Rockes gelangen konnte. In dieser Tasche verbarg er ein Messer. Mit dem ausgestreckten kleinen Finger der rechten Hand zerrte er unter Schmerzen die Tasche hoch. Aber das Messer war nicht zu erreichen.
Da kam ihm ein anderer Gedanke. Nach einigen misslungenen Versuchen glückte es ihm, sich auf den Kopf zu stellen und durch Rütteln und Schütteln die Rocktasche zu entleeren. Klirrend fiel erst die elektrische Taschenlaterne, die er stets bei sich trug, dann das Messer zu Boden. Den Revolver hatte man ihm abgenommen.
Gewandt ließ sich Holmes wieder auf die Füße fallen, dann glitt er zu Boden und zog das Messer an sich. Ziemlich mühelos öffnete er es; es gewährte ihm aber keinen Nutzen, da er es, zumal im Dunkeln, nicht zu führen imstande war.
»Die Laterne!«, durchzuckte es ihn. Vorsichtig tastete er nach ihr, nahm sie an sich, und es gelang ihm, den Knopf zu drücken, der die elektrische Flamme aufsprühen ließ.
Nun hatte er Licht. Flüchtig sah er sich im Raum um. Er war eng, doch hoch und total leer.
Wieder griff er mit den auf dem Rücken gebundenen Händen nach dem Messer, stellte sich so, dass der Lichtschein der Laterne seitwärts fiel und suchte die Schneide an den Strick zu bringen. Nur unter Schmerzen und starken Verrenkungen gelang ihm dieses. Vorsichtig zog er die Schneide über den Strick – wieder und wieder, nahezu hundertmal. Es war eine mühsame Arbeit; sie erforderte mehrere Stunden Zeit, da Holmes trotz Ausdauer und Anwendung aller Willenskraft erlahmte und öfter eine Ruhepause machen musste.
Endlich, nachdem er sich noch einige Schnittwunden wider Willen beigebracht hatte, fiel der Strick von den Händen. Die Zirkulation des Blutes hatte fast ausgesetzt, und er brauchte längere Zeit dazu, um die Muskeln wieder geschmeidig zu machen. Dann entfernte er den Knebel aus dem Mund, und nun war er wieder unbeschränkt in den Bewegungen seiner Gliedmaßen.
Er nahm die Laterne auf und ging in die Ecke des Raumes, wo die Falltür nach unten führte. Sie war wohl sichtbar, doch von unten verriegelt. Hierdurch konnte er also nicht. So blieb ihm nur übrig, die Falltür in der Decke zu öffnen und durch diese ins Freie zu gelangen.
Aber die Decke war hoch, und in dem Raum befand sich nicht der geringste Gegenstand, auf den er sich stellen konnte, um den Riegel der Falltür zu erreichen. Kein Vorsprung an den glatten Wänden bot ihm eine Stütze.
Was tun?
Da durchblitzte ihn abermals eine Idee und sofort ging er an ihre Ausführung. Mithilfe seines Taschenmessers trennte er seinen Rock, den er ausgezogen hatte, auf und schnitt ihn in schmale Streifen. Diese knüpfte er aneinander, drehte sie zu einem Strick und band eine Schlinge. Nun warf er die Schlinge wie ein Lasso nach dem Griff des Riegels an der Decke. Anfangs glitt der aus dem Rock hergestellte Strick vom Riegel ab, dann aber, bei geschickterem Werfen, wobei viel auf die Ausdauer des Detektivs ankam, hakte die Schlinge ein. Holmes stemmte sich gegen die der Falltür gegenüberliegende Wand, und allmählich wich der Riegel zurück.
Darauf zog er die Falltür herab und, an dem gedrehten Strick sich hinaufziehend, klomm Holmes empor. Er gelangte in das Zimier, in dem Lady Likeness mit ihren Helfershelfern gespeist hatte.
Erleichtert atmete er auf. Doch auch hier war der Ausgang versperrt. Die Fenster, die sich hier befanden, waren vergittert – und nur eine Tür führte hinaus. Sie musste von außen verschlossen sein. Ratlos sah sich der Detektiv um, als plötzlich die Tür geöffnet wurde, und die Pförtnerin, zweifellos die Besitzerin dieser spelunkenartigen Hütte, mit einer Blendlaterne in der Linken erschien.
Sie leuchtete dem Detektiv mit höchster Verwunderung ins Gesicht und fragte: »Wie kommen Sie hierher?«
»Durch jene Höllentür«, antwortete Holmes. »Mollen Sie mir zu einem Rock und einem Schluck Wein als Stärkung verhelfen? Dann eilen Sie. Wenn nicht, weisen Sie mir den Weg zur Landstraße.«
»Dazu ist es noch zu früh«, gab die Frau mit höhnischem Grinsen zurück. »Da müssen Sie sich gedulden, bis die Nacht hereingebrochen ist. Einen Mannsrock habe ich nicht, und Wein führe ich nicht im Haus.«
»Was heißt das, dass ich mich gedulden soll, bis die Nacht hereingebrochen ist?« fragte der Detektiv ohne irgendwelche Erregung, nachdem er einen Blick auf seine Taschenuhr geworfen hatte, die die vierte Stunde nachmittags zeigte. »Denken Sie etwa daran, mich gewaltsam hier zurückzuhalten?«
»Zu meinem Bedauern – ja.«
Der Detektiv zuckte verächtlich die Achseln. »Das käme auf die Probe an.«
»Sicher.«
»Ich bin daran gewöhnt, einen einmal gefassten Gedanken durchzuführen, auch wider den Willen anderer«, bemerkte Holmes, »und mein im Augenblick gefasster Gedanke heißt: sofortiges verlassen dieser Hütte.«
»Sie werden den Gedanken nicht durchführen«, erwiderte die Frau grinsend.
»Wollen Sie mich daran hindern?«
»Ja«, lautete die Erwiderung. Die Frau hob die Rechte gegen ihn. Der Lauf eines Revolvers blitzte in ihrer Hand.
Holmes zeigte auch nicht die geringste Gebärde eines Erschreckens. Er lächelte sogar und blickte vollkommen ruhig auf die gefahrdrohende Waffe. »Mit dem Spielzeug?«, fragte er mit leisen Spott.
»Versuchen Sie es nicht, das Spielzeug zu erproben; es vermag ganz ansehnliche Löcher in die Haut zu bringen, und wenn es zu einem Handgemenge zwischen uns beiden kommen sollte, so steht die Frage ebenfalls noch dahin, wer gewinnt: der Mann oder die Frau.«
Holmes erwiderte nichts, sondern pfiff leise vor sich hin.
»Werden Sie sich fügen?«, fragte die Frau.
»Nein«, erwiderte der Detektiv entschieden. Er hatte sein Messer und seine Laterne in die Hosentasche gesteckt und hielt seinen zum Strick gedrehten Rock, den er vom Riegel der Falltür gelöst hatte, zwischen den Händen.
»Sie sind mein Gefangener.«
»Aus welchen Gründen?«
»Die Lady muss einen Vorsprung haben und behalten«, erwiderte die Frau. »Ich vermute, da man Sie nicht mitgenommen hat, dass Sie einer von den Wächtern des Gesetzes oder einer ihrer Spitzel sind. Da müssen Sie sich schon bis Mitternacht gedulden, auch wider Ihren Willen.«
»Und wenn ich mich dagegen auflehne?«
»Gebe ich Ihnen einige blaue Bohnen zu kosten.«
»Das werden Sie bleiben lassen, da Sie dann Jack von hinten niederstoßen würde«, entgegnete Holmes mit vollkommener Ruhe. Er warf nur einen Blick zur Falltür, aus der er in diesen Raum gelangt war, und rief dorthin mit lauter Stimme: »He, Jack – Achtung!«
Die Frau wandte erschrocken den Kopf, weil sie noch jemand hinter der Falltür vermutete. Diesen Augenblick benutzte Holmes, schlug, vorspringend, mit seinem zum Strick gedrehten Rock vollwuchtig auf den Kopf der Frau, zertrümmerte, ehe sie zur Besinnung gelangen konnte, ihre Blendlaterne, sodass völlige Finsternis eintrat und sprang zur Ausgangstür.
Im Nu riss er sie auf und war mit einem Satz durch den Gang auf dem engen, unreinlichen Hof, den er vor mehr als zwanzig Stunden in Gesellschaft Lady Likeness’ und deren Helfershelfer passiert hatte.
Hier stellte sich ihm der Köter bellend in den Weg. Holmes schlug nach ihm mit dem Rockfragment, sodass das Tier aufheulend beiseite kroch. Doch nun erschien die Frau, die ihn gefangen halten wollte und sich schnell erholt hatte, in der Tür und richtete die Pistole gegen ihn. »Keinen Schritt weiter!«, donnerte sie, »oder ich schieße Sie wie einen Hund nieder!«
Mit einem plötzlichen Sprung rückwärts warf sich der Detektiv auf die Frau. Ein Schuss krachte – doch da erhielt die Frau einen wuchtigen Faustschlag auf den Kopf, der sie zu Boden streckte.
Gleichmütig nahm Holmes der Wehrlosen die Waffe aus der Hand, indem er vor sich hinmurmelte: »Zur besseren Sicherheit!«, durchmaß dann den Hof und gelangte ungefährdet auf die Landstraße.
Raschen Schrittes strebte er nun der Stadt zu, um von hier aus seine Verfolgung der Lady aufzunehmen.
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