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Der Welt-Detektiv – Band 12 – 3. Kapitel

Der Welt-Detektiv Nr. 12
Das Grab im Moor
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin

3. Kapitel

Im dunklen Viertel der Themsestadt

Ein Mann schlich durch die Nacht. Von der Themse her gluckste das schwarze, schmutzige Wasser und erfüllte die krummen, engen Gassen mit seinem unangenehmen Geruch. Der Mann, der mit hochgeschlagenem Mantelkragen dahineilte. fand aber nichts Widerwärtiges darin. Nicht zum ersten Mal schien er sich in diesem dumpfen Geruch zu bewegen, und ohne sich umzusehen, schritt er kräf­tig aus. Rechts und links erhoben sich schmutzige, kleine Häuser. Dann und wann huschten dunkle Gestalten schattenhaft an ihm vorbei. Einmal er­scholl ein Schrei, dem Flüche und wilde Schimpfre­den folgten. Dem allen schenkte der Mann keine Aufmerksamkeit. Ihn schreckten nicht die Geheim­nisse des berüchtigten dunklen Viertels der Themse­stadt: Er war ein Wissender, einer von denen, die hier in diesem Stadtteil jede Gasse, jedes Haus kannte. Wer war der Mann? Ein Verbrecher? Denen zugehörig, die hier, vor den Augen der Polizei ver­borgen, ihr gesetzloses Dasein führten? Es war nicht möglich, seine Gesichtszüge zu erkennen. Den Hut hatte er tief in die Stirn gezogen, und seine Kleidung ließ erst recht keinerlei Rückschlüsse zu. Er unter­schied sich in nichts von den Bewohnern dieses be­rüchtigten Viertels – und gehörte dennoch nicht zu ihnen. Harry Taxon war es, des Weltdetektivs treuer Freund und einstiger Helfer.

Wie oft war er in früheren Zeiten durch diese Gassen geschritten! So manches Haus, an dem er vorüberkam, erinnerte ihn an schwere Kämpfe und gefährliche Abenteuer, die er hier an Sherlock Hol­mes’ Seite erlebt hatte. Namen von Verbrechern fie­len ihm unwillkürlich ein … Namen, vor denen Lon­don einst gezittert … Namen, deren Träger Männer gewesen, deren Leben ein einziges Taumeln von Verbrechen zu Verbrechen gewesen war.

Harry Taxon nickte still vor sich hin. Er hatte geglaubt, dieses Verbrecherdorado nie wieder zu erblicken, wohnte er doch in New York, wo Arbeit haufenweise seiner wartete. Aber dieser Fall, dieser rätselhafte Leichenraub lockte doch zu stark, und so hatte er denn mit Freuden eingewilligt, als ihn Sherlock Holmes lächelnd aufforderte, heute Nacht die­sen Gang zu unternehmen.

Harry Taxon lächelte unwillkürlich, als er an den Besuch des Inspektors dachte. Sherlock Holmes hat­te Tyst mancherlei erzählt, aber alles doch nicht! Dies zum Beispiel, dass ihm einer der drei Täter be­reits bekannt war! Wie hatte sich der Weltdetektiv ausgelassen?

»Zwei der Täter trugen Khasel-Gummiabsätze. Der Abdruck war auf dem Asphalt noch am nächs­ten Tag herrlich zu sehen. Der Dritte ist, ohne dass er darum ein Krüppel zu sei braucht, mit einem Fuß­leiden behaftet. Sein linker Fuß ist um drei Zentime­ter kürzer als der rechte!«

Das klang wie eine nüchterne Feststellung – und doch welches Wissen verbarg sich hinter diesen we­nigen Worten! Sherlock Holmes’ geniales Erinne­rungsvermögen war hier wieder einmal glänzend in Erscheinung getreten. Kaum hatte er nämlich die Asphaltspuren entdeckt, als er auch schon jäh eine Vision hatte: Er sah einen Mann vor sich stehen. Einen Mann mit mürrischen Zügen, den Kopf stets ein wenig nach vorn geneigt, den Blick verschleiert. Ei­nen Mann von kleiner, untersetzter Gestalt, dessen linker Fuß um ein wenig kürzer war als der rechte! Wer war dieser Mensch? Der frühere Portier der Morgue! Jack Petray mit Namen. O, Sherlock Hol­mes hatte ihn hundertmal gesehen und kannte ihn ganz genau. Das war vor zehn, elf Jahren gewesen. Dann war Petray plötzlich verschwunden, und an seiner statt versah ein neuer Portier den Dienst.

Auch den Grund dieses Wechsels hatte der Weltdetektiv seinerzeit erfahren: Petray war eini­ger Vergehen überführt worden. Um in der Öffent­lichkeit kein Aufsehen zu erregen, hatte man ihn nicht in den verdienten Ruhestand versetzt, sondern ihn einfach fristlos entlassen. Was aus ihm gewor­den war, hatte Sherlock Holmes nie erfahren, inte­ressierte ihn auch nicht, bis er nun vor der Morgue jene Fußspur entdeckt hatte: die Spur eines Mannes, dessen linker Fuß kleiner war als der rechte!

Da war jäh das Bild Jack Petrays vor seinen geistigen Augen lebendig geworden, und er fragte sich: »Sollte der ehemalige Portier des Schauhauses hier seine Hand im Spiel gehabt haben?«

Dass die Täter mit den Räumlichkeiten vertraut gewesen waren, lag auf der Hand. Nun, Petray wusste in dem Haus gut Bescheid, war jahrelang als Portier in der Morgue ein- und ausgegangen! In tiefster Finsternis hätte er sich in dem Gebäude zurechtgefunden! Sherlock Holmes behielt die Spur im Blick. In seinem Auftrag war Jonny einen halben Tag unterwegs, um den augenblickliche Aufent­haltsort Petrays zu ermitteln.

Es war eine schwierige Sache gewesen, aber Jonny hatte Glück, und so wusste Sherlock Holmes denn, dass Petray seit einer Reihe von Jahren mitten im Londoner Verbrecherviertel wohnte, wo er sich sogar ein eigenes Häuschen gekauft hatte. Auch diese Feststellung ließ sich seine Mitwirkung an dem geheimnisvollen Raub nur noch glaubwürdiger er­scheinen, ohne dass sie jedoch als Beweis gelten konnte. Nur zweiundzwanzig Menschen konnten sich in London den Luxus eines Rolls Royce Wagens leis­ten. Hatten die Täter den Wagen gestohlen? Nein, auch diese Annahme erfüllte sich nicht. Kein Besit­zer eines dieser luxuriösen Wagen hatte eine diesbe­zügliche Anzeige erstattet. So blieb nichts anderes als die Annahme übrig, dass es eine dieser zweiund­zwanzig Personen selbst war, die sich mit Petray zum Diebstahl der Toten verbündet hatte!

Eine ganz rätselhafte Geschichte! Aber aufge­klärt musste sie werden, koste es was es wolle! So waren Sherlock Holmes und Jonny ausgezogen, die verbleibenden sieben Besitzer von Rolls Royce Wagen zu beschatten, während Harry Taxon sich im Einverständnis mit dem Weltdetektiv entschlossen hatte, Jack Petray etwas eingehender unter die Lupe zu nehmen. So huschte Harry durch wohlbekannte Gassen, die schon so manches Verbrechen mit angesehen hatten, bis er endlich in jene gelangte, wo sich Petrays Haus befand.

Es war ein altes, windschiefes Gemäuer, das be­reits in seinen Wänden gefährliche Risse zeigte. Die der Straße zu liegenden Fenster waren mit Läden fest geschlossen. Kein Licht drang auf die Gasse, und nichts ließ auf die Anwesenheit irgendeines mensch­lichen Lebewesens schließen. In unmittelbarer Nähe musste die Themse ihr graues Schmutzwasser vor­beifließen lassen, denn Harry Taxons angestrengt lauschendes Ohr vernahm deutlich das Geräusch der Wellen, die gegen Steinwände klatschten. Wahr­scheinlich floss die Themse direkt hinter dem Haus Petrays vorbei.

In einem Winkel schräg gegenüber legte er sich auf die Lauer, darauf gefasst, hier Stunde um Stunde vergebens zu verbringen. Aber es kam anders, denn kaum hatte er dem Winkel Posto gefasst, als die Gasse von schnellen, eilig näherkommenden Schrit­ten widerhallte und die Gestalt eines hochgewach­senen, schlanken Mannes aus dem Dunkel auftauchte. Viel war von seinem Gesicht nicht zu sehen, denn auch er hatte den Hut tief in die Stirn gezogen und den Kragen hochgeschlagen.

Vor Petrays Haus hemmte er jäh den Schritt; sein Blick spähte die Gasse hinauf und hinunter. Harry Taxon presste sich so tief wie möglich in sein Versteck. Wer der Mann war, vermochte Harry nicht festzustellen, aber dass er zu Petray Beziehun­gen unterhielt, erwies sich schon in dem nächsten Augenblick, denn ganz deutlich vernahm Taxon, wie der Unbekannte fünfmal in ganz bestimmtem Rhythmus an die Tür des Hauses klopfte.

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