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Wie der starke Hans sein Glück fand

Wie der starke Hans sein Glück fand

Nun erzähle ich euch eine Geschichte vom Hans – ihr wisst: dem furchtbar starken Hans mit der Mühlsteinhalskrause, der damals seine starken Fäuste dem Meister Müller verdungen hat um drei Ohrfeigen, von denen der Müller die dritte nie überlebt hätte; nun, seine wunderlichen Abenteuer kennt ihr ja alle. Er tat also beim Müller nicht gut, tat später beim Schäfer nicht gut, tat schließlich bei keiner Hantierung gut; war wohl, der ungeschlachte Geselle, zu was ganz Ab­sonderlichem auf die Welt gekommen.

»Gott sei ge­priesen!«, seufzte jeder seiner Herren hinter ihm drein, wenn er an der letzten Weghecke noch einmal zum Ab­schied über die Schulter schaute, sein Bündel schwenkte und mit hellem Juhu seinen alten Hut in die Lüfte warf.

»Adjes auch, Meisterchen!« Und »auf Wiedersehen, Meisterchen!«

»Gott bewahre uns in Gnaden vorm Wiedersehen!«, murmelte der und schlug ein Kreuz.

Keiner mochte ihn mehr haben, den Hans, er war gar zu sehr außer aller Art, und dass er für zwanzig starke Kerle schaffte, möchte noch angehen, wenn er nur nicht für vierzig gegessen hätte!

»Nun, ist auch recht«, lachte Hans, »bin eh des Fronens müde! Heidi, ich fahre in die Welt!«

Er hatte was vom Glasberg läuten hören und dem Königreich hinter dem Glasberg. Da wollt er hin, Abenteuer zu suchen und ein rechter Kerl zu sein.

Da gab es nun für unseren starken Hans manche Meile zu traben, manchen Berg zu erklimmen; und vom allerhöchsten, den er erstiegen, warf er seine großen Stiefel, die er auf harten Wegen fein durchgewetzt hatte, also dass er von unten auf den blanken Sohlen lief, durchs Oberleder aber Sonne, Mond und Sterne schienen, in einem gewaltigen Bogen mit freudigem Juchzer weit über die Spitzen der Tannen hinweg in das brausende Gebirgswasser hinein, von dem ihm ge­sagt war: »Dem folge nur nach, das rennt bis ins Land der Abenteuer.« So stieg er barfuß weiter. Sei­ne Füße waren stark und hart, und brannten ihm die Sohlen, so watete er mal ins kalte Rauschewasser hin­ein, freute sich der herzhaften Erfrischung am heißen Wandertag, lachte eins über die närrischen Forellen, und rüstig ging es weiter. Aber es wollte kein Abenteuer verquer kommen, und der Glasberg? O weh, wo möchte der gelegen sein? Düsterer wurden die Wälder um ihn und totenstill, als hätten sie noch nie eines Menschen Fuß betreten, nur aus weiter, weiter Ferne hörte man den Specht häm­mern. Wilder und tobender wurde neben ihm das Wasser und sank immer tiefer unter seinen Blick, indes die Felsufer immer höher und schroffer wuchsen und enger zusammenrückten.

Da auf einmal jauchzte er auf: »Gib acht, Hans, jetzt kommt es! Jetzt erleben wir was!«

An der Stelle, wo sich nun die Wildwasser in einem runden, tiefen Felskessel stauten, wo sie un­heimlich aus grausiger Tiefe heraufmurrten, kochten, wirbelten und brodelten, da schwang sich ein keckes steinernes Brücklein von Ufer zu Ufer. Munter schritt unser Wandersmann darüber, stand natürlich erst droben ein Weilchen und schaute mit Behagen in den Abgrund unter sich, das üppige Buschwerk, das aus dem zerrissenen Felsgewände sprosste, und ganz drunten in den brodelnden Kessel; dann pfiff er sich eins und ging schnell einen schmalen Fußsteig hinan, immer höher hinauf ins Gebirge.

Ein Segen, dass er vom letzten Brotherrn noch einen ganzen Schinken und etliche Würste und Laibe Brotes mit sich führte – denn der schmale Steig wollte kein Ende nehmen, und arg schmorte die Mittagshitze den Duft aus den Tannen. »Irgendwohin muss ich hier kommen«, tröstete sich Hans und wischte sich die heiße Stirn, »denn wozu wäre sonst der Weg da?«

Und da hatte er nicht so unrecht: Plötzlich lichtete sich das Tannicht, dicht vor ihm lag ein hochgetürmtes, alters­graues Schloss.

Hans schaute sich um – keine Menschenseele weit und breit. Ein steinerner Wappenlöwe war vom Portal heruntergestürzt und lag, blühende Ginstersträucher zwischen den Pranken, im üppigen Gras. Auf ihm saß regungslos ein zierlich Eidechslein und sonnte sich. Hans legte die Hände an den Mund: »Juhu!« Meint ihr, auch nur ein Hund hätte angeschlagen?

Er stieg die morschen, verwitterten Stufen hinan, aus deren Rissen und Fugen Gras und blaue Glocken­blumen wuchsen, schlug mit dem schweren Klopfer ans Tor – das schotterte, dröhnte dumpf und leer durch das schlafende Schloss, verhallte wieder, und wieder war es still. Nur im Vogelbeerstrauch am grauen Ge­mäuer wippte ein Blaumeislein und pfiff sein feines, kurzes Verschen, als lache es den großen gefoppten Buben aus.

»Nun wird es mir zu dumm!«, sprach Hans. Krach-bums, die Splitter flogen! Da hatte er mit leisem Druck das Tor eingetreten und stand nun staunend in einer langen, kühlen, schattigen Halle. Da roch es so modrig wie in Kellergewölben oft, und von seinen nackten Füßen her, denen die brü­chigen Steinfliesen nicht so wohl taten wie die Kühle des Bergwassers, stieg es ihm frostig ans Herz.

Er wanderte ratlos durch die hochgewölbten Gänge, denen hie und da ein hohes Fenster nur spärliches, ge­dämpftes Licht durch bunte Scheiben, alte, seltsame, farbige Schildereien, verlieh. Siebenmal ging es um die Ecke und immer dasselbe Bild: endlose gewölbte Gänge, zahllose geschlossene Türen zur Rechten und zur Linken, die in Gott weiß welche Gemächer führen mochten. Er eilte an allen vorüber, als zöge es ihn vor­wärts, einem unbekannten Ziel zu, denn er wusste es gewiss: Nun kommt es!

Schließlich packte ihn doch die Ungeduld: »Jetzt bin ich es satt, die langweiligen, dunklen Gänge abzutraben!« Er rüttelte am Schloss der nächsten Tür – da stutzte er. »Hans!«, rief es ganz deutlich aus weiter Ferne!

»Hallo! Ich bin hier erwartet! Wer da?« Und er eilte dem Ruf nach, einer großen Pforte zu, die den Hallengang, in dem er sich just befand, abschloss.

Leicht flog sie auf; er stand auf einem lauschigen, schönen Schlosshof. Rings stiegen in feierlicher Pracht die alten Mauern auf, halb mit wildwucherndem Efeu zugedeckt, steinerne Ritter trugen zierliche Erker und Balkone, wappentragende Löwen und Greife hüteten die Türen, zahllose Fenster starrten wie mit leeren, roten Augenhöhlen auf den gepflasterten Hof her­nieder, in dessen Stille und Weltabgeschiedenheit auch der heiße Mittagssonnenschein eingeschlafen zu sein schien. Und inmitten plätscherte schläfrig ein Brünnlein. Hans tat die warme Sonne gar wohl nach den kühlen, dämmrigen Hallen; es schauerte ihn leicht, da ihr Strahl sein Wams durchdrang; dann musste er gähnen, einmal, zweimal, dreimal, o, so tief, die Bei­ne wurden ihm müde und schlaff; es zog ihn zum Brunnen, dort von dem rieselnden Strahl zu trinken und sich dann an dem grünbemoosten Steinrand nieder­zulassen, dem verschlafenen Geriesel zu lauschen, bis ihm die Augen zufielen.

Wer weiß, wie ihm das bekommen wäre! Am Ende wäre er nie wieder aufgewacht und wäre ein stummes, lebloses Stück dieser stummen, leblosen Einsamkeit geworden. Ich weiß es nicht und will nichts behaupten, was ich nicht weiß; aber mich dünkt, ein Glück war es für ihn, dass es nicht dazu kam, denn es rief schon wieder: »Hans!«

Deutlich hatte er nun vernommen, wo der Ruf herkam. Er eilte durch einen runden Tor­bogen, der von dichtem Efeugerank halb verhängt war. Da sah er drüben ein langgestrecktes Gebäude, offen­bar den Marstall des Schlosses. Deutlich klang es her­über wie das Stampfen von Rossen und das Klirren von Pferdeketten.

Gottlob! Endlich lebendige Gottesgeschöpft!, dachte Hans.

»Hans!«, klang es da deut­lich aus dem Stall her! Er stieß die Tür auf. Zwit­schernd schoss ihm eine Schwalbe dicht übers Haar hin ins Freie.

In der Dämmerung des Stalles unterschied er statt­liche Reihen wohlgepflegter Rosse, wie er sie schöner noch nie gesehen hatte. Kettenrasselnd drehten sich die feinen Köpfe dem Gast zu, und die klugen, schönen Augen der edlen Tiere schauten ihn groß und freundlich an. Hans wurde es ganz wunderlich weich und warm; das Herz ging ihm auf von einer Liebe und Zärtlichkeit, wie er sie noch nie gefühlt hatte. Er trat in den nächsten Stand, schlang seinen Arm um den feinen, glatten Hals eines Zelters und lehnte seine Wange an die weichen Nüstern. Da wurde ihm gar weh und wun­derlich, dem großen, starken Bengel, als sehnte er sich – weiß Gott wonach, und trüge eine Schmerzenslast von Liebe im Herzen und müsste daran sterben, könnte er keinem davon abgeben. Was war das nur?

Da rief es wieder und ganz nah diesmal! »Hans!«

Drüben von jenem Schimmel kam es her, dem mit den rosigen Nüstern. Er trat hinzu: »Schimmel, sprachst du das? Seit wann ist mir das Mode?« Doch das Scherzen wollt ihm nicht gelingen, so wundersam war ihm zu Sinn. »Was hättest du gern, liebes Rösslein?«

»Hans, nun musst du mich satteln und schirren.
Lass dich nicht Liebes noch Leides beirren,
lass nicht Liebes noch Leides dich halten,
deine Stunde schlug, dein Schicksal will walten.«

»Hm«, meinte Hans, »wenn ich nur nicht zu dumm bin für dergleichen! Halten? Hoho! Halten soll mich keiner und beirren am Ende auch nicht. Nun, es kommt auf den Versuch an. Aber merkst du was, liebe Seele? Jetzt kommt es! Wir erleben was, wie man es beim Meister Müller und beim Schäfer nicht alle Tage erlebt! Hurra!«

Da hing ein Sattel, da hing ein Zaumzeug, und hast du nicht gesehen saß Hans, bar­fuß wie er war, auf dem beredsamen Schimmel, und heidi, auf flog die Stalltür, fort ging es!

»Schimmel, wohin? Zwar mir ist alles recht: Woandershin, gelt Schimmelchen?« Hui, da flog ihm der alte Hut vom Kopf. »Halt Schimmel, mein Hut!«

»Dumm­rian!«, schnaubte der Schimmel.

»Hast recht, lass fliegen! Doch sag nun: Wohin?«

»Sei standhaft! Gewinnst dir eine Königin!«

»Potztausend, das wär! Doch ich reite ohne Hut und Stiefel zur Freite!«

»Will Junker Hans auf dem Glasberg turnieren, Darf ihn nicht Liebes noch Leides beirren!«

So so, auf dem Glasberg! Nun wusste ja Hans, wo­hin es ging. Das war ja sein Herzenswunsch gewesen, zu dem Glasberg zu kommen! Hei, wie lachte da sein Herz! Er nahm sich auch ernstlich vor: Nichts, aber auch gar nichts sollte ihn beirren, nicht Liebes noch Leides! Nun fiel der Schimmel in langsamen Trab, und nun, da dem Reiter nicht mehr die ganze Welt im Fluge vorbeisauste, wurde er auch gewahr, wes Art der Gaul sei, der ihn trug.

Ach, du lieber Herrgott, erbarm dich! Wo hatte er nur im Stall vorhin seine Augen gehabt? Das war ja eine Schindmähre, ramsnasig, mit schwerem, hängendem Kopf, schnappenden Lippen, zwischen denen eine halbe Elle lang ein Zipfel Zunge herausbaumelte, als wollte er abfallen; und recht, als wollte der Gaul ihn ärgern, trottele er nun knickbeinig, ganz langsam durch ein belebtes Dorf.

Die Uhr an der Dorfkirche, die gerade schlug, blieb vor Schreck mit einem Knacks stehen, da die ritterliche Gestalt mit dem zerschlissenen Hemd, dem struppigen Schopf, den nackten Beinen auf der Jammermähre auftauchte. Das gab auch ein Hallo bei Jung und Alt, Mensch und Vieh! Vom Dorfweiher die Gänse kamen schnatternd und schimpfend auf ihn zu gerauscht; der Gänserich zischte ihn wütend an, die Hunde, große und kleine, kläfften hinterdrein. Die Dorfkinder rannten schreiend und lachend dem Reitersmann nach, der Schmied trat mit seinen Gesellen vor die Schmiede, den Hammer noch in der Hand, und sie bogen sich vor Lachen, dass die steifen Schurzfelle krachten, und, was unseren Helden am meisten wurmte: Die hübschen jungen Dorfmädchen lachten ihn aus. Wütend setzte er die nackten Fersen dem Gaul in die Flanken. Der aber schüttelte gemütlich die Ohren und ließ den Zungenzipfel baumeln und hatte es gar nicht eilig. Blass und rot wurde Hans vor Zorn – da klang es ihm im Herzen: »Lass dich nicht Liebes noch Leides beirren!« Und hui waren Dorf und Weiher, Strohdächer, Gänse, Hunde, Schmiedegesellen und Mädchen verschwunden! Das Ross brauste dahin, dass Hans die Sinne schwanden.

Auf einmal rief es: »Hans, hab acht!«

Vor ihm lag in lichter Sonne ein gleißender, schimmernder Berg, wie ein erstarrter Riesenwasserfall.

»Der Glasberg!«, jauchzte Hans.

Da schüttelte sich das Rösslein unter ihm und bäumte sich, und da war es wie eines Hünenfürsten edelstes und stärkstes Schlachtross. Hans aber klirrte blauer Stahl um die Brust, die sich in wonnigen Atemzügen dehnte, flogen grüne Samtschabracken über die Erz geschienten Schenkel; kühl um die Schläfen schmiegte sich ihm der Stahlrand eines gewaltigen Helmes, auf dem zwei hohe Habichtschwingen rauschten, und ein breites Schwert hüpfte an seiner Hüfte. Und nun fuhren Ross und Reiter wie in einem blaublitzenden Ungewitter empor – wohin? Tausend Männerstim­men jubelten ihm plötzlich zu, und schnaubend und stampfend stand der gewappnete Schimmel mit ihm oben auf dem Glasberg in den Schranken eines glän­zenden Turniers. Ringsum stattliche Reiter auf herr­lichen Streitrossen, buntgestickte Wappendecken, wehende Fähnlein, wappenbunte Schilde, blitzende Drommeten und Klarinen. Drüben auf teppichbehängter Rampe unter einem purpurnen Baldachin ein Gedränge fürst­licher Männer und schöner Frauen.

Und alles winkte, grüßte, rief, jauchzte und trompe­tete ihm zu, der ganz benommen stand von all der Pracht und Herrlichkeit. Er war ja ein schlimmer Hans Taps, der arme Müller- und Schäferknecht, und der feinen höfischen Sitten gar unkundig. Das mochte wohl der kluge Schimmel wissen, denn er beugte zierlich ein Knie vor dem Thronsitz und den hohen Herrschaften droben, und einmal dann nach rechts und einmal nach links, und da musste der arme dumme Hans halt mit­tun, er mochte wollen oder nicht; und siehe da, jubeln­der Beifall lohnte dem höflichen Gast, dass er sogleich stolz den Kopf hochwarf, als ob: Was bin ich doch für ein Kerl! Ei ja, Hoffart lernt sich gar schnell.

Da klangen Fanfaren, Herolde führten sein Ross am Zügel in die Bahn, eine Lanze wurde ihm gereicht, und nun ging es an ein Rennen und Streiten und Stechen. Hans passte scharf auf, wie es die anderen machten, denn er war der Letzte an der Reihe. Da aber trat die ganze Ritterschaft dem fremden Kämpen entgegen, und sie alle, alle sanken vor seiner Kraft in den Staub.

Da lachte Hans vor sich hin, und es klang ihm seines Schäfers Wort im Ohr: »Hans, du Schlagetot, du taugst keinem Menschen was! Häng dich auf! Aber es muss ein starker Ast sein, den du dir aussuchst!«

Das hätte der Schäfer nur sehen sollen, wie hier gewaltiger Jubel um seinen unnützen Knecht erbrauste, der König sich freudig erhob und alles mit ihm. Das Ross aber stieg plötzlich hoch.

»Schimmel, bist du des Teu­fels? Die Prinzessin winkt mir! Sie ist so schön! Schimmel, Satansvieh! Nur ein Wort, lieber, süßer Schimmel, nur einen Blick!«

Durch dunkle Wälder, über rauschende Bäche, durch wogende Kornfelder ging es dahin wie die wilde Jagd, und ehe es sich Hans versah, stand er daheim im Stall, nahm mit zitterndem Herzen und zitternden Händen dem Schimmel, der nun die Wundergabe der Sprache verloren zu haben schien und nur ein gewöhnliches Pferd war, Sattel und Zaumzeug ab, warf sich dann, nachdem er ein Weilchen kopfschüttelnd vor sich hinge­starrt hatte, mit fiebernden Schläfen auf ein Strohlager nebenan in der Kammer des Rossknechtes, wo ihn bald, ehe sich noch ein buntes Träumen von blitzenden Ritter­gestalten, Kampf und Sieg und von der Holdseligsten der Frauen angesponnen, ein tiefer, tiefer Schlaf einhüllte.

Als er am nächsten Morgen spät erwachte, wusste er lange nicht, wo er sei. Da leuchteten ihm die Augen aller der Rosse so traulich, als sprächen sie: »Guten Morgen, Hans! Glück auf, Hans!«

Da er aber an seiner Leibeslänge hinabsah, erschrak er heftig des gräulichen Zergehens, so sein eh schon kümmerliches Ge­wand gestern erlitten: Die Hose ganz zerschlissen, zer­weht und zerfranst, das linke Knie leuchtete gar durch einen breiten Riss, sein Wams kurz und klein und aus allen Nähten, also dass er es wütig vom Leibe riss. Doch ehe er des Wunderns ein Ende fand, huben die Seltsamkeiten von gestern wieder an. Nur war es heute eine braune Stute, die ihn beim Namen rief und mit ihm von hinnen brauste. Das Spießrutenlaufen in der Dorfstraße war heute noch quälender denn gestern; die Gänseherde schien sich verdoppelt zu haben, die Zahl der wütenden Köter gleichermaßen, das Lachen, Schreien und Johlen der Männer, Frauen und Kinder auch; und was das Tollste, das Dorf deuchte ihn heute noch eins so lang. Dann ging es wie gestern her: Die Stute schüttelte sich kräftig, wurde ein gewaltiges Schlachtross mit noch köstlicherer Deckenzier, des Reiters Harnisch und Wehrgeschmeide aber war eitel gleißend Silber. Wieder war er da oben Sieger, der Jubel groß, die Prinzessin ohne Maßen lieblich. Doch da der König sich erhob und sein minniges Kind mit ihm, tau­send Hände ihn grüßten, und alle Fähnlein sich unter hallenden Fanfaren vor ihm neigten – »Stute, bist du des Teufels?«

Er mochte wollen oder nicht, wieder ging es davon ohne Ballett, und ehe er es sich versah, lag er mit dröhnendem Schädel auf dem Rossknechtlager, wo sich schwerer Schlaf auf ihn warf.

Am dritten Tag war es ein hochbeiniger Rapphengst, der ihn entführte. Ach, heute war es gar ein halbnackter Strolch, der kaum noch dürftig in Hemd und Hose hing und auf einem wahren Grauen- und Spukbild von humpelnder Schindmähre durch das vergnügte Dorf sich schleppte. Hier schien sich wirklich heute die ganze Bauernschaft der Gegend zu seinem Empfang zusammengerottet zu haben; ja, er wurde mit Spannung erwartet. Die Gänseherde war schier unabsehbar, das Schnattern und Zischen, dazu das Heulen und Bellen der unheimlich angewachsenen Dorfkläffer gar zum Verrücktwerden. Die ganze Welt schien ein Gelächter und Hohngeschrei; die Bäume schüttelten sich vor Lachen, die Kühe aus den Ställen brüllten Hohn, Hohn meckerten die Ziegen am Wegrain, und auf einem Scheunendach schlug der Storch mit den Flügeln, nickte wie närrisch und klapperte vor Vergnügen wie ein Toller. Und die Mädchen! Hans liefen vor Harm und Scham die Tränen über die Backen.

Was war denn das? Da trat ein Dorfmägdlein ganz dicht an ihn heran und patschte dem lahmen Rappen lachend auf das magere Hinterteil. Die war so schön! Wäre nicht das grobe Bauernhemd um ihre Brust gewesen und ihre Stirn und drallen Arme von der Erntesonne so braun und die Grannen in ihrem gelben Haar – er hätte geschworen, es sei die Prinzessin droben vom Glasberg! Doch nein, so ungezogen lachen konnte die wohl nicht, war es gleich ein köstliches Ding, wie das Dirnlein im Lachen die leuchtenden Zähne zeigte! Und die Dorfstraße nahm gar kein Ende heute, und der Spott wurde immer giftiger, schließlich flogen ihm gar Futterrüben und Steine um die Ohren! Da hieß es wohl: festbleiben und sich kein Liebes noch Leides beirren lassen! Aber schließlich überstand er es.

Am Fuße des schimmernden Glasberges schüttelte sich der Rappe, und ein Ritter in goldener Rüstung stob in einer blitzenden Gewitterwolke über das blanke Berggewände in die Schranken des Turniers.

Als aber heute die Drommeten seinen Sieg und des Rennens Ende kündeten, da schlug das Eingangstor zum Turnierplatz – so hatte es der König angeordnet – krachend zu. Der König selbst eilte dem Sieger vom Tor her entgegen. Da nahm der Rappe einen Anlauf, und hast du nicht gesehen, setzte er samt seinem goldschimmernden Reiter über das Torgitter hinweg.

Der König hatte im Zorn sein Schwert gezogen: »Warte, Trotzkopf! Wenigstens zeichnen will ich dich!« Und schlug nach dem Entweichenden. Er traf ihn ins Bein. Unser Hans aber hatte so festes Fleisch, dass die Schwertspitze abbrach und haften blieb.

»Ho, nun bist du mir sicher!«, lachte der König, da er sein stumpfes Schwert betrachtete.

Des Königs Töchterlein aber saß im Innersten ihrer Gemächer, mied Speis und Trank, träumte und weinte. Da ließ der König vom gläsernen Berg durch Boten, die er in alle vier Winde sandte, kund tun und zu wissen: Der Ritter, in des Schenkel Seiner Ma­jestät Schwertspitze haftet, empfängt dero königliches Kind zur Frau. Dem König hatte nämlich ein Wahrtraum, von Gott gesandt, Wunder verheißen von dem unwiderstehlichen Sieger, als werde von ihm alles Heil seinem Reich und seinem königlichen Haus kom­men. Nun war aber jeder, der das Herz am rechten Fleck hatte, über die Maßen verliebt in das holdselige Königskind, das ebenso gütig und bescheidenen Ge­mütes war, wie es nach Geburt, Rang, Reichtum und Schönheit das Haupt hätte hochtragen dürfen, und viele brachen die Spitze von ihren Schwertern und trieben sie sich ins Bein und ließen sich so zum König tragen. Doch alle mussten mit Schanden heimfahren, keine der Schwertspitzen passte an das Königsschwert.

Was war inzwischen aus Hans geworden? Erst hatte er seiner Wunde nicht acht, vermeint, es sei wohl ein Mückenstich oder Holzsplitterchen oder Dorn, irgendwo beim Reiten mitgenommen. Doch bald eiterte die Wunde und Hans’ Strohlager wurde zum Siechbett. Das waren böse Tage, da durfte er fein stöhnen und sich all seine Sünden bedenken, bis dass er sich seines Lebens gar verziehen und ergeben gedachte: »Nun ist es aus! Schade, es fing so prächtig an! Und hundert­mal schade um das süße Prinzesslein! Sähe sie mich nur einmal noch vorm Sterben an!« Am traurigsten deuchte ihn, dass er grad Hungers sterben muss. Denn war er gleich Herr im Schloss, wo keine Menschenseele atmete, und konnte sich also auch wohl sein lassen an all dem Guten in Küche und Keller, so war ihm doch am wohlsten in seinem Stall auf dem Strohlager, und er pfiff auf die Prunkgemächer im Schloss und die schwellenden Polster in Seide und Brokat. Da lag er denn, stündlich eines neuen Wunders gewärtig. Doch es geschah keins. Auch keins der Rosse tat mehr den Mund auf und plauderte mit ihm. Er blieb einsam mit seinem Schmerz, seinem bitteren Ärger, dass ihm alles Glück vor der Nase verschwunden, seinen sehn­süchtigen Gedanken an das Königskind und – seinem Hunger. Denn wie seine Wunde schlimmer und qual­voller wurde, konnte er nicht mehr auf, konnte er sich nicht mehr zur Küche schleppen. Er kaute Haferkörner vor Verzweiflung, fiel täglich mehr vom Fleisch und sah sein Ende nahen.

Er wusste nicht, dass eben sein Weh und seine Not ihm der Anfang von allem Erdenglück sein sollte. Er lag mit offenen Augen des Nachts im Fieber und starrte durch das staub- und spinnwebtrübe enge Fensterchen seiner Rossknechtkammer in den Mond und, wie er halb schon mit seiner Seele außer dem Leibe war, erlebte er viel feine und zarte und fromme Gedanken, wie sie dem derben Schlagetot niemals noch in Herz und Sinn den Weg gefunden. Denn der Tod saß an seinem Bett und tat ihm manch edles Wissen kund und erzählte ihm, wie die Welt so schön und des Menschen Herz so arm und so reich, so eng und so weit, und sang ihm eine Schlummerweise von der Liebe Gottes. Da war es, als ginge geheime Zwiesprache durch die Stände der Rosse, von Krippe zu Krippe, die Ketten klirrten, und wenn der arme Todkranke hätte aufstehen und hinaus­schauen können, so konnte er den Schimmel wie ein fliegendes Silberwölklein durch die Mondnacht jagen und entschwinden sehen. Dann war es still im warmen

Stall, kaum dass noch eine Kette rasselte und ein Huf dumpf den Boden stampfte; nur die kurzen Atemstöße des Fiebernden waren vernehmbar.

Des Königs Leibarzt hatte nun schweren Dienst. Der Prinzessin wurden die Wangen bleich, und alle besten Ritter des Reichs hatten wunde Beine, da gab es viel zu tun. Er hatte in einem gelehrten Buch noch studiert bis gegen Mitternacht. Nun ergriff er die Lampe, um zu Bett zu geben. Da schlug es draußen gewaltig ans Tor. Er öffnete das Fenster und schaute hinaus und rief: »Wer begehrt so spät noch mein?«

»Des Kö­nigs Eidam!«, rief es draußen. War aber kein Mensch zu sehen, ein schlanker Schimmel stand drunten, ge­sattelt und gezäumt, und warf nickend den Kopf auf. Der Arzt setzte sich die Brille auf – es blieb ein Schimmel. »Alle guten Geister loben den Herrn«

»Amen«, sprach der Schimmel.

Da erleuchtete Gott des Arztes Sinn, und er erkannte das Ross, auf dem der fremde, stahlgewappnete Ritter zum ersten Mal turniert hatte. »Das ist ein wunderlich Ding«, sagte er und trat hinaus. Da beugte das edle Tier ein Knie, und nun erkannte er es für gewiss und verstand seine ein­ladende Gebärde. Er eilte zurück, versah sich mit allem Gerät seiner Kunst, Verbandzeug und heilsamen Essen­zen, warf einen Mantel um und setzte sich in den Sattel.

»Halt dich fein fest, hochgelehrter Herr –« und heidi! ging es davon, dass der arme Doktor die Augen schloss und seine Seele Gott befahl.

Da tauchte ein Schloss auf, das der Arzt, der nun schon an fünfzig Jahre dort wohnte, nie gesehen, noch auch nur nennen hören, und ehe er es sich versah, stand er am Schmerzenslager eines zerlumpten, halbnackten jungen Burschen, der fiebernd mit dem Tode rang.

»Hier ist es hohe Zeit!«, sagte der Doktor, der die Züge des wunderstarken Ritters in dem Antlitz des armen Teufels erkannt hatte. Da stand schon der Schimmel da und trug in den Zähnen einen Eimer klaren, kühlen Wassers, eben am Brunnen draußen geschöpft.

»Ei Dank, mein freundlicher Famulus! Schau, du verstehst es!«, lachte der Meister, und nun ging es an ein liebevolles Pflegen und Heilen. Au, das tat aber weh, wie der Arzt die Schwertspitze aus dem entzündeten Bein herausholte, und als er sie betrachtete, da war der letzte Zweifel geschwunden: Des Königs Krone war darauf zu sehen!

Hm, dachte der Arzt, so wäre der Kerl ohne Strümpfe und Schuhe des Königs Tochtermann? Und er ließ sich von Hans seines Lebens Mär erzählen – vom Müller, vom Schäfer, dem verschollenen, menschenleeren Schloss, den drei hilfreichen, wunderbaren Rossen, und dachte hin und dachte her: Sagst du dem Bruder Habenichts, dass er nach des Königs Wort und Wille

ein Tochtermann? Sagst du es dem König, dass du ihn hier aufgefunden hast? Und sein Sinn neigte sich allgemach dem treulosen Vorsatz zu, dem Jüngling sein Geschick, dem König seine Entdeckung zu verheimlichen, auf dass nicht Königskind und Reich einem unedlen Fremdling anheimfielen. Immer fester wurde sein Entschluss, alles für sich zu behalten, und so gedachte er, da er an dem Kranken seine Pflicht getan hatte, heimzureisen.

Ja, aber wie? Er wusste nicht, wo er war, ob seine Heimat nach Osten, Westen, Süden oder Norden von hier aus gelegen. Das Schloss war ihm unbekannt, rundum die Wälder so endlos wie stumm, und der Schimmel wollte nicht, im Guten und im Bösen nicht, er duldete keinen Sattel, schlug um sich und biss! Der Arzt raufte sich die Haare und den Bart, jammerte um seine Kranken daheim und hätte sich schier verschnappt: Hatten doch alle die gleiche Wunde wie Hans; jammerte um die Prinzessin und hätte sich schier wieder verschnappt. Bleichten ihre Wangen doch um den fremden Rittersmann; jammerte über des Königs Zorn. Hans legte beim Schimmel, beim Rappen, bei der braunen Stute ein Wort für seinen Arzt und Retter ein – umsonst.

Schließlich wurde der Arzt gar kleinlaut und verzagt, verzweifelte ganz, jemals die Heimat wieder zu sehen. Indes Hans mit dem Jagdgerät, das er im Schloss entdeckt, lustig zum Weidwerk zog, saß er trübsinnig im Stall auf der Futterkiste, und nun war es an ihm, über seine Sünden nachzudenken. Und das war sein Glück. Denn wie es ihm so recht klar wurde, welche Treu­losigkeit er plane, und wie er vermessen den Willen Gottes, der sichtlich den guten Hans seine besonderen Wege führte, hemmen und hindern wolle, und wie er dann aufsprang, mit der Faust auf die Haferkiste schlug und bei sich sprach: »Nein! Der Wahrheit die Ehre!«

Da gab es ein Stampfen und Klirren im Stall, Schimmel, Rappe und Braune eilten aus ihren Ständen, und freudig legte der Doktor, der dankbar die Antwort Gottes auf seine gerechten Gedanken erkannte, dem Schimmel den Sattel auf, und heidi! ging es davon, Rappe und Stute jagten ledig hinterdrein.

Groß war Hans’ Staunen, als er den Meister und die drei Rosse vermisste. Er war inzwischen in Ein­samkeit, in Leibes- und Herzensnot ein still nachdenklicher, frommer Geselle geworden und dachte nicht mehr: »Nur zu! Mir ist schon alles recht!«, sondern fein demütig: »Wie Gott will.«

Und so geschah es. Als tags darauf die Welt in weißem Morgenlicht lag und Hans mit Bogen und Speer in den Wald trat, wie ein Riese der Vorwelt anzuschauen, im selbstgefertigten Fellwams mit bloßen Armen und nackten Füßen, aber schön und stark von Gliedern, da trabten drei Rosse daher, hellwiehernd ein Schimmel voran, drauf mit fliegenden Locken und glühenden Wangen das könig­liche Kind, der König auf dem Rappen, der Meister Arzt auf der braunen Stute, und sie staunten alle drei, wie urköniglich, ein Liebling Gottes, schön und prächtig an Haupt und jungen Gliedern, der schlanke Weid­mann daherschritt.

Und der König rief: »Unser Ritter! Glückauf, junger Held! Wer als König geboren wurde, den kleidet der Kittel des Müllerknechtes, der Rock des Schäfers und das Lumpengewand der Not königlich wie Hermelin und Purpur!«

Der Jüngling erglühte in tiefer Scham und sank demütig in die Knie. Der König aber hob ihn an seine Brust, küsste ihn und sprach: »Du bist der Rechte; ich nehme dich aus Gottes Hand. Du aber, mein Kind, nimm ihn aus meiner Vaterhand.«

Und Hans legte bebend seine Hand in des lieblichen Mädchens Rechte, zu küssen wagte er sie nicht. Bald war die Hochzeit. Das Schloss mit all seinen Schätzen blieb des jungen Paares eigen. Die Rosse aber waren spurlos verschwunden. Es hieß, es seien keine rechten Rosse gewesen. Wer will das sagen? Der Arzt wusste was zu fabeln aus einer alten Chronik, die er in einem Turmgemach daheim gefunden hatte, von blutigen Fehden, die einst zwischen dem Schloss der Ahnen seines Königs und jenem entbrannt und alles Leben in dem alten, grauen Schloss vernichtet, uralter Schuld, die erst zu sühnen wäre, wenn ein reiner Jüngling das alte Schloss wieder aufgefunden und zu eigen genommen und ein reines Mägdlein aus dem Schloss des Glasbergkönigs gefreit hätte.

Wer weiß, was an der Geschichte wahr ist. Genug, Hans lebte mit seiner Gattin herrlich und in Freuden, und als der alte König die Augen schloss, war er seinem Land nicht nur ein siegreicher und starker Schirmer, sondern auch ein gerechter und frommer Herr.

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