Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 8 – 9. Kapitel
Aus den Geheimakten des Weltdetektivs
Band 8
Die Geliebte des Staatsanwalts
9. Kapitel
Auf der Spur
Das Nächste war, dass Holmes sich einige Leute von der Unfallstation erbat und mit diesen das Haus des Lords Dempson aufsuchte. Er führte die Männer in den geheimen Gang und hieß sie, das von dem Unbekannten gegrabene Grab zu öffnen, um den Leichnam des Staatsanwalts ans Tageslicht zu befördern.
Die Arbeit war eine leichte. Rasch ging sie vonstatten, und einige der entsetzten Männer trugen den Verscharrten in das ehemalige Schlafgemach des Lords, während die anderen auf Geheiß des Detektivs die Grube wieder mit der ausgeworfenen Erde auffüllten.
»Ruft einen Arzt!«, befahl er den Leuten, die den Leichnam in das Schlafzimmer getragen hatten. »Er soll den Tod und die Ursache des Todes feststellen.«
Es währte kaum eine halbe Stunde, so war ein Arzt zur Stelle. Sofort ging er an die Untersuchung des Leichnams.
»Das Leben ist entwichen«, konstatierte er. »Die Ursache ist Erstickung.«
»Vermittelst Kohlendunstes?«, fragte der Detektiv.
»Das kann nur durch Zerlegung des Leichnams festgestellt werden«, erwiderte der Arzt.
Holmes machte ihn auf einige Strangulationsmarken am Hals des Toten aufmerksam. »Mir scheinen dieses Fingerabdrücke einer fremden Hand zu sein«, bemerkte der Detektiv. »Der Tod müsste demnach durch Erwürgen eingetreten sein.«
Der Arzt beugte sich abermals über den Leichnam und nahm noch eine genauere Besichtigung vor.
»Sie haben recht«, bestätigte er nach einer Weile. »Der Mann ist erwürgt worden.«
Holmes zog einen kleinen fotografischen Apparat aus seiner Tasche und nahm von den Fingerabdrücken am Hals des Toten eine Aufnahme vor. Dann erteilte er einem von den Leuten den Auftrag, die Staatsanwaltschaft zu benachrichtigen, um das Weitere zu veranlassen, und ließ einem anderen bei dem Leichnam bis zum Eintreffen einer Gerichtskommission Wache halten.
Holmes misstraute dem geheimen Gang: Leicht konnte jemand von hier in das Haus Lord Dempsons eindringen und den Leichnam abermals verschwinden lassen. Vorsichtshalber legte er deshalb eine Sicherheitskette vor die Geheimtür, und dann verließ er das Haus, um sich in die Villa Likeness zu begeben.
Die Nacht war heiter und sternenklar. Das Viertel, in dem die Villa Likeness lag, war still, wie ausgestorben. Nur wenige Laternen beleuchteten den Weg; desto heller beschien der Mond die eine Hälfte der Straße.
Diesen krassen Gegensatz zwischen hell und dunkel nahm der berühmte Detektiv wahr, er hielt sich scharf auf der äußersten Schattenseite und bewegte sich behutsam vorwärts. Nach einer Weile gelangte er an einen ihm wohlbekannten Park, der der Villa Likeness fast gegenüber lag. Hier hemmte Holmes seinen Schritt und beobachtete, hinter einer Fichte stehend, einen Mann, dessen Benehmen dem Detektiv auffiel.
Im Inneren dieses Mannes schien im Gegensatz zu der Ruhe der Natur ein wilder Sturm zu toben. Ein krampfhaftes Zittern überfiel ihn und er warf sich auf eine der Bänke des Parkes.
»Wohin?«, glaubte Holmes den Mann ausrufen zu hören. »Wohin?«
Plötzlich erhob sich der Fremde – ein stummes Lächeln glitt über seine erbleichten Lippen. Ein Gedanke schien den halb dem Wahnsinn Verfallenen zu überkommen – ein jäher Entschluss, ein schrecklicher. Die uralte Fichte über seinem Haupt, die schirmend wie eine Mutter ihre mächtigen Äste über ihn ausbreitete, lispelte ihm Mut zu seinem Entschluss zu.
Dann aber nahm seine innere Bewegung durch lindernde Tränen und durch Worte ab.
»Was könnte ich Verblendeter anderes tun, als diesem Leben ein Ende zu machen?«, sagte er leise, für das Ohr des Detektivs, der näher geschlichen war, aber dennoch erreichbar. »Kann ihre Liebe das Geschehene ungeschehen machen? Liebe ich sie noch? Ich weiß es nicht. Ein blinder Gehorsam zwingt mich, ihre Befehle auszuführen, ihre Wünsche ohne Überlegung und Nachdenken zu erfüllen. Ist das Liebe? Mich ekelt es vor ihr und dennoch fühle ich mich zu ihr hingezogen – ich kann ohne sie nicht leben und fühle mich doch nicht glücklich, wenn sie in meiner Nähe ist. Wie komme ich aus diesem Wirrsal? Einzig durch den Tod! Einzig durch den Tod! Ach! Meine arme Mutter! Wie wird sie um mich jammern! Doch bin ich, wenn ich am Leben bleibe, nicht noch bejammernswerter? Wohin? Wohin?«
Er schritt auf einen Teich zu, der inmitten des Parkes lag. Es waren nur wenige Schritte. Das auf den leisen Wellen zitternde Mondlicht – der säuselnde Abendwind – das geisterhafte Rauschen der dürren Blätter – alles schien ihm zuzustimmen und das kaum vernehmbare Plätschern der Wellen ihm zuzurufen: »Komm!«
Mit tränenden Augen blickte er noch einmal empor zu dem Sternenhimmel. Dort glänzten die Myriaden der silbernen, funkelnden Flämmlein, als zwinkerten ihm ebenso viele Augen zu, seinen Entschluss auszuführen, und das runde, bleiche Antlitz des Mondes schaute so traurig, so melancholisch drein, als wisse es auch keinen anderen Rat für den einsamen Mann im Park, als den, seinem qualvollen Dasein ein Ende zu machen.
Und wie um Verzeihung bittend, hob er die Hände zum Himmel empor. »Lebe wohl, arme Mutter!«, rief er aus und wollte den letzten Schritt ans Ufer tun, als sich plötzlich eine weiche Hand auf seine Schulter legte, und eine mahnende Stimme seinen Namen »Walker« rief.
Sherlock Holmes, der dem Unbekannten gefolgt war, und sich entschlossen hatte, ihn von dem Versuch des Selbstmordes zurückzuhalten, tat eben einen Schritt aus dem Gebüsch heraus, um die Hand nach dem Selbstmordkandidaten auszustrecken, als er überrascht den Fuß zurückzog und sorgfältigere Deckung hinter dem Gesträuch suchte. Die weibliche Gestalt, die an den Fremden, wie aus dem Erdboden gewachsen, herangetreten war und den Namen »Walker« ausgerufen hatte, war niemand anderes als Lady Ruth Likeness.
Sie war verschleiert. Ihr Nahen hatte weder der Detektiv bemerkt noch der den Tod Suchende. Nicht erschreckt, wohl aber überrascht, wandte sich dieser um, und fragend, ohne Unwillen, blickte er die weibliche Gestalt an.
»Bist du auch eine Unglückliche?«, fragte er. »Wer bist du?«
Die Dame schlug ihren Schleier auf, sodass das Mondlicht voll auf ihre Züge fiel. Walker taumelte einen Schritt zurück: Er war überrascht.
»Ruth Likeness? Unglückliche, warum ketten Sie Ihr Schicksal an das meine, das den höchsten Grad von Elend erreicht hat?«, rief er aus.
Die Lady wollte den Arm um die Schulter des Mannes vor ihr legen, aber seine eisige Kälte machte auch sie erstarren.
»Willst du mich nicht anhören, Walker?«, fragte sie mit ihrer berückenden Stimme, die ihn schon oft betört und auch nun wieder gefangen nahm. »Was hast du vor? Wem galt dein Abschiedsgruß, den du vor einer Minute dem schweigenden Sternenheer zugesandt hast? Was wolltest du beginnen? Sagtest du nicht, dass du mich liebst?«
Der junge Mann hatte sich inzwischen ein wenig zu sammeln vermocht. Da stand sie, die er so heiß geliebt, für die er alles geopfert hatte: Ruhe und Ehre, und nun fragte sie ihn, ob er sie liebe? Der Ton ihrer Stimme überwältigte ihn. Er streckte ihr beide Hände entgegen.
»Wenn ich Sie nicht liebte, hätte ich dann getan, was an meinen Händen klebt?«
»Still!«, unterbrach sie ihn. »Kein Wort davon. Wenn es auch spät in der Nacht ist – man könnte irgendein Wort von dir auffangen und es uns zum Verderben drehen. In einigen Stunden ist es Tag. Finde dich im Osten der Stadt, da wo die Themse eine scharfe Buchtung bildet, ein, wenn der Tag sich geneigt – wir wollen miteinander fliehen. Ich brauche dich auf meiner Flucht und brauche deine Liebe. Tagsüber wirst du gut tun, dich vor etwaigen Späheraugen zu verbergen – man darf dich nicht aufspüren, verstehst du mich? Ich habe noch Großes mit dir vor. Du sollst reich und glücklich werden, wir werden fürstlich leben. Komm erst hinweg von diesem Scheidewege zwischen Leben und Tod, Walker, dann will ich dir alle Einzelheiten klarlegen.«
Sie hängte sich in den Arm des willenlos in ihrem Bann handelnden und beide schritten langsam an dem Teich vorbei in eine Allee. Diese war dunkel. Das Mondlicht konnte sich zwischen die dicht belaubten Baumkronen nicht hindurchdrängen und Helle verbreiten.
Holmes erwog nicht lange, was er tun sollte. Er entschloss sich, ihnen zu folgen und den Plan der Lady auszukundschaften. Entkommen konnte sie und ihr Helfershelfer ihm nicht mehr; nun hatte er sie sicher, und wenn er auch nicht zu einer Verhaftung schritt, so wusste er ja, wo er beide heute Abend finden konnte. Er wollte sich einen Haftbefehl ausstellen lassen und sie kurz vor Antritt ihrer Flucht festhalten.
Vorsichtig, auf leisen Sohlen, folgte er den beiden, die anfangs stumm nebeneinander einherschritten. Es war schwer zu sagen, welche Gefühle sich ihrer Herzen bemächtigt hatten. Lady Likeness brach das Schweigen zuerst.
»Wir werden schwerlich noch einmal in mein Haus zurück können«, begann sie mit gepresster Stimme. »Ich fürchte die Behörde und habe daher meine Juwelen und Kleinodien sicher geborgen. Auch eine große Geldsumme liegt für uns bereit, heute Abend werden wir das alles, was ich an nur mir bekannter Stelle bereit halte, abholen und dann nach Amerika flüchten. Damit bist du einverstanden, Walker – nicht wahr?«
Dieser nickte zustimmend.
Über Sherlock Holmes’ Gesicht glitt ein Zug des Triumphes, wenn er bisher noch nicht ganz mit sich einig war, ob er den beiden die Freiheit bis zum Abend noch lassen sollte: Nun stand es bei ihm fest, dass er so lange warten musste, um den von Lady Likeness zusammengescharrten und verborgenen Schatz gleichfalls bergen zu können.
»Wenn wir in Amerika sind – was gedenken Sie dann zu tun?«, erkundigte sich Walker.
»Deine Frau zu werden«, erwiderte sie ruhig.
»Dieses Glück sollte gerade mir widerfahren?«
»Das will ich dir erklären«, gab die Lady ihm zur Antwort. »Meinen ersten Mann, Lord Likeness, liebte ich nicht: Das dürfte dir nichts Neues sein, wie ich über das Ansinnen meines Oheims dachte, ist dir ebenfalls bekannt. Es blieb also nur noch Staatsanwalt Charles Whitely.«
»Ihn haben Sie geliebt?«
»Ja«, sagte sie im Ton der Aufrichtigkeit.
»Und dennoch …?«
»Und dennoch musste er sterben«, vollendete sie, ihn unterbrechend. »Ich habe ihn leidenschaftlich geliebt und hatte beschlossen, gemeinsam mit ihm in den Tod zu gehen. Absichtlich hatte ich die Kohlen in dem intimen Salon angezündet – an seiner Seite wollte ich den ewigen Schlaf tun. Ich wusste, dass ich seine Frau nie und nimmer werden konnte, dass er über kurz oder lang eine Anklage gegen mich erheben musste – von Amts wegen – dass ich von dieser Anklage und einer Verurteilung nicht frei kommen konnte. So beschloss ich, in seinen Armen in das Jenseits hinüberzuschlummern.«
»Und mir hatten Sie Ihre Liebe zugesichert«, fiel Walker mit herbem Vorwurf ein.
»Erst heute weiß ich es, dass ich dir Gefühle entgegentrage, die echte Liebe bedeuten«, erwiderte sie.
Holmes unterdrückte ein stummes Lächeln. In dem Ton dieser Worte lag ein Klang, der alles andere eher barg als Aufrichtigkeit und Wahrheit. Dem Detektiv war es klar, dass dieses verbrecherische Weib den jungen Mann nur zu ihren Zwecken ausnutzen wollte, um ihm eines Tages vielleicht dasselbe Los zu bereiten, wie ihrem Oheim Lord Dempson. Als Mittäter und Mitwisser ihrer Schandtaten konnte ein Zeuge nur im Wege sein und musste aus dem Weg geräumt werden.
»Du kannst dem Mann nur aufrichtigen Dank sagen, der mich vor dem Erstickungstods durch die entzündeten Kohlen rettete«, fuhr Lady Likeness zu Walker fort. »Anfangs grollte ich ihm, als ich mich zu schneller Erholung in der Unfallstation wiederfand. Doch dann kam die alte Lebenslust zurück. Charles Whitely ist tot … morgen Abend verlassen wir dieses Land für immer.«
Langsam gingen sie nebeneinanderher. Sherlock Holmes hemmte seinen Schritt und blieb zurück. Er hatte genug gehört, um alles zu wissen.
»Ihr werdet das Land nicht verlassen«, murmelte er vor sich hin. »Heute Abend werde ich zur Stelle sein, um euch an jedem Fluchtversuch zu hindern.«
Er schlug befriedigt den Weg zu seiner Wohnung ein.
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