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Sagen der mittleren Werra 95

Von der Schlüsselblume auf dem Ringelstein

Eines Tages sah der Förster von Waldfisch auf dem alten Schloss oben eine ungewöhnlich große und schöne Schlüsselblume blühen. Da dachte er bei sich: Die bringst du deiner Liebsten mit heim. Er knickte sie ab und steckte sie an den Hut. Da er sich wieder erhob, erschrak er nicht wenig, als er eine weiße Jungfrau von wunderbarer Schön­heit vor sich erblickte. Sie stand vor einer weit geöffneten, mit reichem Schnitzwerk verzierten Tür, die zu einem Gewölbe führte, von dem er zuvor nie etwas gesehen hatte. Der För­ster fasste sich ein Herz und folgte der freundlich winkenden Jungfrau in den Berg. Diese deutete nun auf einen großen Haufen, der wie eitel Gold schimmerte, und sagte zu dem er­staunten Förster: »Nimm so viel, wie du zu tragen vermagst.«

Er tat, wie ihm geheißen, und füllte sich die Taschen.

AIs er sich hierauf anschickte, den Keller zu verlassen, rief ihm die Jungfrau nach: »Förster, Förster! Du vergisst das Beste!«

Der aber hatte keine Zeit und suchte das Freie, und wie er nun durch die Tür sprang, schlug ihn die so heftig an die Ferse, dass er vor Schmerz laut aufschrie. Die Tür aber war verschwunden. Nun erst bemerkte der För­ster, dass er den Hut, den er in dem verwünschten Keller aus Respekt vor dem Fräulein abgelegt hatte, samt der schönen Blume zurückgelassen habe. Doch tröstete er sich damit, dass er nun sein Leben lang vollauf habe. Vergnügt fuhr er mit beiden Händen in die vollen Taschen, um sich an dem Anblick des Goldes zu weiden. Allein wie erschrak er, als er statt schönen gelben Goldes nichts als Knollen herausbrachte.

»Das heißt man doch einen ehrlichen Kerl an der Nase herumführen«, rief er ärgerlich und schleuderte das Zeug ins Gebüsch. Nach Hause gekommen, warf er die Jacke auf die Bank, stutzte aber gewaltig, als ihm mit einem Mal ein blankes Goldstück vor die Füße rollte.

»Sollte es am Ende doch«, brummte er vor sich hin, griff hastig wieder nach der Jacke und fand auch wirklich, nachdem er die Taschen umgekehrt hatte, noch einige Goldstücke darin. Bleich vor Entsetzen, dass er so leichtsinnig sein Glück ins Gebüsch geworfen habe, hinkte er nun, so schnell es ihm der lahme Fuß erlaubte, wieder zu dem Ringelstein und durchsuchte Hecken und Sträucher. Vergebens! Alles war verschwunden. Die Ferse aber wurde immer schlimmer und heilte auch nicht eher, bis das letzte Goldstück verdoktert war.

Um dieselbe Zeit mag es gewesen sein, dass einige arme Frauen von hier zum Ringelstein ins Grasen oder Kräutersuchen gingen. Als sie sich nun an dem Bergvorsprung, auf dem das alte Schloss stand, getrennt halten, sah eine derselben vor sich eine wunderbare und gar köstliche Schlüsselblume. Als sie die Augen von der Blume erhob, gewahrte sie zu noch größerem Erstaunen eine starke und mit allerlei Schnitzwerk verzierte Tür in dem Berge Da dachte die Frau, dass es wohl der Eingang zu den unterirdischen Gewölben und Kellern, in denen die Schätze des Ringelsteins begraben wären, sein könne. Als sie sich nun von ihrem Schrecken etwas erholt hatte, fasste sie sich so viel als möglich ein Herz, schritt an der Blume vorbei nach der Tür zu und merkte, dass sie mit einem gewaltig schweren Schloss versehen war. Sie betrachtete es lange hin und her, fand aber nirgends das Schlüsselloch. Endlich nahm sie ihre Sichel und klopfte damit so lange auf das Schloss, bis jenes in Stücke zersprang. Nun war guter Rat teuer, denn die arme Frau wusste nicht, dass sie nur die Blume zu brechen und das Schloss damit zu be­rühren brauche, um es sich sogleich öffnen zu sehen. Sie lief daher in ihrer Ratlosigkeit zu ihren Freundinnen und teilte ihnen alles, was sie gesehen und getan hatte, mit. Kaum aber hatten diese die Sache erfahren, als sich alle zu dem bezeich­neten Ort auf den Weg machten, und da nun jede die Erste auf dem Platz zu sein und das Beste von den Schätzen für sich allein wegzuschleppen gedachte, so hielt immer eine die an­dere zankend und schreiend auf, sodass, als sie die bezeichnete Stelle keuchend erreichten, von allem sich nichts weiter vorfand als die Graskötze und die gebrochene Sichel. Nun erst erkannten sie alle ihre Torheit und machten sich gegenseitig die bittersten Vorwürfe und keine wollte laut geschrien und gezankt haben.

Eine andere von hier sah auch, währenddessen sie schwarze Beeren suchte, dort oben die Schlüsselblume und die Thür und hing, da es ihr zu warm geworden war, ihre Jacke ohne Arg an den Kloben. Der Frau aber wurde es gewaltig gruselig, als sie wieder nach Hause wollte, keine Spur mehr von der Tür gewahr wurde und ihre Jacke an einem Hasel­busch hängen sah.

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