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Der Welt-Detektiv – Band 12 – 1. Kapitel

Der Welt-Detektiv Nr. 12
Das Grab im Moor
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin

1. Kapitel

Das Verbrechen in der Morgue

Das war eine aufsehenerregende Woche in London! Mit dem großen Warenhausbrand hatte die Flut der sensatio­nellen Ereignisse ihren Anfang genommen. Dann war es binnen dreier Tage Schlag auf Schlag gegan­gen: der dreiste Raubüberfall der von vier maskierten Männern auf die Gäste eines Tanzlokals verübt wurde, das Attentat auf den Minister vom Auswärtigen Amt, der Mord, den ein Unbekannter an dem Juwelier Take beging, der sensationelle Raub dreier Leichen aus der Morgue, das Rätselhafteste, was London bisher erlebt hatte, und gestern, sozusagen als Abschluss der aufsehenerregenden Ereignisse, die bei der Bank von England aufgedeckten Wechselfälschungen. Scotland Yard hatte wahrhaftig nichts zu lachen.

Tag und Nacht rasselten die Telefone, scharrten die Morseapparate. Auf den endlosen Gängen war ein ewiges Kommen und Gehen. Zehn Kommandos der uniformierten Polizei befanden sich in ständiger Alarmbereitschaft, und die Dienstzimmer der In­spektoren wurden nicht leer von Besuchern, die ka­men, um ihre Aussagen zu machen.

Für jedes der so rasch aufeinandergefolgten Verbrechen war ein besonderes Dezernat eingerichtet worden. Tim Groß spürte den Brandstiftern nach, deren Bubenhänden das erst neu erbaute, riesige Warenhaus am Strand zum Opfer gefallen war. John Rockes von der politischen Abteilung fahndete mit seinen Beamten nach dem Attentäter, auf dessen Konto der Anschlag auf den Minister zu setzen war. Inspektor Bird jagte hinter dem Mörder des Juwe­liers her. Jonas Brent verfolgte die Spuren der Tanz­saalbanditen und Eric Tyst bemühte sich, das Dun­kel zu lichten, das über dem rätselhaften Leichenraub lag.

Damit hatte Scotland Yard seine tüchtigsten Männer herangezogen, sodass es mit dem Teufel zugehen musste, wenn es nicht binnen kurzer Zeit gelang, die verschiedenen Täter zur Strecke zu brin­gen. Wirklich verfolgte auch jeder schon bestimmte Spuren.

Nur Eric Tyst raufte sich verzweifelt das Haar. Der dreifache Leichenraub war nach wie vor in tiefstes Dunkel gehüllt. Nicht, dass Tyst, einer der jüngsten Polizeiinspektoren, seine Pflicht verab­säumt hätte oder der Lösung eines schwierigen Fal­les nicht gewachsen gewesen wäre. Nein, ihn traf keine Schuld. Er tat sein Möglichstes und gönnte sich kaum ein paar Stunden Schlaf. Trotzdem schei­terten aber alle seine Bemühungen an der Tatsache, dass die geheimnisvollen Täter nicht die geringste Spur hinterlassen hatten. Und doch war es just die­ser Fall, mit dem sich die Öffentlichkeit am meisten beschäftigte. Die Zeitungen standen voll davon und gaben in ihren mit sensationellen Schlagzeilen ge­spickten Spalten den tollsten Vermutungen Raum. Bilder von der Morgue, aus dem die drei Toten ge­raubt worden waren, illustrierten die ausführlichen Berichte auf das Wirksamste und sorgten dafür, dass täglich Tausende vor dem Schauhaus erschienen, um die Stätte, an der so Grausiges geschehen war, mit eigenen Augen zu betrachten. Rätselhaft wie die Tat an und für sich waren auch die Begleitumstände. Wer konnte ein Interesse daran haben, einen solchen Raub auszuführen? Ja, wenn es kostbare Brillanten, Perlen, Geldsummen oder andere Wertsachen gewe­sen wären! Aber Verstorbene? Was, um alles in der Welt, konnte die unbekannten Täter veranlasst ha­ben, drei tote Menschen zu entführen?

Es handelte sich in diesen um drei Personen, die im Leben niemals etwas miteinander gemein hatten, die sich niemals begegnet waren, und die ganz ver­schiedenen Gesellschaftsgruppen entstammten. Es waren die Männer. Der eine war etwas verwachsen. Er war auf einem Fahrrad die Tower Street hinabge­fahren, gestürzt und unter einen Autobus geraten, unter dem er nur als Toter hervorgezogen werden konnte. Da er keinerlei Personalausweis bei sich trug, wusste man nicht, um wen es sich handelte, und brachte ihn darum zur Morgue. Der Zweite hatte sich im Hydepark durch einen Schuss ins Herz das Leben genommen. Man fand bei ihm Papiere, die ihn als einen nach London zugereisten französischen Kauf­mann ausweisen. Man benachrichtigte daraufhin das französische Konsulat. Da aber einige Tage verge­hen konnten, bis aus Frankreich positive Nachrich­ten einliefen, brachte man auch diesen Mann ins Schauhaus. Der Dritte war tot aus der Themse gezogen worden. Der Befund ließ auf ein Verbrechen schließen, das hier begangen worden war. So hatte man auch diesen bis auf Weiteres der Morgue zugeführt.

Und nun waren mitten in der Nacht unbekannte Männer erschienen und hatten diese drei Toten ent­führt. Wahrhaftig, nichts konnte rätselhafter und ge­heimnisvoller sein als diese unbegreifliche Tat. In­spektor Tyst ließ alle seine kriminalistischen Künste spielen. Umsonst. Er kam um keinen Schritt der Lö­sung dieses Mysteriums näher. Das Wenige, das festzustellen ihm gelungen war, genügte nicht, auch nur den kleinsten Schluss zu ziehen.

Die Täter mussten über die Räumlichkeiten der Morgue gut unterrichtet gewesen sein, und ebenso genau gewusst haben, wann der Wächter vorbeikam, um die Kontrolluhr zu stechen. Dieser Mann hatte bei seinem Rundgang um zehn Uhr alles in Ordnung gefunden. Genau eine Stunde stellte er zu seinem Entsetzen fest, dass ein Fenster im Hochparterre weit offen stand. Die Gitterstäbe waren durchfeilt. Auf seinem Alarm hin war sofort das ganze Haus um­stellt worden, doch führte die Maßnahme zu keinerlei Resultat. Die Täter waren verschwunden – und jene drei Tote mit ihnen. Tyst zweifelte nicht daran, dass man die Entführten mittels eines Kraftwagens fort­geschafft hatte. Die Täter hatten sogar – Tyst stellte es am Asphalt fest, der deutlich frische Benzin- und Ölspuren aufwies – die Kühnheit besessen, den Kraftwagen direkt vor dem zerschnittenen Fenster halten zu lassen. Allen Anschein nach hatte der ganzen Vorgang kaum eine halbe Stunde in Anspruch genommen.

Der Inspektor war der Verzweiflung nahe. Diese verdammte Geschichte konnte ihm seine Karriere kosten! Nicht nur seine Vorgesetzte, nein, ganz London, ganz England erwarteten von ihm die Lö­sung des Sensationsfalles. Versagte er, dann … Tyst biss die Zähne zusammen. In wahrer Wut warf er sich wieder und immer wieder in den Strudel seiner Kombinationen, jagte zwanzig Spuren zu gleicher Zeit nach, um dann doch zu erkennen, dass hier alles umsonst war. In seiner Verzweiflung war er schon entschlossen, die Nachforschungen einzustellen und den Fall einem anderen zu überlassen. Da fiel ihm ein Mann ein, der schon Tausenden geholfen hatte! Sherlock Holmes! Wenn ein Mensch je dieses Rät­sel um die Toten lösen konnte, so war es nur dieser Mann, dessen ruhmbedeckter Name seit Jahren von Erdteil zu Erdteil flog! Tyst atmete tief und schwer. Nein, hier gab es kein Zögern mehr!

Er griff zur Mütze und stürmte auf die Straße, wo er die erstbeste Autotaxe anhielt.

»Zu Mr. Holmes. Baker Street!« rief er. Sekunden später jagte der Wagen seinem Ziel zu.

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