Archive

Nick Carter – Band 16 – Haken-Max – Kapitel 4

Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Haken-Max
Ein Detektivroman

Des Mordes angeklagt

All dies hatte der Meisterdetektiv gehört, ohne den Sinn der Worte begreifen zu können. Es lastete ein Bann auf ihm, der ihm die Glieder lähmte und ihn am Denken hinderte. Die Besinnung kehrte ihm erst wieder zurück, als er dicht neben sich eine raue, tiefe Männerstimme hörte, die ihn barsch anfuhr: »Was soll denn das heißen? Was hat sich hier zugetragen?«

Wie ein Trunkener stand Nick Carter auf und starrte einem Policeman in das Gesicht.

»Ihr habt wohl miteinander gerauft, eh?«, knurrte der Beamte.

»Er … er … ist tot«, kam es tonlos von den Lippen des Detektivs.

»Oho! Schöne Geschichten – ich denke wohl, Mann, Sie können über diesen Todesfall Auskunft geben?«, fuhr der Beamte fort, ihn beim Arme packend.

»Ja, ich habe mit angesehen, wie es sich zugetragen hat.«

»So! Nun, das ist immer etwas. Wer hat es denn ausgeführt?«

»Ich weiß es nicht.«

»Auch gut, wer ist denn das Opfer?«, forschte der Polizist weiter, indem er sich dem Toten zuwendete.

Nick gab keine Antwort. Mit trübem Blick starrte er auf die regungslose Gestalt und dann auf den dichten Kreis müßiger Gaffer.

»Gib Auskunft, Bursche!«, befahl der Policeman. »Was weißt du über die Tat?«

»Ich weiß nichts … nichts … nichts!«

»Weiß einer von euch etwas anzugeben?«, wendete sich der Policeman nun an die Zuschauer.

Einige von ihnen schüttelten die Köpfe und knurrten, sie wüssten von nichts, nur die Neugierde hätte sie hergetrieben. Doch einer, der etwas abseits stand, rief plötzlich: »Sie haben bereits den richtigen Mann beim Wickel!«

Dem Detektiv schien es, als komme ihm diese Stimme bekannt vor, und er wendete sich nach der Richtung, von welcher her sie erklungen war. Sofort glaubte er auch schon, den Mann zu kennen – es war Haken-Max, nur dass sein auffälliger Gesichtsvorsprung verschwunden war.

Der Polizist legte seine Hand auf des Detektivs Schulter.

»Dieser Mann ist es?«, erkundigte er sich dann.

»Er ist der Täter – ich habe es mit angesehen!«

Nun stutzte Nick Carter, denn er hatte die Empfindung, als ob er aus tiefem Schlaf erwachte. »Ich soll es sein?«, brachte er mühsam hervor. »Ihr wollt mich doch nicht beschuldigen, ich sei der Mörder?«

»Er hatte eine Eisenschleuder«, fuhr der Mann, welcher Haken-Max so ähnlich sah, fort.

»Das ist eine Lüge!«, rief der Detektiv zornig.

»Ich denke, wir können das Ding nahebei auffinden!«, meinte der Mann kaltblütig.

»Aber das ist ja geradezu unsinnig«, stieß der Detektiv hervor. »Ich soll diesen Mann getötet haben – diesen Mann hier, den ich … ich …« Er wollte mehr hinzusetzen, doch da erwachte auch schon der Detektiv in ihm wieder, und er begriff, dass er mit seinen Worten behutsam sein musste, denn sein jetziger Ankläger, so verdächtig er ihm auch erschien, war nichts weniger als überführt. Ja, auch der Verdacht gegen ihn schwebte noch haltlos in der Luft.

»Ach was«, rief da auch schon der Polizist barsch, »ich bin kein Untersuchungsrichter. Sagen Sie dem Sergeanten in der Station, was Sie auf dem Herzen haben!«

»Aber dieser Mann spricht die Unwahrheit«, versetzte der Detektiv, auf seinen Ankläger deutend. »Gewiss, ich sah es gleichfalls mit an, wie ein Sandsack oder eine Eisenschleuder gebraucht wurde. Ich hörte einen dumpfen Krach, und dann taumelte der Unglückliche aus dem Häuserschatten – und hier brach er nieder.«

»Hier ist das Ding«, erklärte nun ein anderer Mann, der inzwischen eifrig den Rinnstein abgesucht hatte.

Damit händigte er dem Policeman einen langen Strumpf mit einem eisernen Plättbolzen darin aus. Der Sicherheitswächter nahm die Mordwaffe in Empfang, betrachtete sie prüfend und wendete sich dann an den Detektiv. Mit einer Geschicklichkeit, welche dieser innerlich selbst bewundern musste, legte er ihm eiserne Handschellen an.

»So, mein sauberer Vogel, nun wirst du dich nicht mehr rühren!«, versetzte der Beamte scharf, indem er sogleich seinen schrillen Notpfiff ertönen ließ, um Beistand herbeizurufen. »Wie heißt du, Bursche?«

Nick Carter begriff, dass er in seiner gegenwärtigen kritischen Lage nichts mehr sprechen durfte, wollte er nicht alles bisher Aufgebaute wieder niederreißen und vor allen Dingen seinen falschen Ankläger warnen. Mochte sein Schmerz um den vor seinen Augen ermordeten Chick auch noch ein solch überwältigender sein, er musste ihn unterdrücken und die ihm aufgedrungene unwürdige Rolle bis auf Weiteres fortsetzen.

»Ich will nichts sagen!«, stieß er deshalb kurz hervor.

»Auch recht«, bemerkte der Policeman trocken, »der Sergeant wird Ihnen die Lippen schon öffnen, Bursche – wie heißen Sie?«, wendete er sich an des Detektivs Ankläger. »Sie dürfen sich nicht entfernen, sondern müssen mit zur Station.«

»Schon recht, ich heiße Tom Blake. Ich gehe Ihnen nicht durch die Lappen, haben Sie nur keine Angst!«

»Wo wohnen Sie?«

»Ash Street Nummer 15.«

»Gut«, erklärte der Policeman, einen kurzen Eintrag in sein Notizbuch machend.

»Sie müssen auch mitgehen«, wendete er sich gleich darauf an den Mann, welcher die todbringende Waffe aufgelesen hatte.

Inzwischen hatten sich einige Polizisten, herbeigerufen durch das Notsignal, eingefunden, und nach kurzem Hin und Her wurden Nick Carter sowie die beiden Belastungszeugen unter dem üblichen Gefolge von Neugierigen zu dem unweit entfernt gelegenen Stationshaus geführt.

Einer der Schutzleute war als Wache bei der Leiche, bis diese durch eine benachrichtigte Ambulanz fortgeschafft werden konnte, zurückgeblieben.

Die Ehreneskorte wuchs lawinenartig an, und trotz der frühen Morgenstunde war sie hundertköpfig geworden, als endlich das Stationshaus erreicht war. In dichtem Schwarm drangen die Neugierigen mit in das Innere der Polizeistation und füllten den Platz vor dem trennenden Gitter, hinter welchem der diensthabende Sergeant in einsamer Majestät an seinem Pult thronte.

Wie der geneigte Leser bereits weiß, sah Nick Carter so zerlumpt und abgerissen aus, dass sie ihn umdrängenden anrüchigen Element gegen ihn als wahre Gentlemen erschienen. Es war dieselbe Kleidung, in welcher er sein Abenteuer mit der misshandelten Frau bestanden hatte. Doch sein Gesicht, sein Haar und Bart waren inzwischen vollständig anders geworden, denn nicht umsonst hatte Nick Carter große Sorgfalt darauf verwendet, sich Haken-Max gegenüber unkenntlich zu machen, falls der Zufall ihn mit diesem in der gleichen Nacht nochmals zusammentreffen lassen sollte. Nun wies er eine niedrige Verbrecherstirn auf, und das Haar war kurz geschoren, so dass es den Anschein hatte, als sei er erst ganz vor kurzem aus dem Zuchthause entlassen worden. Seine Nase war aufgestülpt, die Augen waren triefend und von buschigen Brauen überwuchert, und ein kurzer Stoppelbart vervollkommnete das abstoßende Äußere. Der Detektiv machte ganz den Eindruck, als ob er ein schweres Verbrechen um ein Butterbrot zu begehen imstande sei, und ein Blick auf den Mann, der sich Tom Blake nannte und welchen er für Haken-Max zu halten berechtigte Gründe hatte, belehrte ihn, dass dieser ihn nicht erkannte.

Blitzschnell schoss es dem Detektiv durch den Sinn, dass Haken-Max wahrscheinlich sogar der Mörder des unglücklichen Chick war. Er mochte diesen für den Detektiv selbst gehalten und darauf das Verbrechen ausgeführt haben.

Er hält mich augenscheinlich für einen gewöhnlichen Galgenvogel, der ihm gerade recht gekommen ist, um sein eigenes Verbrechen auf ihn abzuschieben – und ich werde gut daran tun, ihn bei diesem Glauben vorläufig zu lassen!, dachte der Meisterdetektiv, der inzwischen wieder seine volle Ruhe und Geistesgegenwart zurückgewonnen hatte.

Wollte er seinen unglücklichen Gehilfen rächen und den Auftrag erfüllen, der ihn nach Chicago geführt hatte, so musste er voll und ganz Herr über seine Gemütsbewegungen sein. Diese Vorstellung genügte, um Nick Carter wieder in den Besitz all seiner Fähigkeiten zu setzen und ihn innerlich und nach außen hin kalt, geistesgegenwärtig und beobachtend zu machen.

Inzwischen hatte der Policeman, der ihn verhaftet hatte, seinem vorgesetzten Sergeanten Bericht erstattet.

»Wie lautet Ihr Name?«, fragte nun der Sergeant den angeblichen Verbrecher.

»Ford«, antwortete Nick aufs Geratewohl.

»Vorname?«

»Lewis!«

»Wo wohnen Sie?«

»Bei Mutter Grün, wo der Mann mit der roten Nase geschlafen hat«, entgegnete der Detektiv, die Rolle eines ergriffenen Verbrechers meisterlich weiterspielend.

»Letzter ständiger Aufenthalt im Gefängnis, was?«, murmelte der Sergeant ironisch.

»Stimmt, Sergeant, doch ich war unschuldig!«

»Selbstverständlich – übrigens warne ich Sie und mache Sie darauf aufmerksam, dass jedes Ihrer Worte gegen Sie verwendet werden kann«, bemerkte der Sergeant in trockenem Geschäftstone. »Nun erzählen Sie mal, was Sie über die Angelegenheit wissen!«

»Ich bog gerade in die Straße ein«, berichtete der Detektiv in jenem unterwürfigen, weinerlichen Ton, wie ihn verstockte Verbrecher häufig vor Gericht anzuwenden pflegen, »da sah ich einen Mann, wie er gerade an einem erleuchteten Fenster vorüberschritt. Ich konnte sein Gesicht erkennen, und daher weiß ich, dass er der Mann war, der gleich darauf ermordet wurde. Eine Sekunde später taumelte er auf die Straße. Ich rannte zu seinem Beistand herbei. Dann wurde ich verhaftet. Das ist alles.«

»Wer war der Mann?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wie hieß der Mann?«, versuchte der Sergeant, ihm eine Falle zu stellen.

»Ich weiß es doch nicht!«, meinte Nick weinerlich.

»Ach was, gestehen Sie lieber alles offen ein! Wer war der Mann?«

Nick zuckte nur mit den Schultern und schwieg.

Dann nahm der Sergeant den Zeugen vor, der sich Tom Blake genannt hatte. Der Detektiv sah ihn sich scharf an, als jener nun näher in den Bereich der hellbrennenden Gasflammen treten musste. Es war Haken-Max, daran konnte kein Zweifel sein. Die Frau hatte recht mit ihrer Behauptung, der Verbrecher schminke seine operierte Nase. Dem scharfen Blick des Detektivs entging es nicht, dass eine höchst geschickt aufgelegte dünne Schminkschicht die Nasenfläche bedeckte, wahrscheinlich, um die noch nicht verheilten Operationsschnitte zu verbergen.

»Zwei Männer rannten die Straße hinauf«, erklärte Blake nun eifrig, nachdem er zuvor beteuert hatte, er sei gerade auf dem Nachhauseweg begriffen gewesen und zufällig zum Augenzeugen der Tat geworden. »Einer der Kerle schlug den anderen mit einem Strumpf, in den etwas Schweres hineingesteckt worden war, nieder. Der Gefangene warf dann den Strumpf fort und stand sekundenlang unschlüssig, ob er durchbrennen sollte oder nicht. Dann beugte er sich über den Niedergeschlagenen, um nachzusehen, wie schwer dieser verwundet war.«

»Durchsucht den Gefangenen!«, ordnete der Sergeant nun an.

Das war ein für den Detektiv verhängnisvoller Befehl. Was die Mordanklage selbst anbelangte, so würdigte er sie natürlich kaum eines Nachdenkens, denn sie wurde in dem Augenblick hinfällig, wo er sein Inkognito aufgab. Doch in seinen Kleidern, so zerlumpt sie nach außen hin auch aussahen, befanden sich Taschen, in welchen er all die Gegenstände verbarg, die er zu seinem Beruf brauchte, wie Perücken, Bärte, Schminken und Tinkturen.

Zum Unglück war der amtierende Sergeant dem Detektiv persönlich unbekannt, und da auf diesem die Blicke sämtlicher Zuschauer neugierig hafteten, so war es ihm einfach unmöglich, dem Beamten einen heimlichen Wink zu geben.

Zwei Polizisten hatten sich an Nick herangemacht, um dem Befehl des Sergeanten nachzukommen. Sie wollten ohne weiteres ihre Hände in den Taschen des Gefangenen versenken.

»Lasst nur, ich helfe euch«, erklärte Nick. »Ich bin kitzlig und lasse mich nicht gern anfassen!«

Damit nahm er langsam aus der Tasche eine dicke Rolle Banknoten und legte sie auf das Pult des Sergeanten. Dieser schaute ihn scharf an, sagte aber nichts.

Umso größer war das Aufsehen unter den Zuschauern, als sie die große Geldsumme gewahren mussten, welche der zerlumpte Gefangene mit sich trug. Ihr Besitz konnte nicht durch ehrliche Arbeit errungen sein, folglich hatten die Blauen einen duften Kunden erwischt.

Wieder hatte Nick Carter mit berechneter Langsamkeit in die Tasche gegriffen und beförderte nun aus dieser einen seiner schönen Revolver, welchen er neben die Rolle Banknoten auf das Pult legte. Er hatte eine Karte in der Hand, welche er gar zu gern dem Sergeanten in die Finger gespielt hätte. Doch dies war unmöglich, denn der Beamte saß um mindestens vier Fuß zurück.

Doch Nick Carters Glück verließ ihn auch in diesem kritischen Augenblick nicht. Schwere Tritte wurden laut; ein Mann trat an das Gitter heran und näherte sich dem Pult. Es war der Kapitän des betreffenden Polizeibezirks; wenige Minuten zuvor hatte er von einem Policeman gehört, dass ein Mann, in welchem man Nick Carter vermutete, getötet und sein Mörder zum Revier geschafft worden sei.

Die Blicke aller Anwesenden richteten sich von dem Gefangenen auf dem Kapitän. Augenblicklich nahm der Detektiv seinen Vorteil wahr, gab dem Kapitän einen verstohlenen Wink und ließ zugleich die Ecke seiner in der Hand verborgenen Karte sehen. Dann nahm er langsam ein großes Bowiemesser aus der Tasche, ferner ein Bündel gewöhnlicher Schlüssel und legte beides gleichfalls auf dem Pult nieder.

»Das ist alles!«, versicherte er weinerlich.

Doch sofort begannen die beiden Polizisten, den Gefangenen zu betasten, und sie würden noch in derselben Minute Entdeckungen gemacht haben, welche für des Meisterdetektivs Werk verhängnisvoll gewesen sein würden, hätte sich der Kapitän nicht geistesgegenwärtig eingemischt.

»Führt den Mann in mein Zimmer und untersucht ihn dort!«, gebot er.

Durch die Menge wurde Nick zum Zimmer des Kapitäns geführt, und der Letztere folgte auf dem Fuße nach.

»Warten Sie eine Minute draußen!«, befahl er an der Schwelle seinem Untergebenen.

Dann verschloss er die Tür von innen und wendete sich an den Gefangenen.

»Wer zum Teufel sind Sie eigentlich?«

»Nick Carter«, entgegnete der Detektiv lakonisch, indem er seine Karte vorwies.

»Herr meines Lebens, ich denke, Sie sind ermordet worden!«, stammelte der Kapitän, vor Überraschung einen Schritt zurücktretend. »Mann Gottes, Sie müssen hundert Leben haben!«

»Es ist schlimm genug – die Schurken haben meinen Gehilfen Chick auf dem Gewissen!«, flüsterte der Detektiv mit zuckenden Lippen. »Wir müssen das Spiel weitertreiben, Kapitän. Lassen Sie mich immerhin von Ihren Leuten durchsuchen. Doch zuvor befehlen Sie Ihrem Sergeanten, den Mann in Zeugenhaft zu nehmen, der gegen mich als Ankläger auftrat – er nennt sich Tom Blake, ist in Wirklichkeit aber der berüchtigte Haken-Max aus New York. Doch verfahren Sie vorsichtig, denn er darf nicht erfahren, dass wir ihn kennen und noch weniger wittern, dass gegen ihn etwas im Gange ist!«

Sofort begab sich der Kapitän nach dem großen Dienstzimmer zurück und verständigte dort den Sergeanten.

»Treten Sie vor, Blake«, gebot der Letztere, seinen Blick über die Menge schweifen lassend.

Doch niemand rührte sich oder gab Antwort.

»Tom Blake, Sie sollen vortreten«, wiederholte der Sergeant ungeduldig mit erhöhter Stimme.

Doch von Neuem blieb alles still.

»Aber Sergeant, Sie müssen doch wissen, wo der Mensch steckt!«, rief der Kapitän beunruhigt.

»Ich kann ihn nicht sehen!«, erklärte der Sergeant kleinlaut. »Er muss entwichen sein, während Sie mit dem Gefangenen zu Ihrem Privatzimmer gingen!«

So verhielt es sich in der Tat. Niemand wusste, wo Tom Blake hingeraten war. Er blieb wie vom Erdboden verschwunden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert