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Carl Theodor Dreyer: Vampyr (1932)

Carl Theodor Dreyer: Vampyr (1932)

Im Schatten der frühen 1930er Jahre, als die Welt in ein neues Jahrzehnt aufbrach, entstand ein Meisterwerk des Kinos: Carl Theodor Dreyers makabrer, düsterer Liebesfilm Vampyr. Er erstrahlt in einem Glanz, der seine unvergängliche Bedeutung unterstreicht. Das halbstumme Werk, das eine unheimliche Atmosphäre und die gespenstische Qualität eines düsteren Traums verkörpert, lässt die Ereignisse in einer schlafwandlerischen, fast hypnotischen Abfolge ablaufen. Es ist, als ob die Handlung einem tiefen, geheimnisvollen Bann gehorcht, der die Grenzen zwischen Realität und Imagination verwischt.

Eine unausgesprochene Faszination geht vom frühen Kino aus, einem Medium, das seinerzeit die Vorstellungskraft der Zuschauer in ungeahnte Höhen trieb. Ein Flüstern durch die Zeit: »Ich sehe Tote«. Es ist der Anblick von längst Vergessenen oder Verstorbenen, die durch die flimmernden Bilder der Leinwand in ein untotes Dasein zurückgerufen werden. Eine zutiefst makabre und zugleich poetische Metapher, wie sie im Kontext von Vampyr kaum treffender sein könnte.

Inspiriert von Sheridans Le Fanu-Geschichten, die Bram Stokers Dracula vorwegnahmen, erzählt der Film die Geschichte einer Vampirin. Er wendet sich ab vom männlichen, satanischen Raubtier, das später zum Archetypus des Vampirgenres werden sollte. Diese weibliche Verkörperung des Bösen trägt zwar noch nicht die ikonischen verlängerten Eckzähne, aber Vampyr etabliert viele der grundlegenden Elemente, die das Genre prägen sollten: den tödlichen Pfahl durchs Herz, das ominöse, staubige Buch in geheimnisvollem Deutsch, das die Geheimnisse der Vampirbekämpfung offenbart. So öffnet der Film das Tor zu einer Welt zwischen Leben und Tod, einer Sphäre von surrealer und unwirklicher Natur.

In dieser seltsam verdrehten Geschichte folgt man Allan Gray, einem suchenden Visionär und Anhänger okkulter Lehren, dargestellt von dem französischen Dandy Baron Nicolas de Gunzburg, der den Film mit Dreyer koproduzierte und als Julian West auftritt. Gray quartiert sich in einem Gasthof im französischen Dorf Courtempierre ein, wo er von einem ruhelosen älteren Mann aufgesucht wird – eine Erscheinung, ein Traum, eine Halluzination. Die Tochter des Mannes wird von einer Vampirin und ihrem unheimlichen Gehilfen, dem Dorfarzt, heimgesucht.

Léone, die Tochter, gespielt von Sybille Schmitz, deren tragisches Schicksal später Fassbinders Veronika Voss inspirieren sollte, ist bereits gebissen, doch noch schwankt sie zwischen Leben und verdammter Untotenexistenz, gefangen in einem fiebrigen Dämmerzustand. Dreyers Kamera fängt ihr Gesicht in verstörender Totale ein: ein verzerrter Ausdruck doppelbödiger Ekstase, eine Mischung aus Angst und Hingabe, wie ein klinisches Porträt aus den Archiven der Freud’schen Psychoanalyse. Léone wird zur Verkörperung purer Emotion, zur schmerzhaft ehrlichen Darstellung von Schrecken und Sehnsucht, während Gray seinerseits Gespenster sieht – geisterhafte Soldaten, Symbole der Narben des Ersten Weltkriegs und Vorboten des Zweiten.

Eine der eindringlichsten Szenen entfaltet sich, als Gray eine außerkörperliche Erfahrung macht: Er sieht sich selbst als Untoten, gefangen in einem Sarg mit einem kleinen Fenster, durch das er hinaussehen kann – ein schauriges Detail, das sich unauslöschlich in sein Gedächtnis einbrennt. Aus der Perspektive dieses gläsernen Todesauges verfolgt der Betrachter, wie der Sarg zu seiner letzten Ruhestätte getragen wird. Vampyr stellt eine quälende Frage: Wie ist es, tot zu sein? Die Antwort ist ebenso beklemmend wie poetisch: Es ist nicht vom Leben zu unterscheiden.

Dieser Film, ein Werk der entrückten Kunst, entzieht sich jeder Kategorisierung – ein Traum, ein Alptraum, ein fragmentarisches Gedicht, das sich wie Nebel um den Geist des Zuschauers legt und ihn in eine tranceartige Versunkenheit versetzt, aus der es kein Entrinnen gibt.

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