Die Jesse James Storys – Band 1
W.B. Lawson
Die Jesse James Storys – Band 1
Jesse James, der Outlaw
Kapitel 1
Im Räubernest
Peng! Peng! Eine Kugel pfiff an meinem linken Ohr vorbei.
Peng! Ping! Plopp! Eine weitere Kugel pfiff an meinem rechten Ohr vorbei, schnitt eine Haarsträhne ab und bohrte sich in den Griff der schweren Peitsche, die ich gerade schwang.
»Verdammt! Hälst du jetzt an?«, rief eine Stimme hinter mir, der ich bisher keine Beachtung geschenkt hatte.
»Nun, ja, Fremder«, antwortete ich ruhig, zügelte mein Pferd und drehte mich um, »ich glaube, ich bleibe diesmal stehen, da du so hartnäckig darauf bestehst«.
Drei Reiter kamen auf mich zu. Sie sahen eher misstrauisch als wütend aus und waren gerade aus dem Tor eines einsamen Bauernhauses geritten, an dem ich wenige Minuten zuvor gemächlich, aber aufmerksam vorbeigegangen war.
Ich erkannte sie sofort, obwohl sie mich in meiner Verkleidung – halb Geistlicher, halb Bauer – zum Glück nicht erkannten. Es waren drei mutige Detektive aus Chicago, die sich als Pferdehändler verkleidet hatten – Hawes, Jewell und Whittaker. Sie waren auf der Suche nach Jesse und Frank James, den berüchtigten Zugräubern und Banditen, und hatten gerade Mrs. James’ Farm besucht, in der Hoffnung, die gefürchteten Gesetzlosen dort zu finden, ihr Vertrauen zu gewinnen und sie schließlich zu fassen. Zehntausend Dollar Belohnung standen auf dem Spiel. Ich, Jake Shackleford, verfolgte genau das gleiche Ziel. Allerdings arbeitete ich auf eigene Faust, bewunderte ihre Vorgehensweise nicht und wollte den gefährlichen Job auf meine Weise erledigen.
Das ist die ganze Situation.
»Wer und was bist du, alter Mann?«, fragte Hawes, während er, wie auch seine Begleiter, halb amüsiert mein seltsames Outfit betrachtete. »Und warum bist du nicht stehen geblieben, als wir dich zuerst gerufen haben?«
»Die letzte Frage zuerst. Ich habe nicht angehalten, weil ich weder ein Schwarzer noch ein Chinese bin, der sich von dir oder sonst jemandem herumkommandieren lässt«, antwortete ich mit rustikaler Empörung. »Und die erste Frage zuletzt. Ich bin ein Arzt aus Booneville auf Reisen. Und wer zum Teufel seid ihr? Ich werde das Gesetz von Missouri gegen euch in Anspruch nehmen.«
Die drei Detektive brachen in schallendes Gelächter aus.
»Weißt du, wer in dem Haus wohnt, das wir gerade verlassen haben?«, sagte Hawes, ohne auf meine Frage zu antworten.
»Nein, weiß ich nicht, und es ist mir auch egal«, fuhr ich verärgert fort.
Trotzdem warf ich einen verstohlenen Blick zurück zum Farmhaus und bemerkte, dass die Witwe James von der Veranda aus zusah. Es freute mich ungemein, dass sie unseren Streit auf der Straße mitbekommen hatte.
»Sei nicht böse«, sagte Hawes lachend. »Bist du auf dem Weg nach Independence? Wenn ja, könnten wir alle zusammen im Hotel zu Mittag essen.«
Ich tat so, als wäre ich widerwillig besänftigt, und wir vier kehrten dem Farmhaus den Rücken zu und ritten gemeinsam den wilden, felsigen Weg hinunter. Die drei Detektive unterhielten sich hauptsächlich über Pferde und Pferdehandel, während wir weiterritten. Ihr Ziel war es, sich in ihren fiktiven Rollen zu üben und sogar einen harmlosen alten Trottel wie mich zu täuschen.
Tatsächlich war das Prahlen mit den Kugeln, die sie abgefeuert hatten, Teil desselben Plans. Sie wollten um jeden Preis als Mörder und tapfere Missouri erscheinen. Aber ich wusste, dass sie wirklich tapfere Männer waren, jeder von ihnen ein ausgezeichneter Schütze, und alle wussten, dass sie bei dem verzweifelten Unterfangen, auf das sie sich eingelassen hatten, ihr Leben in den Händen hielten.
»Es tut mir leid, dass wir Jesse James noch nicht sehen konnten«, sagte Jewell. »Ich weiß, er könnte uns auf die Spur einiger guter Pferdegeschäfte bringen.«
»Vielleicht hatte unser Partner Langman mehr Glück bei der Suche nach den James-Jungs«, sagte Whittaker.
»Die Witwe war sehr verschlossen, was die Jungen betraf«, sagte Hawes und trieb sein Pferd an. »Das muss sie wohl auch sein, angesichts …«
Plötzlich hielt er inne, zügelte sein Pferd und wendete es halb.
»Heiliger Rauch!«, rief er völlig aus der Fassung. »Das sind Jesse und Frank James, direkt vor uns.«
Er hatte recht. Zwei Reiter, in einigem Abstand gefolgt von einem dritten, waren uns lautlos über den weichen, grasbewachsenen Boden neben dem felsigen Weg gefolgt und nun nur noch wenige Schritte von uns entfernt.
Der erstaunte Ausruf von Hawes verriet sofort den wahren Charakter von ihm und seinen Begleitern, denn sie hatten gerade der Witwe gegenüber behauptet, keine Ahnung zu haben, wie die James-Jungen aussahen.
»Hände hoch, verdammt noch mal!«, donnerte Jesse James mit einem schrecklichen Fluch und richtete seinen Revolver auf uns, als wir alle erschrocken stehen blieben.
Seine Kumpane taten es ihm gleich und winkten mich beiseite, als sei ich zu unbedeutend, um mich in den Kampf einzumischen.
»Hände hoch!«, wiederholte Frank James in ebenso unmissverständlichem Ton.
In plötzlicher Panik gehorchten Jewell und Whittaker sofort.
Doch Hawes war klar, dass das Spiel vorbei war, ob er sich nun ergab oder nicht. Er beschloss, einen harten Tod zu sterben, wenn er sterben musste.
»Nicht, wenn ich es weiß«, knurrte er, zog seinen Revolver und feuerte mit der Geschwindigkeit eines Gedankens.
Die Kugel durchschlug den Hals von James’ Komplizen, einem Zugräuber namens Curly Pitts, der daraufhin aus dem Sattel fiel und seine eigene Pistole in die Luft feuerte.
Im selben Augenblick fiel Hawes tot zu Boden, die Kugel von Jesse James im Herzen. Dann ging der wehrlose Whittaker zu Boden, von den gleichzeitigen Schüssen der Räuberbrüder durch und durch getroffen.
Jewell wandte plötzlich sein Pferd und rannte davon. Ich übernahm meine Rolle, so entsetzt ich auch war, und begann, meinen Revolver auf seine fliehende Gestalt zu leeren, während Frank James ihm in heißer Verfolgung folgte.
»Wer bist du?«, fragte Jesse James und sah mich mit einem sphinxhaften Blick an, der je nach Situation mörderisch oder freundlich sein konnte.
»Ich bin ein Arzt aus Booneville«, antwortete ich, »und wenn du der berüchtigte Jesse James bist, bringe ich dir eine Nachricht von einer sterbenden Frau – Blanche Bideau.«
Er zuckte zusammen und schien sich sogar unter der eisernen Maske seines verhärteten Gesichts zu verändern.
»Sterbend – Blanche Bideau!«, murmelte er. »Jedenfalls ist jetzt nicht die Zeit für Sentimentalitäten. Wenn du Arzt bist, kümmere dich um meinen Freund Curly da drüben. In der Zwischenzeit muss ich die Sachen dieser Kerle durchsuchen. Ich hatte sie die ganze Zeit im Verdacht, Detektive zu sein, während sie meiner Mutter etwas über Pferde erzählten, und der eine Ausruf von einem von ihnen vorhin war genug«.
Ich stieg sofort ab und begann, die Verletzungen des gefallenen Räubers zu untersuchen. Jesse James durchsuchte gleichzeitig die Leichen von Hawes und Whittaker, während ihm sein prächtiges Fuchspferd mit der Intelligenz eines Spaniels folgte.
Während wir so beschäftigt waren, kam Frank James zurück und fluchte bitterlich über Jewells Flucht.
»Schon gut, Frank«, beruhigte Jesse ihn. »Du hättest mich Dancer nach dem Kerl hier jagen lassen sollen, dann hätten wir die ganze Bande erwischt. Sieh nur! Was für ein hübsches Paar Pferdehändler!«
Er hielt ein paar Dokumente hoch, die er gerade den Leichen entwendet hatte.
»Korrespondenz mit unseren schlimmsten Feinden in Kansas City, bei Jupiter!«, rief Frank, nachdem er eines der Papiere an sich genommen und durchgesehen hatte. »Gott sei Dank haben wir alle fünf ausgelöscht, bis auf den einen Hund, der entkommen ist!«
»Wetten, dass wir es in einer Stunde geschafft haben?«, fragte Jesse und warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu. »Wie geht’s Curly?«, fügte er hinzu und drehte sich zu mir um. »Hallo, schon wieder auf den Beinen?«
»Warum, alter Freund, du bist ein Ass!«, meinte Frank, der mich loben wollte. »Ich dachte schon, Curly Pitts wäre erledigt!«
Inzwischen war es mir gelungen, Curly Pitts wiederzubeleben. Er war blass und kaum in der Lage zu sprechen, aber er stieg mit meiner Hilfe sogar wieder auf sein Pferd.
»Nein«, meinte ich, »die Kugel ging nur durch die Muskeln und das Fleisch am Hals. Ich habe die Blutung gestoppt, aber wenn die Wunde sofort richtig versorgt wird, wird er wieder gesund.
»Mutter wird sich darum kümmern«, sagte Jesse James und sprang in den Sattel. »Kommt, Jungs, wir können uns noch eine Stunde im Haus ausruhen, bevor wir wegen dieser Sache aufbrechen müssen. Doktor, Sie kommen mit uns.«
»Nichts würde ich lieber tun, Mr. James«, erwiderte ich ernst und schwang mich ebenfalls in den Sattel.
Die Art, wie ich Mr. James aussprach, brachte die beiden Brüder kurz zum Lachen.
So ritten wir den Weg hinauf, ließen die toten Männer liegen, wo sie gefallen waren, nahmen aber ihre Pferde mit.
Als wir die Veranda des einsamen Farmhauses erreichten, kamen zwei stumme Negerjungen aus der Richtung der Scheune. Sie nahmen uns die Pferde ab.
Dann erschien die Witwe James, eine große, männliche alte Frau mit einem Gesicht, das viel furchtlose Charakterstärke ausdrückte. Jesse nickte ihr bedeutungsvoll zu und bedeutete mir, ihm zu folgen. Während ich das tat, trug Frank James den verwundeten Pitts ins Haus.
Jesse James führte mich zu einer kleinen felsigen Ecke hinter der Scheune. Auf der einen Seite der wilde Wald, auf der anderen Seite die Scheune. So verlassen der Ort auch schien, bald wurde mir klar, dass an verschiedenen Stellen der Farm bewaffnete Männer ständig Wache hielten.
»Nun, Fremder, erzähl deine Geschichte«, forderte Jesse James und setzte sich auf einen Felsen. »Ich brauche dich nicht zu warnen, dass es besser für dich ist, die Wahrheit zu sagen.«
»Das weiß ich«, antwortete ich, setzte mich und betrachtete ihn insgeheim mit brennender Neugier. »Eine Spur von Unwahrheit würde eine Kugel in meinem Herzen bedeuten, also kannst du dich auf meine Genauigkeit verlassen.«
Er war ein Mann von beeindruckender Statur, mit einem kurz geschnittenen, rötlichen Bart, markanten, strengen Gesichtszügen und einem stahlblauen Blick, der ein drei Zoll dickes Brett zu durchdringen schien.
»Ich bin Arzt in Booneville, wo ich vor weniger als sechs Monaten von St. Louis hergezogen bin«, begann ich.
»Erst vor sechs Monaten?«
»Ja, lassen Sie mich fortfahren. Trotz meiner kurzen Praxis dort habe ich bereits das Vertrauen einiger der besten Familien gewonnen. Unter anderem das des Richters Rideau. Seine schöne Tochter, Miss Blanche, war meine Patientin. Ich wurde auch durch ihr Vertrauen geehrt. Kurz bevor sie starb…«
»Gestorben?«, rief der Gesetzlose beinahe aus und sprang mit einer schrecklichen Veränderung im Gesichtsausdruck auf. »Du hast vorhin nicht gesagt, sie sei tot. Du hast nur gesagt, dass sie stirbt. O Gott! Nimm dich in Acht, Fremder«, fügte er in plötzlichem Zorn hinzu. »Beweise, was du sagst, oder …«
Er zog einen seiner Revolver halb durch.
»Kurz bevor Blanche Rideau starb«, sagte ich unerschütterlich, »erzählte sie mir die Geschichte ihrer unglücklichen Liebe. Sie hat mich auch schwören lassen, dass ich dich, Jesse James, suchen werde, auch wenn es mich das Leben kostet, und dass ich dir das hier geben werde.«
Ich reichte ihm ein kleines Päckchen, das mit einem blauen Band verschnürt war.
Mit einem Stöhnen riss er es mir aus der Hand. Als er den Inhalt – offenbar vergilbte Briefe und andere Kleinigkeiten – öffnete, drehte er mir den Rücken zu. Ich hörte ihn schwer atmen und dann ein halb ersticktes Geräusch, als ob er das Paket küsste.
In diesem Augenblick hatte ich ihn in einer so ungünstigen Lage, wie sie wahrscheinlich noch nie ein Mensch vor dem gefürchteten Jesse James gehabt hatte. Ich hätte ihn leicht erschießen und die Welt von einem der erfolgreichsten, mörderischsten und verzweifeltsten Banditen befreien können, der die Seiten der amerikanischen Kriminalgeschichte erhellt hat. Aber ich war nie ein Mörder, auch nicht im Umgang mit Mördern. Außerdem war es mein Ziel, Mittel und Wege zu finden, ihn und seinen Bruder lebend zu fassen, und darauf setzte ich alles.
Als er sich mir wieder zuwandte, hatte er das Päckchen in seiner Brust verstaut und seine Selbstbeherrschung vollständig wiedererlangt.
»Fremder, gib mir deine Hand«, meinte er und streckte sie mir mit wahrer Offenheit entgegen.
Sofort legte ich meine Hand in seine breite, offene Handfläche – nicht ohne inneren Schauer – und er drückte sie fest.
»Hör mir ein paar Worte zu, Doktor«, sprach er. »Obwohl ich jetzt mit einer Frau verheiratet bin, die ich lieben gelernt habe, ist es kein Verrat an ihr, wenn ich diese Worte sage. Vor sechs Jahren waren Blanche Rideau und ich verlobt. Wir liebten uns leidenschaftlich. Wäre diese Liebe ungebrochen geblieben, würde die Welt heute einen reformierten Menschen sehen – vielleicht sogar einen nützlichen Bürger, anstatt der roten Geißel, die ich bin, überall verfolgt von den blutigen Spuren meiner Karriere. Sie wurde abgebrochen. Ich bin, was die Welt aus mir gemacht hat«.
»Es war gewiss nicht die Schuld des Richters Rideau«, meinte ich.
»Nein, es war die Schuld seines Bruders, Blanches Onkel – Henry Rideau – tausend Flüche auf seinen Kopf!«, knurrte der Gesetzlose zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Er war der Spielverderber! Er hat alles ruiniert, als er Blanche und ihrem alten Vater meine verfluchte Geschichte erzählte. Er ist jetzt ein reicher Bankpräsident irgendwo in Minnesota, aber ich werde es ihm heimzahlen – Fluch, Fluch, Fluch über ihn!«
Einen Moment lang war seine Leidenschaft unkontrollierbar. Als sie verflogen war, sagte er plötzlich mit verändertem Tonfall: »Lag dem Paket eine Nachricht bei, Doc?«
»Ja, sie hat mich gebeten, für deine Besserung zu sorgen, für deine Rückkehr auf den Pfad der Tugend, wenn das nicht jenseits des Möglichen liegt.«
Der Gesetzlose brach in schallendes Gelächter aus.
»Sieh mich an, Doktor!«, rief er und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, jede Hand auf den Griff eines Revolvers gelegt. »Hier stehe ich, Jesse James, der Gesetzlose! Die ganze Welt ist gegen mich, meine Hand ist gegen die ganze Welt als Vergeltung. Mögen sie mir ihre Detektive in Scharen hinterher schicken, wenn sie wollen. Ja, sie sollen Polizisten und sogar Regierungstruppen schicken, wenn sie wollen. Aber lasst sie mich fangen – lasst sie mich fangen, wenn sie es wagen!«
Seine Worte waren nicht verzweifelter und wilder als seine Art zu sprechen. Da ich selbst ein verkleideter Detektiv war, konnte ich ein inneres Schaudern nicht unterdrücken, aber ich bewahrte meine äußere Ruhe.
»Mit der Hälfte der Landbevölkerung als deine Wohltäter, Jess«, konstatierte ich, »hast du ziemlich gleiche Chancen.«
Er lachte kurz auf.
»Komm mit mir, Doktor«, sagte er. »Eigentlich kannst du im Moment nichts anderes tun. Es ist eine unserer Regeln, einen einmal aufgenommenen Neuankömmling nicht aus unserer Gesellschaft zu entlassen, bis wir absolut sicher sind, dass er guten Glaubens ist. Du sollst unsere Bande begleiten, solange wir in diesem Teil des Landes bleiben. Dann kannst du beurteilen, ob es eine Chance gibt, mich zu bekehren – selbst nach dem Sterbegebet der armen Blanche Rideau«.
Ich folgte ihm ins Haus. Als wir die große, altmodische Küche und das Esszimmer betraten, fanden wir ein reichhaltiges Mahl vor, bei dem die Witwe James und ihre beiden schwarzen Diener anwesend waren. Wir setzten uns zu Tisch mit Frank James, Curly Pitts und zwei anderen Männern, die mir Jesse James grob als Charley Miller und Hank Burke vorstellte.
Nach dem Abendessen zeigte mir Jesse in aller Eile das Haus, das mir sowohl über als auch unter der Erde wie eine grobe Festung vorkam.
»Wir wagen es nicht oft, uns hier aufzuhalten, aber wenn wir es tun, ist es gut, vorbereitet zu sein«, sagte er, als wir in den Hauptraum zurückkehrten. »Los, Jungs, auf geht’s! Draußen auf der Straße liegen zwei tote Männer, die uns Ärger machen könnten, wenn wir hier bleiben.«
Innerhalb weniger Minuten saßen wir alle sechs im Sattel und waren auf dem Weg, Frank und Jesse küssten ihre Mutter, bevor sie aufstiegen.
Wir fuhren nicht gleich wieder auf die Straße, sondern erreichten einen breiten Waldweg hinter dem Bauernhof und ritten bald frei durch den Wald. Es war Herbst und das Wetter war schön.
Nach etwa einer Stunde näherten wir uns einer Hauptstraße, und hier hielten wir auf ein Zeichen von Jesse hin an einer schönen kleinen Lichtung, durch die sich ein klarer Bach schlängelte. Kein Wort wurde gesprochen, während wir warteten. Es war leicht zu erkennen, dass Jesse James der natürliche Anführer der wilden Truppe war, dem der größte Gehorsam entgegengebracht wurde.
Plötzlich ertönte ein Pfiff aus der Ferne, aus dem Wald auf der anderen Seite der Straße. Jesse James antwortete. Dann erklangen drei Töne in schneller, scharfer Folge.
»Gut«, sprach Jesse mit grimmiger Miene. »Sie haben ihren Mann. Ich glaube, diese Detektive aus Chicago werden die James-Brüder in Zukunft meiden.«
Dann sahen wir zwei junge Männer auf uns zureiten. Sie sahen aus wie ungehobelte Bauernjungen, aber sie waren gut bewaffnet und beritten und hatten ein verwegenes Aussehen, dessen Bedeutung nicht zu übersehen war. Sie führten ein Pferd, auf dessen Rücken ein Mann mit einem Knebel im Mund saß, dessen Arme hinter dem Rücken gefesselt und dessen Fußgelenke unter dem Bauch des Tieres zusammengebunden waren.
Zu meinem heimlichen Entsetzen und Mitleid erkannte ich in diesem Mann Langman, den fünften Detektiv von Chicago, dessen Zusammenarbeit die armen Hawes und Whittaker nur wenige Minuten vor ihrer eigenen Ermordung erwähnt hatten. Natürlich wurde ich nicht erkannt, und natürlich hielt mich ein Gefühl der Selbsterhaltung jetzt sprachlos und regungslos.
»Hast du sie verfolgt, wie ich es dir befohlen habe, Cutts?«, fragte Jesse, als die Neuankömmlinge in unserer Mitte stehen blieben.
»Nicht den ganzen Weg nach Independence, aber das Lamm hier schon«, antwortete der Angesprochene und deutete auf seinen Begleiter.
Dieser, wie ich später erfuhr, wurde Larry das Lamm genannt.
»Ich habe ihn bis zum Telegrafenamt in der Stadt verfolgt, Jess«, erzählte dieser weiter. »Er hat zwei Depeschen nach Chicago geschickt, eine an den Namen, den du uns genannt hast. Eine Stunde später haben wir ihn vom Pferd gestoßen, und – nun, hier ist er, Jess!«
Auf ein Zeichen des Anführers stiegen Cutts und das Lamm ab. Sie schnitten die Fesseln an den Knöcheln des Gefangenen durch, zogen ihn vom Pferd und hatten ihn in wenigen Minuten aufrecht an einen Baum am Straßenrand gebunden.
In dieser Stellung blickte der Unglückliche mit weit aufgerissenen, verzweifelten Augen auf die ganze Gruppe, in deren hoffnungsloser Tiefe, ich bin froh sagen zu können, nicht ein Atom feiger Furcht zu sehen war.
Auf ein weiteres Zeichen des Anführers stellten sich die Reiter in einer Reihe vor dem künftigen Opfer auf, etwa zwanzig Schritt voneinander entfernt.
Auf ein weiteres Zeichen hin zog jeder Mann seinen Revolver, während ihre trainierten Pferde wie Statuen still standen.
»Knebel ihn, Cutts«, rief Jesse.
Dann, zu mir gewandt, fügte er hinzu:
»Du kannst dich zurückziehen und die Augen schließen, wenn du willst, Doktor. Das ist nicht deine Beerdigung.
Ich hatte mich bereits aus ihrer tödlichen, mörderischen Linie zurückgezogen, aber ich konnte meine Augen nicht schließen. Ich konnte der schrecklichen Tragödie, die sich ereignen würde, nicht einmal den Rücken zuwenden. Sie zog mich mit einer schrecklichen Faszination in ihren Bann.
»Hast du etwas zu sagen, Chicago?«, rief Jesse James, nachdem Cutts den Knebel entfernt und sich zurückgezogen hatte.
»Das würde mir nichts nützen in Gegenwart von Teufeln wie euch«, sagte Langman mit dem Mut der Verzweiflung. »Mein Blut sei auf euren Köpfen!«
Jesse lachte sein unbarmherziges Lachen.
»Eins!«, sprach er und schoss gleichzeitig durch den Körper des Opfers.
»Zwei!«, setzte Frank James, der Nächste zu seiner Linken fort, und der Pistolenknall ertönte mit der gleichen Präzision.
»Drei!«, rief der Nächste in der Reihe und feuerte seinen Schuss ab.
So zählten und schossen sie weiter, leerten Revolver um Revolver, bis, so unglaublich es auch klingen mag, hundert Schüsse in den wehrlosen Körper gedrungen waren und er als schlaffe, blutende Masse da hing, zur Ansicht für jeden entsetzten Wanderer, der zufällig die breite, sonnenbeschienene Straße entlang kam.
Dann begann die Bande eilig, ihre Revolver nachzuladen, mit Ausnahme von Jesse James, der ruhig begann, mit einem Bleistift etwas auf ein Stück Papier zu kritzeln. Er reichte es Cutts mit einer bedeutungsvollen Geste in Richtung des verstümmelten Körpers am Baum.
»Da drüben ist ein passendes Schild, Cutts«, murmelte er. »Beschrifte es, damit jeder weiß, was es bedeutet.«
Der Zettel, den der junge Desperado daraufhin auf die blutige Brust der Leiche klebte, war grob beschriftet:
DETEKTIVE SEIEN GEWARNT!
Die James-Brüder
Als das erledigt war, gab der Gesetzlose das Zeichen, und wir galoppierten so schnell wir konnten die Straße hinauf.
Das Land, durch das wir ritten, wurde immer wilder.
Als wir an eine Weggabelung kamen, teilte sich unsere Gruppe. Cutts und das Lamm ritten in die eine Richtung, Pitts, Miller und Burke in die andere, während ich allein Jesse und Frank James in die Tiefen eines dunklen Waldweges begleitete, der in eine wahre Wildnis zu führen schien.
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