Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 8 – 6. Kapitel
Aus den Geheimakten des Weltdetektivs
Band 8
Die Geliebte des Staatsanwalts
6. Kapitel
Liebe, Kampf und Rausch
»Ich hasse keinen Menschen mehr als den Spion und den Denunzianten!«, murmelte Ruth Likeness vor sich hin, als sie den Detektiv in den Gang zwischen ihres Oheims Haus und ihrer Villa eingesperrt hatte. Mit finsterer Miene verkettete sie die geheime Tür zum Gang, sodass es nicht möglich war, diese jenseits der Zimmerwand in Bewegung zu setzen, und eilte dann in das Badgemach. Hier öffnete sie einige Hähne, die die Leitungsflut in den Gang sprudeln ließ, um diesen unter Wasser zu setzen und jedes darin lebende Wesen zu ertränken.
»Das Geheimnis dieses Verbindungsweges darf von einem Menschenmund niemals verraten werden«, flüsterte die Lady mit flammenden Augen. »Verrat heißt Leben töten! Da ich mein Leben auf diese Weise nicht veräußern will, muss jeder Widersacher untergehen!«
Plötzlich horchte sie auf. Ein Wagen fuhr vor das Haus.
»Charles Whitely!«, rief Lady Ruth Likeness. Hastig drehte sie den Hahn der Leitung zu und begab sich in den Empfangssalon, auf dem Weg dorthin den Mantel abwerfend und ihre Kleidung sowie Frisur ordnend. Atemlos lauschte sie nach der Straße hin. Der Wagen rollte weiter. Es war noch nicht Whitely. Aber bald, bald musste er kommen.
»Ich will ihn in ein Zimmer führen, das für meine Zwecke das geeignetste ist«, sprach sie vor sich hin. »Beim Himmel – wen das Schicksal aus dem alltäglichen Geleise zerrt, wem es eine Schuld auf das Gewissen hetzt, der tut besser daran, sich ganz dem Dämon zu ergeben, denn grausam und unerbittlich ist die Welt gegen den, der eine Blöße gezeigt, unerbittlich gegen den, der einen Schritt vom Weg tat, und grausam gegen den, der eine Sünde auf sich lud!«
Der Blick der Lady fiel auf das lebensgroße Bild ihres verstorbenen Oheims. Das Auge gewöhnt sich an Dinge, die es täglich sieht, so sehr, dass der Blick förmlich empfindungslos darüber hinweggleitet und nur stutzen würde, wenn die Ordnung verändert ist oder ein Gegenstand in der Reihe fehlt. So hatte Ruth Likeness wohl Hunderte Male über dies Bild hinweggesehen und nur in vereinzelten Momenten es mit dem Blick der Seele gesucht. Dieser Blick belebte alsdann das Bild und in dem gemalten Antlitz wurden die Augen, die Züge lebendig.
Heute schaute sie mit Blicken des Hasses hin, es war ihr, als ob das zufriedene, eitle Lächeln in diesem Antlitz sie höhne. Es loderte düster in ihren Augen. Sie kreuzte die Arme über der Brust und schaute das Bild an, als fordere sie den Toten auf, herauszutreten aus dem Bild und ihr Rede zu stehen für dieses Lächeln.
»Du hast mich elend gemacht«, murmelte sie, »und dein Fluch, bevor du die Augen für immer schlossest, bleibt nach deinem Tod an mir haften, wenn es eine ewige Gerechtigkeit gibt, die den Menschen nicht nur nach seinen Taten richtet, sondern auch nach dem, was er gedacht und gewünscht und gewollt, herzlos und voller Hohn: Dann stehen wir einander noch einmal gegenüber. Doch jetzt will mein Auge dich nicht mehr sehen – dein Anblick soll mich nicht mehr foltern! Hinweg von der Wand, wie ich dich aus meinen Gedanken reiße – ich will dich nicht mehr sehen – ich will nicht!«
Sie hob die Hand und riss das Bild von der Wand. Mit lautem Gepolter fiel es zu Boden, und mit einem grässlichen Schrei fuhr Lady Likeness zurück.
In der Wand befand sich eine Vertiefung, und in dieser ruhte, in sitzender Stellung, ein fleischloses Skelett. Die hohlen Öffnungen der Augenvertiefungen des Schädels sahen auf die Niedergeschmetterte herab und die losen Zähne in den Kiefern grinsten ins Leere.
»Allmächtiger Himmel! Was bedeutet das?«, schrie Lady Likeness bei diesem Anblick auf und sank halb ohnmächtig in die Knie, während sie entsetzt auf das Skelett starrte. »Habe ich da das Geheimnis eines Mordes entdeckt?«
Schwankend erhob sie sich und schleppte sich in das anstoßende Gemach.
Hier warf sie sich auf eine Chaiselongue, und ein Strom von Tränen erleichterte die seelische Spannung. Die Entdeckung dieser hinter dem Bild versteckt gehaltenen Skeletts wirkte auf sie wie eine soeben ausgeführte Tat – ja, noch mehr, denn den Hahn der Leitung aufzudrehen, der das Wasser in den geheimnisvollen Gang ließ, um hier ein Menschenleben zu vernichten, hatte sie ohne Gewissensbisse nicht einen Augenblick gezögert. Die Wogen des Gefühls brachen den trotzigen Damm, mit dem die Entschlossenheit alle Bedenken zurückgedrängt hatte.
Aber nicht lange vermochte sie den Tränen freien Lauf zu lassen: Das erneute Geräusch eines sich nähernden Wagens schreckte sie auf. Das war der Staatsanwalt. Ohne jeden Zweifel.
Hastig erhob sich die Lady, trocknete die Tränen und verwischte deren Spuren.
Gleich darauf klopfte es an die Haustür. Mit einem erzwungenen Lächeln schritt Ruth Likeness hinaus und öffnete.
»Geliebte!«, rief ihr der Staatsanwalt mit glücklich strahlenden Augen entgegen und erfasste ihre Hand.
Die Lady schloss die Tür, verriegelte sie und führte den Gast in einen kleinen, lauschigen Salon, der für ein liebendes Paar zum verschwiegenen Rendezvous wie geschaffen war. Nur ein Fenster und einen Eingang barg das Gemach, und außer einem Ramm enthielt es nur wenige Möbel.
»Warum befahlst du mich hierher – in dieses Haus, Ruth?«, fragte der junge Mann.
»Weil … wahrhaftige Liebe verschwiegene Orte sucht und wir nirgends ungestörter eine Stunde verleben können als hier.« Und mit einem unerklärlichen Blick auf ihn, fügte sie hinzu: »Wir wollen ein Kohlenfeuer im Ramm anzünden – es soll uns wärmen.«
Er folgte ihrem Wunsch und half ihr, die Kohlen in Brand zu bringen. Bald war dieses geschehen. Dann holte Lady Likeness eine Flasche Wein aus einem Schränkchen und zwei Gläser, stellte sie auf den Tisch vor einem schwellenden Diwan und füllte, nachdem sie neben dem Staatsanwalt Platz genommen hatte, die Gläser bis zum Rand.
»Auf eine glückliche Zukunft!«, rief er ihr entgegen, sein Glas an das ihre stoßend.
Sie tranken und er zog sie in seine Arme.
»Ist hier der Ort, wo ich Klarheit über dich erlangen soll?«, fragte er, »dann sprich, Ruth – es soll kein trübes Wölkchen zwischen uns stehen, wenn wir dieses Zimmer verlassen haben.«
Die Lady sah gedankenvoll vor sich nieder. Ein bitterer Zug lagerte um ihre Mundwinkel. Und dann begann sie: »Ich will dir Klarheit verschaffen. Also höre. Man vermählte mich wider meinen Wunsch mit Lord Likeness. Ich achtete ihn als meinen Gatten und lebte das Jahr meiner Ehe, trotz unserer Altersunterschiede, schlicht und recht, wie man eine solche Ehe leben kann. Mir machten kein großes Haus, empfingen jedoch öfters Gäste, am häufigsten meinen Oheim Lord Dempson.
Eines Abends befanden wir uns allein in diesem Haus, in dem ich meinem Oheim einen Gegenbesuch gemacht hatte – meine Tante kränkelte und befand sich in der Behandlung eines Arztes – da gestand mir mein eigener Oheim eine unüberwindliche Neigung zu mir. Ich hielt die Sache für einen Scherz – wie ernst er es jedoch meinte, sollte ich bald genug erfahren.
Mein Gemahl hatte eine Schuld auf sich geladen, die er ohne fremde Hilfe nicht zu bezahlen vermochte. Er wandte sich an mich, mit der Bitte, meinen Oheim zur Deckung der Schuld überreden zu wollen.
Es war mir ein entsetzlicher Weg. Doch, um Schande und Spott zu ersparen, wie mir mein Mann sagte, raffte ich mich zu diesem Weg auf, und mein Oheim war bereit, uns zu helfen, wenn ich seine Neigung erwidern wollte, wenn nicht: drohte er uns neben Versagung seiner Hilfe auch Enterbung.
Ich verließ empört dieses Haus, teilte meinem Mann im ersten Stadium meiner Erregung das Ansinnen meines Oheims mit und fürchtete das Ärgste. Glücklicherweise wurde es verhindert durch den plötzlichen Tod meines Gatten an seinem Waffenschrank.
Ich glaubte, er war an diesen getreten, eine Waffe auszusuchen, um mit meinem Oheim einen scharfen Gang zu machen.«
»Und nun sprach man von einem Selbstmord deines Gatten?«, fragte Charles Whitely.
Die Lady nickte. »Am selben Tag, an dem er starb, war seine Schuld fällig. Das dürfte die bösen Zungen erklären. An dem Tod meines Mannes war jedoch niemand anders schuld als der ehemalige Besitzer dieses Hauses, mein Oheim, Lord Dempson. Hätte er nicht sein Ansinnen an mich gestellt, wäre mein Mann nicht an den Waffenschrank getreten, – das Unglück wäre niemals geschehen.«
»Bedauernswertes Lieb! Und der Tod deines Oheims?«
»Ist für alle Welt ein Rätsel geblieben. Lassen wir dieses Thema. Es ist so unerquicklich. Nimm mich in deine Arme – mir wird plötzlich so schwach, Charles«, bat Ruth.
Er umschlang sie und legte ihren Kopf an seine Brust. Minuten vergingen. Eine betäubende Luft umwehte die beiden, schwer und umnebelnd. Herrliche Bilder stiegen vor ihnen auf – Bilder aus Dunst und Nebel steigend – sie umschwelten ihre Sinne und trugen sie in das Land der Träume hinüber.
Der Dunst, den die rotglühenden Kohlen im Kamin verbreiteten, benahm ihnen das Denken. Der Tod des Erstickens nahte – starke Kohlengase schwebten durch den kleinen, verschwiegenen Salon.
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