Der Welt-Detektiv – Band 11 – 6. Kapitel
Der Welt-Detektiv Nr. 11
Johnson, der Boxerkönig
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin
6. Kapitel
Der Kampf in der Kaschemme
Dank dem ausführlichen telegrafischen Bericht, den Jonny Buston seinem Meister nach Newton gesandt hatte, wusste Sherlock Holmes, wo sich die Kaschemme befand, in der Dick Johnson, der Boxerkönig, die Nächte zu verbringen pflegte.
Es war ein übelberüchtigtes Lokal, dicht an der Themse, das als gefährliche Spelunke und Spielhölle verschrien war. Schon manchen schweren Jungen hatte der Weltdetektiv aus diesem Bau herausgeholt.
Wo aber mochte Jonny stecken? Sherlock Holmes hatte ihm depeschiert: »J. nicht aus den Augen lassen!« Pflichtgetreu, wie Jonny nun einmal war, konnte Sherlock Holmes so gut wie sicher damit rechnen, den braven Jungen irgendwo in der Nähe der Kaschemme anzutreffen. Flüchtig dachte der Weltdetektiv daran, die Verhaftung Johnsons auf morgen zu verschieben.
Aber bald kam er wieder von diesem Einfall ab. Es war nicht ausgeschlossen, dass sich die Verbrecherbande für diese Nacht verabredet hatte. Erschienen die Kumpane nicht, konnte Johnson misstrauisch werden und verschwinden. Dann konnte man unter Umständen wochenlang suchen, bis man Johnsons neues Versteck aufgespürt hatte. Nein, nein – noch heute musste der gefährliche Bursche hinter Schloss und Riegel gebracht werden! Nur von sechs uniformierten Policemen begleitet, auf deren Entschlossenheit und Mut sich Sherlock Holmes restlos verlassen konnte, trat er den Weg zur Kaschemme an. Nicht zu Fuß, sondern in einem Boot näherte man sich, die Themse aufwärts rudernd, dem Viertel, in dem sich die Verbrecherspielhölle befand.
Eine günstige Anlegestelle war in Gestalt eines direkt am Fluss liegenden unbewohnten Hauses, das abgebrannt war, ohne bisher von seinem Eigentümer neu aufgebaut zu werden, bald gefunden.
Auf leisen Sohlen schlichen die Männer unter des Weltdetektivs Führung bis zu der Gasse vor, die den Keller beherbergte, in der sich die Kaschemme seit vielen Jahren befand. Es fehlten nur noch wenige Minuten bis an drei Uhr morgens, aber in der Kneipe herrschte noch voller Betrieb. Gläsergeklirr und Johlen, dazwischen tiefe Männerstimmen und laute Rufe schollen verworren aus der Tiefe heraus.
Vergebens spähte Sherlock Holmes nach Jonny aus, aber seine Hoffnung, ihn irgendwo im Hinterhalt lauernd zu erblicken, erfüllte sich zu seinem Leidwesen nicht. Wo war er? Etwa gar in der Kaschemme selbst?
Sherlock Holmes kniff die Lippen zusammen. Teufel, ja! Jonny war es schon zuzutrauen, dass er sich, gut maskiert, allein in die Spelunke wagte, um so nah wie möglich bei Johnson zu sein! Traf diese Vermutung zu, besaß man ja sogar im Keller selbst einen ausgezeichneten Helfer! Nun, wie dem auch war, unbedingt galt es, Johnson aus der Kaschemme herauszuholen, wenn es auch als gewiss anzunehmen war, dass sich der Schurke zu dieser späten Nachtstunde noch in dem Lokal aufhielt, so wollte Sherlock Holmes doch sicher gehen.
Er flüsterte den Beamten einige Worte zu und huschte dann fort. Schon nach wenigen Minuten kehrte er mit zufriedener Miene zurück.
»Alles all right!«, flüsterte er. »Johnson ist unten. Man hört seine grölende Stimme ganz deutlich aus denen der anderen heraus.«
Viele Worte waren nicht nötig. Die Policemen machten nicht die erste gefährliche Razzia ihres Lebens mit. Sie wussten, wie man sich zu verhalten hat, wenn man zu solcher Nachtstunde in eine Spelunke eindringt.
»Man scheint jetzt keinen unerwünschten Besuch mehr zu erwarten«, flüsterte der Weltdetektiv, »denn ich habe nirgends auch nur die Spur von Aufpassern entdecken können.«
Dann gab er das Zeichen. Behutsam, Schritt für Schritt sorgsam abwägend und ohne das geringste Geräusch zu verursachen, trat die Truppe, Sherlock Holmes an der Spitze, den Rest des Weges an. Minuten später standen sie vor der ausgetretenen, steinernen Treppe, die in die Tiefe führte. Zum blauen Haifisch stand in verblassten Lettern über der niedrigen Kellertür.
Die Gaststube war nicht sonderlich gefüllt, doch machten die zehn bis zwölf Personen, die an zwei Tischen saßen und um hohe Summen Karten spielten, Lärm für vierundzwanzig. Verwegene Gestalten war es, die da auf harten Schemeln saßen und sich gegenseitig das Geld abnahmen. Der Whisky floss in Strömen.
Vater Pickard, der mit hochgekrempelten Ärmeln, den Zigarrenstummel schief im Mund, hinter der Theke stand, konnte mit dem Geschäft zufrieden sein. Einer der Lautesten war Johnson, der ehemals so gefeierte Boxerkönig. Sein rotgestreifter Sweater saß prall auf seinem massigen Körper, der noch heute auf außergewöhnliche Körperkräfte schließen ließ. Er schlug bei jedem Ausspielen lärmend auf den Tisch, brüllte und johlte dabei und warf mit dem Geld nur so um sich. Beträge spielten bei ihm scheinbar gar keine Rolle. Wahrscheinlich hatte sich das Verbrechen rentiert, das er im Auftrag der beiden Amerikaner an James P. Wellington begangen hatte!
Da wurde plötzlich das Spiel durch einen überraschenden Zwischenfall unterbrochen. Feste, schnelle Männerschritte schallten auf der Treppe. Die Tür wurde aufgerissen, Uniformen blitzten auf. Wie von einer Peitsche getroffen, sprang Johnson auf die Füße, starrte zum Eingang und maß die Eindringlinge aus glasigen Augen.
»Hände hoch, Johnson!« klang da auch schon Sherlock Holmes Stimme von der Tür her. Sieben Revolver richteten sich auf den gefährlichen Burschen.
Ein anderer hätte unter diesen Umständen nicht eher an Widerstand gedacht, nicht so Dick Johnson. Ein tierischer Schrei brach aus seinem Mund. Er packte den Schemel, auf dem er bisher gesessen hatte und stürzte damit auf die Beamten und Sherlock Holmes zu. In diesem Augenblick löste sich aus den Reihen der anderen eine schlanke Gestalt und sprang dem Herkules, gewandt wie eine Katze, auf den Rücken.
»Jonny!«, schrie Sherlock Holmes auf, in dem Burschen jäh seinen tollkühnen Famulus erkennend, der seinen Mut so weit getrieben hatte, dass er sich hier, glänzend maskiert, unter die Gäste des blauen Haufisches gemischt hatte!
Was dann geschah, war das Werk gezählter Augenblicke. Während sich die übrigen Anwesenden nicht von ihren Plätzen zu rühren wagten, versuchte Johnson brüllend, sich seines plötzlichen Angreifers zu erwehren, ihn abzuschütteln, was ihm aber nicht gelang. Ebenso wenig vermochte es aber Jonny, den Riesen durch fürchterliche und gut gezielte Faustschläge niederzustrecken. Es war, als besäße der Boxer einen Schädel aus Eisen, an dem jeder gegen ihn geführte Boxhieb abprallte, als sei nichts geschehen.
Auf ein Signal Sherlock Holmes’ hin stürzten sich daher noch vier der Policemen auf den Riesen, und erst ihren kräftigen Fäusten gelang es, Johnson zu Boden zu reißen. Aber noch im Fallen gab der gefährliche Bursche seinen Widerstand nicht auf. Viermal entlud sich sein Revolver, aber die Schüsse richteten keinen Schaden an: Sie führten in die Decke und Wände, wo sie stecken blieben.
Eine Stunde darauf befand sich auch Johnson, der Boxerkönig, hinter vergitterten Fenstern, so das Schicksal seiner Komplizen teilend. Ein Polizeitelegramm, das noch vorm Grauen des neuen Tages an Inspektor Bird in Newton abging und ihn zurückrief, verfehlte seine Wirkung auf den Empfänger nicht.
Bird bekam den dritten Tobsuchtsanfall innerhalb von vierundzwanzig Stunden und nannte Sherlock Holmes einen niederträchtigen Halunken. Und noch jemand erlebte eine Überraschung – und diese jemand war Harry Taxon, als er englischen Boden betrat.
Aus jeder Zeitungsspalte schrie ihm des Weltdetektivs neueste Tat entgegen: Johnson verhaftet! Johnson, der Boxerkönig als Räuber der Wellington’schen Konstruktionspläne! Johnson bereits in Scotland Yard! lauteten in großen Lettern die Zeitungsüberschriften.
Hals über Kopf jagte Harry Taxon zur Baker Street, wo ihn Sherlock Holmes mit ausgebreiteten Armen empfing. Und nun ging es ans Erzählen.
So erfuhr der Weltdetektiv auch, aus welchem Grund Harry jene mysteriöse Botschaft von Bord des Schiffes aus gefunkt hatte. Harry Taxon war nämlich in New York hinter ein Komplott berüchtigter Ingenieure gekommen, die nach England gereist waren, um die Wellington’sche Erfindung an sich zu bringen. Mit dem nächsten Schiff war Harry ihnen nachgereist, um unterwegs durch die Radiomeldung von dem an dem Erfinder verübten Verbrechen zu hören. Und da es für ihn als sicher feststand, dass nur die beiden Amerikaner die Täter sein konnten, hatte er jene Depesche an Sherlock Holmes aufgegeben. Drei Wochen blieb Harry Taxon in London.
Was er in dieser Zeit an Sherlock Holmes’ und Jonny Bustons Seite erlebte, wollen wir im nächsten Heft, das den Titel Das Grab im Moor führt, berichten.
Schreibe einen Kommentar