Der Welt-Detektiv – Band 11 – 5. Kapitel
Der Welt-Detektiv Nr. 11
Johnson, der Boxerkönig
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin
5. Kapitel
Eine seltsame Automobilfahrt
Nicht viel später verließen drei Männer das Hotel. Johnsons Komplize nahm wieder seinen Sitz am Steuer ein. die beiden anderen nahmen im Fond des Wagens Platz.
Überflüssig ist es wohl, zu sagen, dass auch der Weltdetektiv lautlos seinen Sitz am Gepäckhalter bezog.
»Fahrt zu, was das Zeug hält«, rief der eine der beiden Hotelgäste dem Mann am Steuer zu.
»Wir müssen in spätestens zwei Stunden in London sein!«, setzte der andere hinzu.
Der Motor sprang wieder an. Der Wagen raste fort. Sherlock Holmes nickte. Der Hausdiener hatte ihm recht berichtet. Es waren wirklich Amerikaner, die unter den Namen Hillis und Smith im Hotel gewohnt hatten. Er hörte es an dem Akzent, mit dem sie das Englische sprachen.
Anscheinend verfiel keiner auf den Gedanken, dass man nie verfolgen könnte, denn keiner von den drei blickte sich auch nur ein einziges Mal um. Da es sich in dem Fahrzeug um einen offenen Wagen handelte, konnte Sherlock Holmes, als er sich ein wenig höher aufrichtete, genau sehen, was die beiden Amerikaner trieben. Sie hatten auf dem Knien Pläne ausgebreitet, die sie mit der Taschenlampe beleuchteten. Es gehörte wenig Fantasie dazu, in diesen Plänen James P. Wellingtons Eigentum zu vermuten. Den Beweis für diese Annahme erhielt Sherlock Holmes, als er die beiden Männer mehrfach von »Raketenantrieb« und »Entwicklung einer Geschwindigkeit von 350 Kilometern in der Stunde« sprechen hörte.
Diese Erkenntnis bestätigte ihm, dass er auf der rechten Fährte war. Niemand anderes als diese beiden geheimnisvollen Amerikaner konnten die Auftraggeber sein! Es war also ein verteufelt guter Einfall gewesen, er ihn veranlasst hatte, den Giftbringer nicht auf der Stelle zu verhaften!
Sherlock Holmes ertrug die Marter dieser Fahrt mit stoischer Ruhe. Was kümmerten ihn die Schmerzen, die sein Körper durch die unglückliche Stellung, in der er sich befand, ertragen musste? Er vergaß sie über dem hohen Ziel, das ihm winkte! Inspektor Bird hockte nun wahrscheinlich im Polizeibüro von Newton und studierte die eingelaufenen Anzeigen, von denen keine Einzige zutraf. Donner und Doria! Er sollte Augen machen, wenn er erfuhr, dass in dieser Nacht geschehen war! Denn geschehen musste etwas, das stand für Sherlock Holmes fest.
Hundert Gedanken durchkreuzten sein Hirn. Kamen, wurden wieder verworfen. Hin und her gingen des kühnen Detektivs Erwägungen, bis plötzlich ein seltsames Feuer in seinen grauen Augen aufleuchtete …
Eine Stunde hing er schon an dem Wagen. Sein Kopf lag am Polster des Sitzes am Gepäckhalter. Als er sich wieder aufrichtete und in den Fond des Wagens spähte, sah er, dass die beiden Amerikaner die Pläne wieder fortgesteckt hatten. Billis schien zu schlafen. Sein Kopf lag am Polster des Sitzes. Smith dagegen war wach. Er war sichtlich nervös und seine Finger befanden sich in unermüdlicher Bewegung. Wahrscheinlich konnte er die Zeit nicht erwarten, bis die Lichter Londons vor ihm aufleuchteten. Bis dahin hatte man aber noch eine gute Stunde zu fahren.
Plötzlich sauste eine Faust auf seinen Schädel nieder. Einmal, zweimal. Er, der soeben noch an Londons Lichter gedacht, dachte plötzlich gar nichts mehr. Schwarz wurde es vor seinen Augen. Dann schwand ihm auch noch das letzte Fünkchen von Besinnung. Er kippte zur Seite und lag da wie ein tief Schlafender.
»All right«, sprach Sherlock Holmes und schob seinen Körper noch ein Stück höher. Dann hob sich wieder seine stahlharte Faust. Diesmal näherte sie sich Mr. Billis Kopf, schwebte wie ein Damoklesschwert über ihm und sauste dann blitzschnell und mit dem bloßen Auge kaum verfolgbar nieder.
Zu einem zweiten Schlag brauchte er sich gar nicht zu bemühen. Billis war aus seinem leichten Schlummer in einen etwas tieferen gefallen, ohne dass es ihm auch nur eine Sekunde lang zum Bewusstsein gekommen wäre. Zufrieden betrachtete Sherlock Holmes sein Werk. Dann aber verschwand er jäh hinter seinem Versteck, weil sich der Mann am Steuer zum Umdrehen anschickte. Anscheinend wollte er den Amerikanern etwas zurufen, als er sie aber beide fest schlafend sah, kehrte er sich wieder der Straße zu.
»All right!«, murmelte Sherlock Holmes ein zweites Mal.
Gewandt und ohne das geringste Geräusch zu verursachen, kletterte er in den Fond des Wagens. Das Klirren der Hand– und Fußschellen ging im Geknatter des Automobilmotors unter. Zuerst kam Smith an die Reihe. Dann folgte Billis. Da für drei die Sitze zu eng waren, ließ er Billis, nachdem er ihm einen Knebel in den Mund geschoben hatte, auf den Boden niedergleiten. Smith, den er ebenfalls knebelte, durfte sein Schlafplätzchen im rechten Ecksitz behalten. Um den Effekt zu erhöhen, nahm er seine Mütze ab und setzte sich den Hut Billis auf. Dann schlug er noch den Rockkragen hoch.
So, nun konnte sich der Mann vorn am Steuer ruhig umdrehen. Er würde kaum etwas Auffälliges bemerken. Wirklich wandte sich der Kerl nach einiger Zeit um. Er knurrte etwas Unverständliches, als er die beiden immer noch schlafen sah, und richtete dann den Blick wieder nach vorn.
Ja, es war wirklich alles in schönster Ordnung! Sherlock Holmes lachte lautlos vor sich hin. Wie schade, dass ihn der Inspektor in diesem Augenblick nicht sehen konnte! Plötzlich stand ein heller Schein am Himmel. Die Nähe der Millionenstadt machte sich bemerkbar.
Gemächlich zog Sherlock Holmes den siebenschüssigen Browning aus der Tasche und entsicherte ihn. Wenige Minuten später sauste der Wagen schon durch die westlichen Vororte. Ausgestorben lagen die Straßen in der Nacht, und nur hin und wieder durchbrach der helle Schein einer strahlenden Bogenlampe die bleierne Finsternis.
Der Mann am Steuer drückte das Tempo etwas herab. Es war nicht nötig, die Polizei wegen zu schnellen Fahrens auf den Hals zu bekommen. Plötzlich verspürte er etwas Kaltes im Nacken. Er machte eine unwillige Kopfbewegung, um das Etwas – der Kuckuck mochte wissen, was es war! – zu verscheuchen, abzuschütteln. Aber das Etwas wich nicht. Im Gegenteil, es presste sich nur noch fester gegen seinen Nacken. Und dann geschah etwas Unerwartetes.
Eine Stimme … eine fremde, völlig unbekannte Stimme, die weder Billis noch Smith gehörte, schallte dicht an seinem Ohr.
Und diese Stimme, die seltsam hart und metallisch klang, sagte drohend: »Rühren Sie sich nicht. Ich bin Sherlock Holmes. Wenn Sie auch nur Miene machen, sich mir zu widersetzen, drücke ich ab. Das Spiel ist aus, lieber Freund. Mr. Wellington wird das Gift nicht trinken, das Sie ihm vorhin ins Glas geschüttet haben, und Billis und Smith, ihre guten Freunde aus Amerika, werden die Pläne des Raketenautos nicht für sich ausnutzen! Und was Johnson anbelangt, so« … Das Auto beschrieb auf der Straße einen wilden Zickzackkurs.
Die Hände des tödlich entsetzen Schurken zitterten, und vor seinen Augen drehte sich die Straße im Kreis. Dann bekam er allerdings die Herrschaft über den Wagen zurück. Aber er wagte nicht, sich umzuwenden. Zwar war der Revolverlauf von seinem Nacken verschwunden, doch er fühlte instinktiv, dass die drohende Mündung nach wie vor auf ihn gerichtet war.
Und die Stimme hinter ihm führ fort: »Sie wären ein Esel, wenn Sie auch nur einen Augenblick den irrsinnigen Einfall haben sollten, mir zu entkommen. Hinter uns jagen die Policemen auf Motorrädern her. Wenn Sie nicht tun, was ich sage, wird Ihr Leichnam morgen verdammte Ähnlichkeit mit einem Teesieb aufweisen.«
Ein unartikulierter Schrei brach aus des Schurken Mund, aber die Drohung verfehlte ihre Wirkung nicht.
»Kennen Sie Scotland Yard?«, fragte Sherlock Holmes hinter ihm.
Der andere biss die Zähne zusammen voll Hass und Wut.
»Antwort!«
»Ja!«, knirschte der Mann am Steuer.
»All right«, meinte der Weltdetektiv. »Taxiere sogar, dass Sie Scotland Yard sehr gut kennen. Schön. Dorthin fahren Sie, verstanden?«
Wieder beschrieb der Wagen einige gefährliche Kurven.
»Lassen Sie diese Mätzchen!«, erklang da Sherlock Holmes’ Stimme scharf neben des Überrumpelten Ohr. »Sie nehmen jetzt den kürzesten Weg. Bei dem geringsten Umweg, den Sie zu nehmen versuchen, passiert etwas. Vorwärts!« Und so geschah es.
Der Widerstand des Burschen war restlos gebrochen. Alles war verloren. Alles. Und Sherlock Holmes hatte seine Hand im Spiel. Ein Narr, wer da nicht tat, was verlangt wurde …
Der Wagen raste förmlich durch die Stadt. Plötzlich sauste ein Motorrad nebenher. Ein Policeman der Verkehrspolizei saß darauf und brüllte etwas von »langsamer fahren!«
»Wir haben es eilig!«, schrie Sherlock Holmes zurück, dabei seine Erkennungsmarke schwingend. »Kommen Sie mit!«
Der Policeman stutzte. Dann schien er Sherlock Holmes zu erkennen. Das hatte zur Folge, dass er plötzlich die Situation verstand. Er lachte und winkte mit der Hand. Seitdem blieb er dicht neben dem Wagen, und erst, als das massige Gebäude Scotland Yards in Sicht kam, gab er Gas und jagte voran. So kann es, dass Sherlock Holmes das breite Tor schon geöffnet vorfand.
»Fahren Sie auf den Hof!«, schrie er dem Mann am Steuer zu, der zähneknirschend gehorchte und sich so höchstselbst samt seinen Freunden der Polizei überlieferte. Fünf Minuten gab es in Scotland Yard keinen Beamten, der nicht über den neuesten Husarenstreich des Weltdetektivs Mund und Nase aufgerissen hätte. Nun galt es noch, den Gefährlichsten der Bande zu verhaften. Johnson, den Boxerkönig! Das dieses Unternehmen keine Kleinigkeit war, sollte Sherlock Holmes noch in derselben Nacht erleben!
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