Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 8 – 5. Kapitel
Aus den Geheimakten des Weltdetektivs
Band 8
Die Geliebte des Staatsanwalts
5. Kapitel
Der geheimnisvolle Gang
Tiefes Dunkel hüllte den schmalen Gang ein, den Lady Likeness ohne Licht so sicher, als ob sie durch einen lange bekannten Raum schritt, folgte. Die dünnen Sohlen ihrer Stiefeletten dämpften ihre Schritte, niemand hätte leiser gehen können als sie. Um ihr Kleid hatte sie einen schwarzen Mantel gehüllt, sodass sie, falls durch Zufall ihr jemand mit Licht entgegengekommen wäre, dieser zwischen den dunklen Wänden des Ganges in der Entfernung nichts erkannt haben würde. Aber wer sollte diesen geheimnisvollen Gang kennen? Nichts war zu befürchten.
Hastig, fast übereilig, schritt sie vorwärts, ihrem Ziel entgegen, trotzdem der Gang mehrmals scharfe Wendungen machte. Wie vertraut musste der Lady dieser Weg sein, wenn sie bei ihrem raschen Vorwärtsschreiten fast niemals mit den kalten, schlüpfrigen Wänden in Berührung kam!
Ab und zu nur hielt sie inne, um zu lauschen. Da sich nichts Verdächtiges zeigte, schritt sie unbeirrt weiter. Nach einer Wanderung von etwa fünfzehn Minuten, kurz vor dem Ziel, glaubte sie ein Geräusch zu vernehmen. Es klang, als ob jemand über dem Gang eine Tür öffnete und damit ein nur schwaches, für die feinen Ohren der Lady dennoch vernehmbares Geräusch verursachte. Jetzt folgten auch vorsichtige Schritte.
Lady Likeness stand plötzlich wie gebannt. Es war jemand oberhalb der steilen Treppe, die vom Haus Lord Dempsons senkrecht in den Gang führte, in dem sie sich befand. Nun bemerkte sie auch einen Lichtschimmer. Obwohl anfangs wie gelähmt dastehend, ermannte sie sich doch schnell genug, um einen Entschluss fassen zu können. Wenn man sie inmitten des Ganges bemerkte, war sie verloren. Sollte sie zum Ausgang in ihrer Villa zurück?
Sekundenlang war sie im Zweifel. Derjenige, der diesen Gang, wie sie annahm, zufällig entdeckt hatte, würde schwerlich bis zu seinem Ende vordringen und geschah es, zweifellos nicht den Mechanismus entdecken, der ihm den Ausgang gestattete; denn der Mechanismus war nur einem mit ihm Bekannten auffindbar und verstellbar. Höchstens hätte der Zufall eine Entdeckung herbeiführen können. Darauf aber glaubte die Lady es ankommen lassen zu dürfen.
So kehrte sie nicht zurück, sondern schlüpfte in einen Winkel, der unterhalb der Treppe hinter dieser lag. In ihren schwarzen Mantel gehüllt, zusammengekauert, konnte sie so leicht nicht entdeckt werden. Wer jedoch der Eindringling war, das zu erfahren, schien ihr von größter Wichtigkeit.
Die Schritte des Fremden kamen langsam vorsichtig die Stufen herab. Der Lichtschein seiner Taschenlaterne wurde intensiver, doch fiel der Schein vor die Treppe den Gang hinunter. Der Lady klopfte das Herz so laut, dass sie fürchtete, der Näherkommende müsse es vernehmen. Sie presste die Hände fest auf die Brust und hielt den Atem an.
Dann warf sie einen Blick zu dem Träger der Laterne herauf – fast wäre ein Laut ihren Lippen entflohen: Es war Sherlock Holmes, der berühmte Detektiv.
Wenn er nun am Ende der Stufen den Winkel hinter der Treppe beleuchtete, ehe er weiterging, war sie verloren. Einen Augenblick schien es, als zögere der Detektiv und wolle sich zurückwenden – der Lady stockte der Pulsschlag – doch sofort löste sich die Spannung: Holmes schritt weiter den Gang hinunter.
Leise erhob sich Ruth Likeness, mit unhörbarem Schritt schlüpfte sie die Treppe hinauf und erreichte den Ausgang in das Schlafgemach ihres verstorbenen Oheims. Ohne Besinnen schob sie den Stuhl, der das Zuklappen der geheimnisvollen Wandtür verhinderte, beiseite, stellte den Mechanismus ab und ließ die Tür in ihren Angeln spielen.
Der Detektiv war im Gang gefangen: In das Hans des Lords konnte er nicht mehr zurück.
Mit finsterer Miene stand Holmes vor der Mauer, vergebens spähte er mithilfe seiner Taschenlaterne nach einer Feder, die den Mechanismus bewegen und ihm die Tür öffnen musste. Nicht der geringste Vorsprung, nicht das leiseste Zeichen deutete auf das Vorhandensein der geheimen Tür.
Der Ausgang war ihm verwehrt, er war in dem Gang eingeschlossen.
»Dass ich den Stuhl zwischen Tür und Schwelle setzte und nicht erst den Mechanismus prüfte, der die Tür von dieser Seite öffnete!«, murmelte Holmes in sich hinein. »Den Stuhl haben Menschenhände fortgerückt und wahrscheinlich auch die Feder, die den Ausgang öffnet, abgestellt. Wer kann das gewesen sein? Es befand sich doch niemand in dem verschlossenen Haus. Rätsel über Rätsel!« Er verfiel eine Zeitlang in tiefes Nachdenken. »Sollte Lady Likeness im Spiel sein und mich absichtlich in dieses Grab gelockt haben?«, zog er seine Schlüsse. »Dann ist sie schuldiger, als ich es vermutet hatte. Wie aber könnte die Lady in das verschlossene Haus gelangt sein? Etwa vor mir durch diesen Gang? Halt!«, rief er sich zu. »Dann hat dieser Gang einen zweiten Ausgang. Ich will ihn suchen. Hoffentlich bin ich bei dessen Auffinden glücklicher.«
Sofort lenkte er seine Schritte wieder die Treppe hinab. Mit dem Fuß prüfte er erst jede Stufe, ehe er die Last seines Körpers der Treppe abermals anvertraute. Er musste nun doppelt vorsichtig sein, denn er konnte nicht wissen, ob irgendwelche geheime Fallen hier oder da aufgestellt waren, die ihn gefährden konnten.
Er schloss die Taschenlaterne, als die Treppenstufen zu Ende waren, um sich nicht etwa ihm Entgegenkommenden zu verraten, und stand nun in nachtschwarzer Dunkelheit. Nichts regte sich, so aufmerksam er auch horchte.
Nach einer Weile zog er einen Revolver, spannte ihn und schritt langsam tappend vorwärts. Kein lebendes Wesen weilte in der Nähe. Nur wenige Schritte legte er in der Minute zurück. Aber mutig schob er sich weiter vor. Es müsste einen Ausweg aus diesem Grab geben.
Mitunter hielt Holmes inne, um zu lauschen. Doch nichts Verdächtiges regte sich. Mit der vorgestreckten Rechten tappte er sich dann weiter.
So mochte etwa eine Viertelstunde vergangen sein, als Holmes plötzlich stehen blieb. Er hatte einen Ton vernommen, der ihm das Blut in den Adern erstarren machte: das Rauschen einer Wassermasse, die sich den Gang herunter, ihn überholend, über den Boden wälzte. Seine Füße durchwateten einen schlammigen Brei.
Ein lähmender Schreck beherrschte die Glieder des Detektivs. Es wurde ihm klar, dass man den Gang unter Wasser setzen und ihn hier umkommen lassen wollte.
Einen anderen hätte diese Entdeckung in Verzweiflung gebracht. Nicht so Holmes. Entschlossen richtete er sich aus der ersten Überraschung auf, öffnete wieder seine Taschenlaterne und beleuchtete die Umgebung. Das Wasser stieg ziemlich schnell: Seine Füße standen bereits bis zu den Knöcheln in schmutziger Flüssigkeit.
Ohne Zögern ging er schneller vorwärts. Es befriedigte ihn, dass der Gang einige Windungen machte. Diese hinderten das Wasser an der schnellen Steigung. Er hörte es nun lauter rauschen und gurgeln. Unwillkürlich suchten seine Augen nach einem erhöhten Halt. Doch nichts war da, als die glatte, schlüpfrige Wand in über Manneshöhe.
Holmes musste damit rechnen, dass er das Licht des Tages nicht mehr wiedersah, dass er hier elendiglich umkommen, ertrinken müsse. Das Ende des Ganges vermochte er noch nicht abzumessen, und schon erreichte das Wasser seine Knie.
Sollte er einige Schüsse aus seinem Revolver abgeben, um vielleicht von irgendjemand, der ihm zu seiner Rettung behilflich sein konnte, gehört zu werden? Es würde schwerlich jemand in der Nähe sein oder ihn hören können. So verwarf er den Gedanken wieder und schob sich vorwärts durch das rapid höher steigende Wasser.
Die Gefahr wurde immer dringender. Fast atemlos gelangte er weiter. Da fühlte sein Fuß eine Stufe. Er hob die Laterne hoch und beleuchtete eine kurze Treppe, hastig klomm er sie hinan. Sein Fuß gewann trockenen Boden. Am Kopf der Treppe befand sich eine Mauer, die den Gang abschloss.
Kaltblütig beleuchtete Holmes die Mauer und suchte nach einer Tür. Konnte er eine solche nicht entdecken, war es mit ihm zu Ende. Er hörte das Plätschern des steigenden Wassers, das nun den Gang fast ganz ausfüllte und bereits die oberen Stufen der Treppe heraufschlich, wo er stand.
Mit übermenschlicher Ruhe glitt er mit der Rechten die Wand hinab, seitwärts nach einer verborgenen Feder suchend. Nirgends war ein Vorsprung. So kaltblütig er auch die kleinste, höchste und niedrigste Stelle betastete, es fand sich nichts, was ihm zum Entkommen aus diesem Gang verhalf.
Das Wasser, das bereits nahezu die Decke des Ganges berührte, stieg indessen nicht mehr höher – der Detektiv konnte es an den Stufen der Treppe bemerken, auf deren oberster er stand, wenn die Flut wieder fiel, blieb dem gefährdeten Mann ein Hoffnungsschimmer auf Rettung.
In den nächsten Minuten beobachtete er das Wasser; langsam sank es – es musste einen Abfluss gefunden haben. Mit Genugtuung bemerkte dieses Holmes. Aber damit war er noch nicht vor dem sicheren Verderben bewahrt, wenn es ihm nicht gelang, Mittel und Wege zu entdecken, dieses schaurige Grab zu verlassen, stand ihm der Tod des Verhungerns bevor.
Er überlegte, was er tun sollte, und setzte sich auf die oberste Stufe der Treppe. Abermals dachte er an die Abgabe einiger Schüsse aus seinem Revolver, doch wiederum verwarf er den Gedanken als zwecklos. Die Mauer, vor der er sich befand, war, selbst wenn sie eine geheime Tür enthielt, zu dick, als dass auch das lauteste Geräusch gehört werden konnte. Und drang wirklich ein dumpfer Knall an das Ohr eines zufällig hinter der Mauer Anwesenden, dann würde dieser, wenn er nicht gar ein Widersacher war und im Einverständnis mit der Person handelte, die den Gang unter Wasser gesetzt und seinen Tod beschlossen hatte, dem Gefangenen nicht zu Hilfe eilen können, weil er eine Tür weder vermutete noch sie zu öffnen verstand.
Eine Tür aber war vorhanden, wenn der Gang in die Villa Likeness und, was Sherlock Holmes zweifellos erschien, in den Salon endete, der das große Moorlandschaftsgemälde mit dem künstlichen Spinnennetz enthielt. War nun aber die Tür von innen zu öffnen, so lag auch vom Gang aus ein Mechanismus verborgen, der sie von dieser Seite erschloss – andernfalls hätte der Eingang seinen Absichten nicht entsprochen.
Es hieß also, diesen Mechanismus aufzufinden. Holmes erhob sich und ließ nochmals der Taschenlaterne Schein über die Wand gleiten. Aber soviel er auch suchte, er fand nicht die geringste Spur einer Feder oder eines Druckknopfes.
»Was nun beginnen?«, fragte er sich. Bedächtig stellte er die Laterne auf den Treppenabsatz. Dabei fiel ihr Schein in die unterste Wandecke auf eine kleine Fliege, die hier in vollkommener Ruhe verharrte. Schlief sie oder war sie tot? Oder …?
Sherlock Holmes bückte sich zu ihr hinunter und brachte die Hand in ihre Nähe. Das Tierchen rührte sich nicht. Nun griff der Detektiv zu. Die Fliege war wie die Spinnen in der Villa Likeness und im Hause des Lord Dempson aus Metall kunstvoll nachgeahmt.
Ein Druck und ein leises Geräusch wurde hörbar: Es war eine sich öffnende Tür, deren Rückseite das irische Moorlandschaftsbild der Villa Likeness trug. Im nächsten Augenblick befand sich der Detektiv gerettet hinter der Tür in dem ihm bekannten Salon, und ein triumphierendes Lächeln umspielte seinen Mund.
Der geheime Gang verband die Villa Likeness mit dem Haus des Lords Dempson. Durch diesen Gang war der Mörder Dempsons gegangen und der Mörder war …
Das festzustellen, nicht nur zu kombinieren, war nun des Detektivs nächste Aufgabe. Festen Schrittes durchmaß er den Salon und die nächsten Räume. Im Hausflur begegnete er einem Diener.
»Wo ist Lady Likeness?«, fragte er.
»Ausgegangen«, lautete die Antwort.
»Wohin wissen Sie nicht?«
Der Diener verneinte.
Holmes verließ die Villa. An der nächsten Straßenecke winkte er einen leeren Wagen heran.
»Carlystreet 24«, befahl er dem Kutscher. Es war das Haus des ermordeten Lords Dempson.
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