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Der Detektiv – Band 29 – Die Menam-Brüder – Kapitel 4

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 29
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die Menam-Brüder

Der Detektiv Kong-Penj

Ich schlief sehr bald ein. Dann merkte mich ein leises Geräusch, über dessen Ursprung ich nicht sofort klar werden konnte. Ich war sehr schnell völlig munter geworden. Die beiden kleinen Fenster gegenüber meinem Bett zeichneten sich mit ihren gelben Vorhängen als verschwommene Vierecke undeutlich in der mich umgebenden Finsternis ab. Ich sah, dass die Vorhänge sich bewegten, obwohl die Nacht völlig windstill war. Ich hatte das Empfinden, dass ein Fremder in unserer Kabine gewesen sein müsse. Es war das bei mir jenes unerklärliche Ahnungsvermögen, das sich mit der Zeit bei Leuten einstellt, deren Beruf stete Nervenanspannung, stete Wachsamkeit und stetes Auf dem Sprung sein verlangt.

Ich rief leise Harsts Namen. Keine Antwort. Mein Unbehagen steigerte sich schnell. Ich griff nach der auf dem Nachtschränkchen liegenden Taschenlampe. Meine Hand berührte etwas Kaltes, Feuchtes, fuhr zurück. Mein Herz begann zu jagen. Was nur konnte dieses Kalte, Feuchte sein – was nur?

Ich zwang mich dazu, abermals nach der Taschenlampe zu tasten. Jetzt fand ich sie ganz am Rande des Nachtschränkchens.

Der Lichtkegel flammte auf. Mein erster Blick galt der Platte des Nachtschränkchens – dem Kalten, Schlüpfrigen.

Es war einer der abgeschlagenen Kobraköpfe!

Dann der zweite Blick nach Harsts Bett hin.

Es war leer! Aber auch auf seinem Nachttisch lag eins der scheußlichen Reptilhäupter.

Ich erhob mich, kleidete mich schnell an. Da sah ich auf dem Tisch vor dem Rohrsofa, gegen den Fuß der Petroleumlampe gestützt, einen Brief liegen – der Umschlag Büttenpapier, Harsts Adresse darauf. Und die Schrift die der Malcapier, unserer Feindin!

Die erste Warnung, kein Zweifel!

Der Umschlag war nicht verschlossen. Ich zog den Briefbogen heraus. Da stand:

Harald Harst!
Ihre Antwort auf meinen Vorschlag genügt. Gut, es sei! Also Kampf zwischen uns! Der unterliegende Teil werden Sie sein! Noch eine Warnung, und dann hüten Sie sich.
Eugenie Malcapier.

Ich legte den Briefbogen hin. Meine Erregung ließ nach. Ich begann nachzudenken. Wie waren die Schlangenköpfe auf unsere Nachttische, wie der Brief hier in unser Zimmer geraten? Es musste jemand eingedrungen sein. Gewiss! Aber wie?

Die Tür war von innen verschlossen; der Schlüssel steckte, die beiden Fenster besaßen außen zierlich geschwungene Eisengitter, deren Stäbe recht eng standen. Ich schlug den Vorhang des linken Fensters zurück, bemerkte sofort, dass zwei Stäbe fehlten. Ah, also auf die Weise! Ich befühlte die Stellen, wo die Mittelstücke der Stäbe herausgetrennt waren. Die Schnittfläche war glatt, wie geschmolzen. Eine Stahlsäge hatte hier nicht gearbeitet. Sie hätte auch zu viel Geräusch gemacht. Also war ein Schmelzgebläse in Tätigkeit gewesen! Die Menam-Brüder schienen über alle modernen technischen Hilfsmittel zu verfügen.

Ich beugte mich durch das Loch im Gitter hinaus. Bis zum Wasserspiegel waren etwa sechs Meter. Ich sah nichts. Der breite Strom, die Nachbarschiffe – überall nächtliche Ruhe.

Dann sah ich wieder etwas Neues: Ganz unten wo das Gitter an die Holzwand des Deckaufbaus angeschraubt war, hatte Harst jene lange dünne Hanfleine festgeknotet, die wir in unseren Koffern stets mit uns führten. Die Leine hatte in Abständen von einem halben Meter eingeknüpfte Holzgriffe zur Erleichterung des Kletterns.

Während ich noch überlegte, ob ich Harst folgen sollte, während mir dabei der Gedanke durch den Kopf schoss, dass Harald nur schwimmend von hier aus die Schiffstreppe und die Boote dort hatte erreichen können, spannte sich die Leine mit leisem Knarren.

Harst kehrte zurück. Triefend von Wasser, nur bekleidet mit dem dünnen seidenen Schlafanzug, schwang er sich in die Kabine.

»Ah, du bist aufgestanden«, meinte er und warf sein offenes Jagdmesser auf den Tisch. »Du hast also schon gesehen, dass wir Besuch hatten. Ich erwartete diesen Besuch, hütete mich daher, einzuschlafen, ließ den dreisten Halunken jedoch ruhig die beiden Gitterstäbe wegschmelzen und die Schlangenköpfe hervorsuchen; ebenso wenig verhinderte ich seinen Abzug. Ich wollte wissen, wo er blieb. Deshalb schwamm ich hinter seinem Nachen her. Was meinst Du, wo landete der Kerl?«

»Hm – die Prau?«, meinte ich unsicher.

Harst erwiderte nichts. Er hatte den Briefbogen aufgenommen, überflog den Inhalt, zuckte die Achseln.

»Eugenie Malcapier – Du bist eine Närrin!«, sagte er nur.

Dann zog er den nassen Schlafanzug aus und trocknete sich ab.

»Zweimal begegnete ich einem Krokodil«, berichtete er gleichgültig. »Der einen Bestie entging ich nur durch Tauchen. Na, an den Messerschnitt im Bauch wird sie denken! Die Neger an den Küsten Venezuelas machen es genauso: Tauchen, gelangen unter das Krokodil und schlitzen ihm den Leib auf. Ich habe es heute zum ersten Mal versucht.«

»Du folgtest dem Halunken also bis zur Prau?«, fragte ich, um ihn zu einer Antwort zu zwingen.

»Prau? Mein Alter, da bist du auf falscher Fährte. Die Prau ist ein sehr offizielles schwimmendes Haus, gehört nämlich der Polizei, wie ich festgestellt habe.«

»Wie – der Polizei?! Weswegen haben wir denn heute Nacht gerade diese Prau beobachtet?«

»Ja, vielleicht war es überflüssig. Jetzt wollen wir aber wirklich zu Bett gehen. Schließe die Fenster bitte. Sicher ist sicher. Der Vormittag muss uns frisch finden. Ich werde die zweite Warnung nicht abwarten, sondern zugreifen, falls unsere vier Hilfskräfte, die Detektive, sich so bewährt haben, wie ich erwarte. Gute Nacht, mein Alter.«

Erst nachher erfuhr ich, was diese letzten Sätze Harsts als Nebenbedeutung noch enthielten. Der Schlaf floh mich. Harst atmete längst tief und ruhig, als auch ich in das Land der Träume endlich hinüberglitt.

Es war neun Uhr morgens, als das siamesische Stubenmädchen der Madame Pordepierre uns weckte und das Teebrett mit dem Frühstück hereinreichte. Harst zog die Vorhänge auf. Draußen strahlender Sonnenschein. Dann …

»Aha, doch bereits die zweite Warnung!«, rief Harald da.

Draußen an der einen Fensterscheibe klebte ein Brief, den Harst nun löste, öffnete, las und mir mit einem sonderbaren Lächeln reichte.

Harald Harst!
Die Frist ist um!
Eugenie Malcapier.

»Albern!«, meinte Harald und begann sich zu rasieren. »Sie liebt die Knalleffekte. Na, über den heutigen Knalleffekt wird sie weniger entzückt sein.«

Ich öffnete die Fenster. Das so anregend abwechslungsreiche Bild des Menam wirkte abermals so wunderbar schön! Wie anders hätte ich es noch genießen können, wenn nicht diese Eugenie Malcapier gewesen wäre!

Als wir dann beim Frühstück saßen, klopfte es. Es war einer der Detektive. Er trat etwas verlegen ein, grüßte durch viele Bücklinge und nahm dann auf Harsts Aufforderung hin Platz.

Harst reichte ihm die Zigarettenschale.

»Bitte, bedienen Sie sich«, meinte er liebenswürdig.

Mir fiel auf, dass er die Schale so hielt, dass der Beamte sich weit zu ihm hinüberbeugen musste.

Der Detektiv rieb ein Streichholz an und begann dann nach den ersten Zügen etwas unsicher: »Es tut mir leid, Master Harst, dass ich so schlechte Nachricht bringe. Die Flasche wurde von einem kleinen Motorboot aufgefischt, dem wir natürlich nicht folgen konnten.«

»Nein, das konnten Sie allerdings nicht«, meinte Harst. »Schade ist es ja, dass mein Plan auf diese Weise vereitelt wurde. Wir müssen dann etwas Neues ersinnen, um die Malcapier zu fangen.«

»Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte, Herr Harst«, meinte der Detektiv bescheiden.

»Bitte – nur zu!«

»Man müsste der Malcapier zum Schein eine sehr hohe Summe für die Edelsteine bieten, vielleicht durch eine Anzeige im REKORDER. Dann müsste man das Geld ihr aushändigen und sie dabei abfassen, festnehmen.«

»Ah, ein sehr guter Gedanke! Wie heißen Sie doch gleich?«

»Kong-Penj, Master Harst.«

»Ich werde sofort zu Ihrem Chef fahren, Kong-Penj, und mit ihm über diesen Vorschlag reden. Ich bin durchaus dafür. Vielleicht würde eine Million genügen.«

Der Detektiv freute sich offenbar sehr, dass er dem berühmten Harald Harst einen so guten Rat gegeben. Er verabschiedete sich bald und wurde von Harst höflich bis zur Schiffstreppe begleitet. Als Harald dann wieder unsere Kabine betrat, lag um seinen Mund sein so deutlich verächtliches Lächeln, dass ich erstaunt fragte: »Wem gilt denn diese Miene?«

»Eugenie und den Menam-Brüdern, mein Alter.« Er langte nach seinem goldenen Zigarettenetui, nahm eine seiner Mirakulum heraus, zündete sie langsam an und sagte nun, nachdem sein Gesicht einen zerstreut-versonnenen Ausdruck angenommen hatte:

»Dieser Kong-Penj ist hier etwa dasselbe, wie bei uns ein Kriminalkommissar. Aber ein halber Wilder ist er trotzdem geblieben. Sahst du, dass er sich weder das Gesicht noch die Hände ordentlich gewaschen hatte?«

»Allerdings. Er muss mit lila Farbe gearbeitet haben. Auch sein linker Handrücken zeigte Spuren von Lila.« Dann fiel mir ein, dass Harst dem Detektiv vorhin die Zigarettenschale so unbequem hingehalten hatte. Ich bat ihn also um Aufklärung, ob dies absichtlich geschehen.

»Derartiges hat bei mir stets seinen Zweck«, erwiderte er. »Du solltest mich in dieser Beziehung doch schon kennen. Machen wir uns jetzt aber zum Ausgehen fertig. Wir wollen Polizeichef Walker aufsuchen.«

Eine halbe Stunde später saßen wir dem glatt rasierten Amerikaner gegenüber, der seine schlechte Laune in keiner Weise zu verbergen versuchte.

»Verdammt, bester Harst!«, polterte er sofort los. »Denken Sie nur: Gestern Abend ist Lord Aldebary nebst Gattin unweit der Pagode Wat Tscheng überfallen und in einem Wagen entführt worden.«

Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Natürlich wieder diese Banditen, diese Menam-Brüder! Die Schufte werden mich noch um meine Stellung bringen! Himmel, was wird es jetzt für ein Geschrei in den Zeitungen geben, dass in Bangkok der mit dem englischen Königshaus verwandte Lord nebst Gattin auf offener Straße von diesen Halunken davongeschleppt worden ist! Ja – wenn ich noch irgendetwas versäumt hätte, diese Bande unschädlich zu machen! Aber was ich irgend tun konnte, ist geschehen; nichts ließ ich unversucht, herauszubekommen, wer diese Kerle sein mögen und wo sie ihren Schlupfwinkel haben!«

»Ich weiß das alles«, entgegnete Harst. »Im REKORDER vom März vorigen Jahres war schon gesagt, dass die Polizei eine fieberhafte Tätigkeit entwickelt hat, dass aber seltsamerweise jeder Versuch, den Leuten auf die Spur zu kommen, misslungen ist. Ich kann Sie nun heute trösten, Master Walker. Ich werde Ihnen die Menam-Brüder in die Hände spielen.«

»Ah! Wirklich?!« Walker war aufgesprungen. »Lieber Harst, der höchste siamesische Orden ist Ihnen sicher, wenn …«

Harst hatte kurz abgewinkt. »Erstens gebe ich auf eine derartige Frackzier nichts; zweitens liegen die Dinge hier so verzwickt, dass es besser ist, wenn die Menam-Brüder die Öffentlichkeit nicht zu sehr beschäftigen. Darf ich vielleicht um ein Stück Papier bitten? So, danke. Ich schreibe Ihnen einige Verhaltungsmaßregeln auf. Sollten wir heute bis 1 Uhr mittags nicht wieder hier bei Ihnen uns gemeldet haben, so entfalten Sie diesen Zettel, den ich versiegeln werde, und handeln Sie genauso wie ich es hier niedergeschrieben habe – genauso! Nicht eine winzige Kleinigkeit darf anders gemacht werden! Den Zettel verwahren Sie bis dahin gut und schweigen darüber! Auf Wiedersehen, falls nicht vor ein Uhr hier, dann nach ein Uhr anderswo im Hauptquartier der Menam-Brüder!«

Dann verließen wir Walker, nachdem Harst nur noch so nebenbei Kong-Penjs Vorschlag erwähnt und geäußert hatte, er würde darüber nachher noch genauer sprechen.

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