Archive

Adventskalender 2024 – 23. Türchen

Der unsichtbare Schäferjunge

Wo war es, wo war es nicht – es war einmal ein armer Mann, der hatte einen sehr frommen Sohn, der war Schafhirt. Eines Tages weidete er seine Schafe in einer sehr felsigen Gegend, und wie einer, dem heftige Wünsche die Brust sprengen wollen, stieß er tiefe Seufzer gegen den Himmel aus. Auf ein leises Geräusch sah er hinter sich, und der heilige Petrus trat ihm ent­gegen als ein alter grauer Mann.

»Was seuf­zest du so, mein Sohn?«, fragte er ihn, »und was wünschst du?«

»Nichts weiter,« antwortete der mit Ehrfurcht, »als einen Ranzen, der nie­mals voll wird, und einen Pelz, in dem man einen nicht sieht, wenn man sich hineinwickelt.«

Es geschah, wie er gewünscht hatte, und der graue Petrus verschwand. Nun ließ der Knabe sein Hirtenwesen liegen und machte sich auf in die Hauptstadt, wo er Aussicht hatte, sein Glück zu machen. Denn hier lebte ein König, der hatte zwölf Töchter, von denen elf alle Nacht mindestens sechs Paar Schuhe verbrauchten. Ihr Vater ärgerte sich sehr darüber, weil das einen guten Teil seiner Einkünfte verzehrte und weil man­cher darum nicht gut dachte von seinen Töchtern, aber doch konnte ihnen nie einer mit aller List auf die Spur kommen. Der König versprach zuletzt seine jüngste Tochter dem, der das Geheim­nis ans Tageslicht brächte.

Dies Versprechen lockte ungeheuer viele Freier in die Hauptstadt, welche aber von den Mädchen nur ausgelacht wurden, und beschämt wieder abzogen. Der Schäferjunge meldete sich auch im Ver­trauen auf seinen Pelz; und die Mädchen maßen ihn nicht wie sonst mit höhnischen Blicken. Die Nacht kam, und der Junge in seinen Pelz gewickelt, legte sich an die Stubentür, wo sie schliefen, und huschte unter sie, als sie schlafen gingen. Es war Mitternacht geworden, da kam ein Geist, ging bei ihnen herum und weckte sie. Nun war große Tätigkeit. Sie zogen sich an, putzten sich und stopften einen Reisesack voll Schuhe. Die Kleinste aber wusste von all diesem Getreibe nichts. Darum weckte der unsichtbare Schäferjunge unvermerkt auch diese, was die übrigen Schwestern mit Schrecken wahrnahmen. Da es aber nun ein­mal geschehen war, hielten sie es für das Beste, sie auch zu sich zu locken, wozu sich das Mädchen auch nach einigem Zögern verstand.

Als so alles fertig war, stellte der Geist ein Becken auf den Tisch. Jede bestrich daraus ihre Schultern und alsbald wuchsen ihnen Flügel. Der Schäferjunge tat desgleichen, und wie sie alle zum Fen­ster hinausflogen, flog er ihnen nach.

Nachdem sie einige Stunden geflogen waren, kamen sie in einen großen kupfernen Wald und darin an einen Brunnen mit kupferner Einfas­sung, auf der zwölf kupferne Becher standen. Hier erfrischten sie sich und die Mädchen tranken, aber die Jüngste, die die Reise zum ersten Mal mitmachte, sah sich immer ängstlich um. Auch der Jüngling trank, als sie sich wieder auf den Weg machten, und steckte einen Becher und etwas abgestreiftes Laub in seinen Ranzen. Da klirrte der Baum und zuletzt zog ein Klang durch den ganzen Wald. Das kleinste Mädchen bemerkte das und machte ihre Schwestern aufmerksam, dass jemand hinter ihnen herkäme, die aber hielten ihren Weg für so sicher, dass sie sie nur auslachten. Indessen flogen sie weiter und nicht lange, so kamen sie an einen silbernen Wald und darin an einen Brunnen mit silbernem Geländer. Auch hier tranken sie wie vorher, der Jüngling steckte wieder einen Becher und einen silbernen Zanken in sein Ränzchen, und bei dem Geräusch, dass das Zweigabbrechen hervorbrachte, machte die Kleinste wieder ihre Schwestern aufmerksam, aber wie das erste Mal auch diesmal, ohne dass es etwas half.

Nun ka­men sie auch aus diesem Wald heraus und ge­langten in einen goldenen Wald, wo ein Brun­nen mit Goldgeländer und Goldbechern war. Auch hier machten sie Halt, tranken, der Jüng­ling nahm einen Goldbecher und Zweig in seinem Ränzchen mit, und bei dem Knacken erinnerte die Kleinste wieder ihre Schwestern, ohne dass es half.

AIs sie aus dem Wald heraus waren, kamen sie an einen ungeheuren Felsberg, dessen moosige Gipfel mit entsetzlicher Steile gen Himmel rag­ten. Hier machten sie alle Halt, der Geist schlug mit einer goldenen Rute an den Felsen, worauf er aufsprang und alle durch die Öffnung hineingingen, aber auch der Jüngling mit ihnen.

Nun traten sie in ein prachtvolles Zimmer, wel­ches sich in einen Saal öffnete, der mit noch weit feenhafterem Glanz ausgeschmückt war. Von hier kamen ihnen zwölf wunderschöne Feenjünglinge entgegen. Die Dienerschaft vermehrte sich von Minute zu Minute und war eifrig beschäftigt, alles einzurichten, was zu einem prächtigen Ball gehört. Nun ertönte eine zauberhafte Musik, die Türen eines ungeheuer großen Tanzsaales öffne­ten sich und nun floss die rauschende Lust ohne Aufhören.

Gegen den Morgen machten sich die Mädchen (und der Schäferjunge war auch mit dabei) auf den Weg, den sie hergekommen waren, legten sich zu Hause hin und als wäre gar nichts vorgefallen – was aber die ganz zerlumpten Schuhe wider­legten – standen sie zur gewöhnlichen Zeit auf.

Der König wartete schon ungeduldig, was ihm der Schäferjunge für Nachricht bringen würde; und dieser erzählte ihm wenige Minuten darauf alles, was vorgefallen war. Die Mädchen wur­den gerufen und leugneten alles, aber die Becher und Baumzweige zeugten gegen sie, ebenso die kleinste Tochter, welche der Schäferknabe eben des­wegen geweckt hatte. Nun erfüllte der König sein Versprechen; die elf Mädchen aber wurden als Zauberinnen verbrannt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert