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Adventskalender 2024 – 20. Türchen

Die alte Straßenlaterne

Hast du je die Geschichte von der alten Straßenlaterne gehört? So außerordentlich amüsant ist sie zwar nicht, jedoch einmal lässt sie sich schon anhören.

Es war eine recht ehrliche, alte Laterne, die viele, viele Jahre hindurch ihren Dienst versehen hatte, nun aber in Ruhestand ver­setzt werden sollte. Zum letzten Mal steckte sie auf dem Pfahl und leuchtete durch die Straße. Es war ihr zumute, wie einer alten Ballett-Figurantin, die zum letzten Mal tanzt und morgen vergessen auf ihrer Bodenkammer sitzt. Die Laterne hatte sehr große Angst wegen des anderen Tages, denn sie wusste, dass sie zum ersten Mal auf dem Rathaus erscheinen und vom Bürgermeister und Rat besichtigt werden sollte, ob sie noch zu fernerem Dienst brauchbar sei oder nicht.

Da sollte nun beschlossen werden, ob sie künftig ihr Licht für die Bewohner einer der Vorstädte müsste leuchten lassen oder auf dem Land in irgendeiner Fabrik; vielleicht ging ihr Weg geradezu in eine Eisengießerei, um umgeschmolzen zu werden. In diesem Fall konnte alles aus ihr werden, aber der Gedanke, ob sie wohl dann die Erinnerung daran behalten würde, dass sie früher Straßenlaterne gewesen war, peinigte sie schrecklich. Wie es ihr auch gehen mochte: So viel ist gewiss, dass sie von dem Nachtwächter und seiner Frau getrennt würde, die sie ganz wie ihre Familie betrachtete. Als die Laterne zum ersten Mal aufgehängt wurde, war der Nachtwächter ein junger, rüstiger Mann; es geschah, als er eben zu derselben Stunde sein Amt antrat. Ja, das war frei­lich lange her, dass sie Laterne wurde und er Nachtwächter. Die Frau war damals ein wenig stolz. Nur wenn sie abends vorbeiging, würdigte sie die Laterne eines Blickes, am Tag nie. Nun aber, in den letzten Jahren, wo sie alle drei, der Wächter, die Frau und die Laterne, alt geworden waren, hatte die Frau sie auch gepflegt, geputzt und mit Öl versehen. Grundehrlich waren die beiden Eheleute; nie hatten sie die Lampe nur um einen Tropfen des ihr bestimmten Öles betrogen.

Es war der letzte Abend auf der Straße und morgen sollte sie aufs Rathaus: Das waren zwei finstere Gedanken! Kein Wunder, dass sie nicht schön brannte. Aber auch viele andere Gedanken durchkreuzten sie. Zu wie vielem hatte sie ihr Licht geliehen, wie vieles hatte sie gesehen, vielleicht ebenso viel wie Bürgermeister und Rat. Allein diese Gedanken ließ sie nicht laut werden, denn sie war eine gute, ehrliche alte Laterne, die niemandem etwas zu Leide tun mochte, am allerwenigsten der Obrigkeit. Gar vieles fiel ihr ein, und mitunter flackerte ihre Flamme auf. Sie hatte in solchen Augenblicken ein Gefühl, dass man sich auch ihrer erinnern würde. »Da war damals der junge, hübsche Mann – es ist lange her – der hatte ein Briefchen auf rosarotem Papier mit Goldrand. Es war so zierlich geschrieben, wie von einer Damenhand. Zweimal las er es und küsste es und blickte empor zu mir mit Augen, die deutlich aussprachen: »Ich bin der Glücklichste der Menschen!« Nur er und ich wussten, was in diesem ersten Brief seiner Geliebten geschrieben stand. Ja! auch noch eines Augenpaares erinnere ich mich. Es ist doch etwas Wunderbares um die Gedankensprünge! In der Straße war ein Leichenbegängnis; die junge, schöne Frau ruhte auf dem vornehm­sten Leichenwagen in dem mit Blumen und Kränzen bedeckten Sarg; die vielen Fackeln verdunkelten ganz mein Licht. Längs der Häuser standen die Menschen gedrängt; sie zogen alle dem Leichenzug nach. Als aber die Fackeln mir aus dem Gesicht wa­ren und ich umher blickte, stand eine einzige Person noch an meinen Pfahl gelehnt und weinte. Nie vergesse ich das trauernde Augen­paar, das zu mir aufblickte!« Diese und ähnliche Gedanken beschäftigten die alte Straßenlaterne, die heute zum letzten Mal leuchtete.

Die Schildwache, die von ihrem Posten abgelöst wird, kennt doch wenigstens ihren Nachfolger und darf ihm einige Worte zu­flüstern; die Laterne kannte den ihren nicht, und sie hätte ihm doch einige nützliche Winke in Bezug auf Regen und Nebel geben, ihn in Kenntnis setzen können, wie weit die Strahlen des Mondes das Trottoir berührten, von welcher Seite der Wind gewöhnlich blase usw.

Auf der Rinnsteinbrücke standen drei Personen, die sich der Laterne vorstellen wollten, weil sie glaubten, dass diese selbst das Amt zu vergeben habe. Die eine war ein Heringskopf, der im Finstern auch leuchten konnte. Er meinte, es sei eine große Ölersparnis, wenn er auf den Pfahl gesteckt würde. Nummer zwei war ein Stück faules Holz, welches auch schimmert. Es sei, meinte es, aus einem alten Stamm, einst der Zierde des Waldes entsprossen. Die dritte Person war ein Johanneswürmchen: Wo­her dies gekommen sei, begriff die Laterne nicht, da war es aber, und leuchten konnte es auch. Das faule Holz und der Heringskopf schwuren jedoch bei allem, was ihnen heilig war, dass es nur zu bestimmten Zeiten leuchte und daher durchaus nicht in Betracht kommen könne.

Die alte Laterne erklärte, dass keins von ihnen genügend leuchte, um den Posten einer Straßenlaterne zu bekleiden; das glaubte aber keins. Als sie daher hörten, dass die Laterne nicht selbst das Amt zu vergeben habe, meinten sie, dass dies sehr er­freulich sei; sie wäre auch viel zu hinfällig, um diese Wahl treffen zu können.

In demselben Augenblick kam der Wind von der Straßen­ecke daher gesaust und fuhr durch die Luftlöcher der alten Laterne.

»Was muss ich hören?«, fragte er. »Du willst morgen fort? Ich treffe dich heute zum letzten Mal? Da muss ich dir noch etwas zum Abschied bescheren! Ich blase jetzt so in deinen Hirn­kasten hinein, dass du künftig dich nicht allein alles Geschehenen und Gehörten wirst entsinnen können, sondern so hell soll es in deinem Inneren werden, dass du alles, wovon in deiner Gegen­wart gelesen oder erzählt wird, sehen kannst.«

»Ach! Das ist wahrlich viel, sehr viel!«, sagte die alte La­terne. »Ich danke Euch herzlich! Wenn ich nur nicht umgegossen werde!«

»Das geschieht so bald nicht!«, meinte der Wind. »Jetzt blase ich dir das Gedächtnis ein; wenn du mehrere derartige Geschenke erhältst, da kannst du immer noch deine alten Tage recht ver­gnüglich zubringen.«

»Wenn ich nur nicht umgegossen werde!«, sagte die Laterne. »Oder behalte ich für diesen Fall auch mein Gedächtnis?«

»Alte Laterne, sei vernünftig!«, sagte der Wind und blies.

In dem Augenblick trat der Mond durch die Wolken.

»Was schenken Sie der Laterne?«, fragte der Wind.

»Nichts gebe ich!«, antwortete er. »Ich bin ja im Abnehmen und die Laternen haben mir nie geleuchtet, wohl habe ich aber umgekehrt den Laternen geleuchtet.« Und mit diesen Worten ver­steckte der Mond sich wieder hinter den Wolken, um nicht ferneren Zumutungen ausgesetzt zu sein.

Nun fiel ein Tropfen auf die Laterne wie vom Dach herunter; der Tropfen aber erklärte, er käme aus den grauen Wolken und sei auch ein Geschenk, vielleicht sogar das allerbeste. »Ich durchdringe dich so, dass du die Fähigkeit erlangst, in einer Nacht, wenn du es wünschst, zu Rost zu werden und in Staub zusammenzufallen.«

Dies schien aber der Laterne ein schlechtes Geschenk zu sein; dem Wind ebenfalls. »Gibt niemand mehr? Gibt niemand mehr?«, blies er, so laut er nur konnte.

Da fiel eine leuchtende Sternschnuppe, einen langen hellen Streifen bildend.

»Was war das?«, rief der Heringskopf. »Fiel nicht ein Stern herunter? Ich glaube gar, er fuhr in die Laterne! Frei­lich, wenn solche hochstehende Personen sich um dieses Amt bewerben, da können wir gute Nacht sagen und uns nach Hause verfügen.«

Und das taten sie auch alle drei. Die alte Laterne verbrei­tete aber ein wunderbar starkes Licht. »Das war ein herrliches Geschenk!«, sagte sie. »Die klaren Sterne, über die ich stets meine größte Freude gehabt habe, und die so herrlich leuchten, wie ich nie habe leuchten können, obwohl mein ganzes Dichten und Trachten darauf gerichtet war, haben mich arme alte Laterne doch bemerkt und mir ein Geschenk gesandt, in der Fähigkeit bestehend, dass alles, dessen ich mich selbst entsinne und was ich so deutlich sehe, als ob es vor mir stände, auch von all denen gesehen werden kann, die ich liebe. Und hierin liegt erst das wahre Vergnügen; denn Freude, die man nicht mit anderen teilen kann, ist doch nur halbe Freude.«

»Das macht deiner Gesinnung alle Ehre!«, sagte der Wind. »Aber dazu sind Wachslichter nötig. Wenn diese nicht in dir an­gezündet sind, helfen deine seltenen Fähigkeiten den anderen nichts. Sieh! Daran haben die Sterne nicht gedacht; sie halten dich und jede andere Beleuchtung für Wachslichter. Doch, ich will mich legen!« Und er legte sich.

»Ja, du lieber Gott! Wachslichter!«, sagte die Laterne. »Die habe ich weder bisher gehabt noch werde ich sie wohl künftig bekommen! Wenn ich nur nicht umgegossen werde!«

Den nächsten Tag – ja, den nächsten Tag tun wir besser zu überspringen. Am nächsten Abend ruhte die Laterne in einem Großvaterstuhl. Und rate, wo? Bei dem alten Nachtwächter! Er hatte von Bürgermeister und Rat sich die Gnade ausgebeten, in Betracht seiner langen und treuen Dienste die alte Laterne be­halten zu dürfen, die er selbst an seinem ersten Amtstag, vor vierundzwanzig Jahren, zum ersten Mal aus- und angesteckt habe. Er betrachtete sie wie sein Kind, er hatte ja kein anderes; und die Laterne wurde ihm zugestanden.

Nun lag sie da im Großvaterstuhl, neben dem warmen Ofen. Es war ordentlich, als sei sie größer geworden, weil sie den Stuhl ganz allein einnahm.

Die alten Leute saßen bei ihrem Abendbrot und warfen freundliche Blicke auf die alte Laterne, der sie gern einen Platz am Tisch gegönnt hätten.

Sie bewohnten einen Keller, zwei Ellen tief in die Erde hinein; man musste durch einen gepflasterten Gang, um in die Stube zu gelangen; drinnen war es aber recht gemütlich und warm: An die Türe waren Tuchleisten genagelt, alles reinlich und nett, Vorhänge um die Bettstellen und vor den kleinen Fenstern. Auf dem Fensterbrett standen zwei kuriose Blumentöpfe, welche Matrose Christian mit aus Ost- oder Westindien gebracht hatte. Sie waren nur aus Ton und stellten zwei Elefanten dar; der Rücken fehlte; stattdessen blühte aus der Erde, womit sie gefüllt waren, bei dem einen der schönste Schnittlauch: das war der Küchengarten; bei dem anderen ein großer Geranienbusch: das war der Blumengarten. An der Wand hing ein großes koloriertes Bild: der Kongress zu Wien. Da hatten sie alle Könige und Kaiser auf einmal. Eine Wanduhr mit schweren Bleigewichten ging Tick! Tack!, und zwar ging sie immer vor; doch dies, meinten die alten Leute, sei doch weit besser, als wenn sie nachginge. Sie verzehrten ihr Abendbrot, und die Straßenlaterne lag, wie erwähnt, im Großvaterstuhl dicht neben dem Ofen. Es schien der Laterne, als sei die ganze Welt um und um gedreht. Als aber der alte Wächter sie anblickte und davon sprach, was sie alle beide zusammen erlebt hatten, im Regen und Nebel, in den hellen, kurzen Sommernächten, wie in den langen Winternächten bei Schnee­gestöber, wo man sich nach dem Kellerhals sehnte – da fand sich die alte Laterne wieder zurecht. Sie sah alles so deutlich, als geschähe es jetzt; ja, der Wind hatte ihr ein tüchtiges Licht aufgehen lassen.

Die alten Leute waren sehr tätig und fleißig; keine Stunde wurde in Müßiggang zugebracht. Sonntagnachmittags wurde irgendein Buch hervorgesucht, am liebsten eine Reisebeschreibung.

Und der alte Mann las vor: von Afrika, von den großen Wäldern, von den Elefanten, die wild herumlaufen; und die alte Frau horchte gespannt auf und blickte verstohlen nach den Tonelefanten, die als Blumentöpfe dienten.

»Ich kann mir es beinahe vorstellen!«, sagte sie. Und die Laterne wünschte so sehnlich, dass ein Wachslicht dagewesen und in ihr angebrannt worden wäre; dann hätte die alte Frau alles bis ins Kleinste genau sehen können, wie es die Laterne erblickte: die hohen Bäume, die dicht ineinander geflochtenen Zweige, die nackten schwarzen Menschen zu Pferde und ganze Scharen von Elefanten, die mit ihren plumpen, breiten Füßen Rohr und Gebüsch zer­traten.

»Was helfen nun alle meine Fähigkeiten, wenn ich kein Wachslicht finde!«, seufzte die Laterne. » Sie haben nur Öl und Talglicht, und das genügt nicht!«

Eines Tages gelangte ein ganzer Haufen Wachslichtstückchen hinunter in den Keller; die größten Stücke wurden verbrannt, die kleinen benutzte die alte Frau, um ihren Nähzwirn zu wichsen. Wachslichter waren also genug da, es fiel aber niemanden ein, ein kleines Stückchen in die Laterne zu stecken.

Da stehe ich nun mit meinen seltenen Fähigkeiten!, dachte die Laterne. Ich trage alles in mir und kann sie nicht daran teilnehmen lassen; sie wissen nicht, dass ich die weißen Wände in die prächtigsten Tapeten zu verwandeln vermag, in die schönsten Wälder, in alles, was sie sich nur wünschen können.« Die Laterne wurde nett gehalten und stand geputzt in einem Winkel, wo sie jedermann in die Augen fiel. Die Fremden fanden, dass sie ein großes Gerümpel sei: Daraus machten sich aber die alten Leute nichts; sie hatten die Laterne lieb.

Eines Tages – es war des alten Wächters Geburtstag – näherte sich die alte Frau, vor sich hin lächelnd, der Laterne und sagte: »Ich will heute meinem Alten zu Ehren illuminieren!« Und die Laterne knarrte mit den blechernen Beschlägen, denn sie dachte: Na! Endlich geht ihnen doch ein Licht auf! Es blieb aber bei Öl, und kein Wachslicht kam zum Vorschein. Sie brannte den ganzen Abend hindurch, sah aber nun zu gut ein, dass die Gabe der Sterne ein toter Schatz für dieses Leben bleiben würde.

Da hatte sie einen Traum – und bei ihren Fähigkeiten war es gerade keine Kunst, zu träumen! Es kam ihr vor, als ob die alten Leute gestorben wären und sie selbst in die Eisengießerei gekommen sei, um umgeschmolzen zu werden. Es wurde ihr dabei ebenso ängstlich zumute, als da sie aufs Rathaus musste, um vom Bürger­meister und Rat besichtigt zu werden. Aber obwohl ihr die Kraft geworden war, nach Belieben in Rost und Staub zusammenfallen zu können, tat sie es doch nicht. Sie wurde in den Schmelzofen gesteckt und in einen eisernen Leuchter verwandelt, so schön, wie ihn nur jemand wünschen konnte, um Wachslichter darauf zu stecken. Sie hatte die Form eines Engels bekommen, der ein großes Bouquet trägt; mitten in das Bouquet wurde das Wachs­licht gesteckt. Der Leuchter erhielt seinen Platz auf einem grünen Schreibtisch angewiesen; das Zimmer war so gemütlich: Es standen viele Bücher umher, die Wände waren mit herrlichen Bildern behängen; es war bei einem Dichter. Alles, was er dachte oder schrieb, zeigte sich rund umher. Die Natur verwandelte sich in dichte, finstere Wälder, in freundliche Wiesen, wo die Störche herumstolzierten, in das Schiffsdeck mitten auf der wogenden See, in den klaren Himmel mit all seinen Sternen.

»Was doch für Fähigkeiten in mir liegen!«, sagte die alte Laterne, indem sie erwachte. »Beinahe möchte ich wünschen, um­geschmolzen zu werden! Doch nein! Das darf nicht geschehen, solange die Alten leben! Sie lieben mich meiner Person wegen; sie haben mich geputzt und mir Öl gereicht. Ich habe es ja auch ebenso gut, wie der ganze Kongress, in dessen Betrachtung sie ebenfalls Vergnügen finden.«

Und seit dieser Zeit genoss sie mehr innere Ruhe, und das hatte die alte ehrliche Straßenlaterne auch verdient.

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