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Aus dem Reiche der Phantasie – Heft 1 – Der letzte Höhlenmensch – 4. Kapitel

Robert Kraft
Aus dem Reiche der Phantasie
Heft 1
Der letzte Höhlenmensch
Verlag H. G. Münchmeyer, Dresden, 1901

Über der Erde

Nach einer anstrengenden Ruderfahrt lenkte Karak am Nachmittag das Boot unter die überhängenden Zweige eines Busches am Ufer.

»Hier wollen wir aus dem Boot steigen«, sagte er, »denn die Farken legen, weil sie Überschwemmungen fürchten, ihre Dörfer nur abseits der Flüsse auf hochgelegenen Waldblößen an, und außerdem dürfen wir der Hunde wegen nicht die geringste Spur zurücklassen und müssen uns deshalb einen Weg über die Baumäste suchen.«

Karak befestigte darauf das Boot, band sich die Fleischreste auf die Schulter, steckte, während Richard sich mit Patronen versorgte, Axt und Messer in den Gürtel und schwang sich dann gewandt aus dem Boot an den Zweigen in die Höhe, um im Laubwerk zu verschwinden.

Trotz des ihn hindernden Gewehres wusste Richard als gewandter Turner es ihm nachzutun. Bald hatte er ihn erreicht und folgte ihm, auf den Ästen balancierend, und, wo ein Überhang fehlte, sich an Zweigen von einem Ast zum anderen schwingend, nach.

So langsam es auch ging und so beschwerlich der Weg auch war, hier oben musste es sich doch noch besser fortkommen lassen als auf dem Boden. Denn dort unten sah es fürchterlich aus, alles war ein undurchdringlicher Wirrwarr von Schlingpflanzen und Wurzelwerk, und wenn Richard einmal ein freier Blick auf eine ebene Stelle möglich wurde, so war es sicher ein Morast, in dem es von Schildkröten, Eidechsen und Schlangen aller Größen wimmelte. Schlangen waren überall, von Spannenlänge bis zur Größe von zehn Metern, aber keine von ihnen war ihm bekannt. Sie glichen mehr erdbraunen Würmern von Armes- und sogar Schenkeldicke und schienen auch kein Maul zu haben, sondern einen Rüssel, mit dem sie sich an den Bäumen festsaugten. Ein Glück nur, dass dieses Gewürm sich nicht auch auf den Bäumen …

»Karak! Zu Hilfe!«, schrie er da plötzlich, vor Entsetzen alle Vorsicht vergessend, laut auf.

Der Ast nämlich, an dem er sich soeben festhalten wollte, hatte sich blitzschnell um seinen Arm gerollt und ein zweiter löste sich gleichfalls von dem Baum und schlang sich um seinen Leib. Gleich darauf fühlte der entsetzte Knabe einen gewaltigen Druck und ein Saugen an seiner Brust.

Im Nu war Karak bei ihm und fuhr mit seinem Steinmesser zwischen den Leib des Knaben und den der Schlange. Sofort fiel ein Teil derselben herab, während der saugende Kopf noch besonders abgeschnitten werden musste.

»Diese Würmer sind ganz unschädlich, wenn man ein Messer hat«, beschwichtigte Karak den Erschrockenen. »Kann man sich nicht von ihnen befreien, dann saugen sie einem das Blut bis zum letzten Tropfen aus. Wehe aber dem, den der gepanzerte Wurm packt. Gegen den hilft auch das schärfste Messer nicht. Aber zum Glück ist er so groß, dass man geradezu blind sein müsste, um ihm nicht rechtzeitig ausweichen zu können.«

Durch Richards Kopf blitzte ein Strahl der Erkenntnis. Diese Schlangen oder Würmer waren nichts anderes als riesenhafte Blutegel. Er schüttelte sich vor Grauen.

Nach einer halben Stunde beschwerlicher Wanderung lichtete sich das Dunkel. Sie hatten den letzten Baum am Waldsaum erreicht, und jeder suchte sich den bequemsten und sichersten Ast aus, von dem aus er liegend alles übersehen konnte.

Nicht nur eine Waldblöße, sondern auch eine sehr große, von Bäumen befreite Fläche breitete sich vor ihnen aus. Sie war zum größten Teil als Kornfeld bestellt, stieg nach der Mitte zu auf, und auf der höchsten Stelle lag ein von Palisaden umgebenes Dorf aus Holzhütten, von denen aber auch einige größere, aus Backsteinen ausgeführte Gebäude, abstachen. Am Fuße des Hügels erglänzte der Spiegel eines Teiches, aus dem ein Pfahlbau hervorragte. Auf grünen Triften weideten Rinder und Schweine, auch schien für Ställe Sorge getragen zu sein.

Die Felder waren wohlbestellt, und überall, besonders aber nahe am Wald, erhoben sich auf ihnen Stangen, an denen teils kleine, klappernde Mühlen, teils lange Flügel aus feinem, buntem Gewebe befestigt waren, das sich beim geringsten Windhauch hob. Dies war wohl auch der allein mögliche Schutz der Felder gegen die Wiederkäuer des Waldes. Denn was konnte wohl solch ein Mammut abhalten? Doch nur die Furcht vor dem Unbekannten. Dennoch mochte es oft genug vorkommen, dass in einer windstillen Nacht ein einziges Mammut zum Nachtisch ein paar Äcker leer fraß.

Auf den Feldern wurde gearbeitet. Riesige Ochsen zogen eine Art von Pflug, dessen Bronzemesser, wenn sie sich aus dem Boden hoben, wie Gold glänzten. Nackte Menschen trieben sie an, nackte Arbeiter hockten auf dem Boden, und ab und zu befand sich ein in braunes Tuch gekleideter Mann darunter, der bei Gelegenheit mit einer langen Peitsche unbarmherzig auf die Nackten einschlug. Die Farken behandelten also ihre Sklaven schlecht, sie gönnten ihnen nicht einmal Kleider.

Sklaven und Treiber gehörten zwei ganz verschiedenen Rassen an. Die Ersteren waren schlank, sehr mager, aber sehnig, meist blond, und besaßen einen langen, schmalen Kopf, die Farken waren kurz und untersetzt. Ihr Kopf war schwarz und rund, und ihre Gesichtszüge erinnerten an die der Nomaden oder mehr noch an die der Sklaven. Außer dem dunkelbraunen Gewand trugen sie mit Riemen befestigte Sandalen, in den Ohren und ebenso an den Fingern, am Handgelenk und am Oberarm große Ringe aus goldglänzender Bronze. In dem Ledergürtel aber steckte ein langer Dolch mit zierlichem, auffallend kurzem Griff.

»Nun höre meinen ausführlichen Plan«, begann Karak, als sich die Arbeiter entfernt hatten. »Du siehst jetzt die Lage des Dorfes. Es bleibt beim Alten, ich erlege am Abend ein Wild, wir begeben uns ruhig an die Holzwand, wo du die auf der einen Seite während der Nacht freigelassenen, aber durch die Mauer doch eingeschlossenen Wölfe fütterst, und ich schleiche mich unterdessen auf der anderen Seite ein und befreie Maka. Gelingt es uns, die misstrauischen Hunde für längere Zeit ruhig zu halten, so haben wir es sehr leicht. Dann nimmst du Maka und eilst an diesen Baum zurück, den du dir merken musst, und ich füttere die Hunde weiter, bis ich euch in Sicherheit weiß. Auf diese Weise gewinne ich einen Vorsprung, dass sie mich nicht mehr einholen und unsere Spur nicht weiterverfolgen können. Schlagen sie aber vorzeitig Lärm, nachdem ich eben erst mit Maka das Dorf verlassen habe, so müssen wir uns trennen. In diesem Fall lenke ich die Wölfe auf mich, versuche mich ihrer zu erwehren und verlasse mich auf die Schnelligkeit meiner Füße, bis ich wiederum diesen Baum erreicht habe, wo ich in Sicherheit bin. Du dagegen nimmst dich meiner Tochter an. Siehst du dort den Teich mit dem Pfahlbau in der Mitte? Letztere sieht aus wie die Hütte eines Pfahlbewohners, aber er ist ein Heiligtum der Farken, in welchem sie die ausgetrockneten Leichen ihrer Häuptlinge aufbewahren. Dorthin fliehst du mit Maka, dort seid ihr sicher, denn niemand darf den Tempel betreten, als nur einmal im Jahr eine Priesterin, niemand denkt auch daran, euch dort zu suchen, denn man glaubt ja, ich allein hätte Maka befreit und die Flucht mit ihr sei mir geglückt. Ich kenne diese Wölfe, wenn ich sie einmal auf meine Spur gebracht habe, verfolgen sie keine andere mehr, und dann wird die eure auch von den herauskommenden Rundköpfen schnell zertreten werden. Dort bleibt ihr also den ganzen Tag, und morgen Nacht hole ich euch ab.«

Richard hatte gegen diesen Plan nichts einzuwenden, der erfahrene Karak musste ja die Verhältnisse am besten kennen.

Sie aßen nun die reichlichen Reste der gestrigen Abendmahlzeit, dann ging Karak davon, um sich noch mehr Pfeile anzufertigen, deren Schäfte er aus Zweigen schnitt, während er die steinernen Pfeilspitzen einem am Hals hängenden Beutelchen entnahm und sie in einen Spalt des Schaftes klemmte, den er mit Lederriemchen festband. Richard sah ihm zu, staunend über die wunderbare Geschicklichkeit des Höhlenmenschen, der zur Herstellung solch eines Pfeiles keine fünf Minuten brauchte. Dann beobachtete er wieder seine Umgebung.

Die Arbeiter verließen die Felder und zogen sich hinter die Palisaden zurück. Dann wurde das Vieh hineingetrieben, und mit Lanzen und Bogen bewaffnete Farken, die mit Jagdbeute beladen waren und von großen, genau wie Wölfe aussehenden Hunden begleitet wurden, kamen aus dem Wald und verschwanden ebenfalls hinter den Palisaden. Bei Anbruch der Dunkelheit aber wurde ein Tor geschlossen, und als die Nacht kam und die schmale Sichel des Mondes am Himmel erschien, deren Verschwinden Makas Tod auf dem Opferaltar der Götter bedeuten sollte, lag die Landschaft in friedlicher Stille da, bis die Tierstimmen des nächtlichen Waldes laut wurden, angstvoll und drohend, grunzend und knurrend, pfeifend, heulend, wiehernd, brüllend und donnernd.

Im Dorf selbst musste noch Leben sein, überall flackerten Lichtchen auf oder erglänzte es wie erleuchtete Fenster.

Richard bemerkte, wie der neben ihm liegende Karak leise nach dem Bogen griff und einen Pfeil darauf legte. Als er der Richtung des schussfertigen Geschosses folgte, gewahrte er unter sich ein großes vierfüßiges Tier, in dem er, als es noch einige Schritte machte und in den Mondschein trat, eine schlanke Gazelle von der Größe eines englischen Rennpferdes erkannte, die auf der Stirn nur ein einziges, langes gewundenes Horn trug. Es war das sagenhafte Einhorn. Den dünnen Hals weit vorgestreckt, äugte es begehrlich nach dem saftigen Grün der Felder, wie solches ihm seine Weidegründe im Wald nicht boten.

Die muskulöse Rechte des Höhlenmenschen zog die Sehne zurück, mit einem leisen Pfeifen schnellte der Pfeil vom Bogen, und auf der Stelle brach das riesige Tier zusammen, ohne noch einen Laut von sich zu geben oder noch einmal zu zucken. Richard war sprachlos vor Staunen. Der Pfeil hatte das Herz getroffen, war aber auch glatt durch den ganzen Riesenleib gegangen, eine Leistung, die kaum ein modernes Gewehr fertiggebracht hätte. Mit solch einem machtvollen Geschoss musste es den Höhlenmenschen eine Kleinigkeit sein, den fürchterlichsten Bären und Löwen zu erlegen, wenn sie nur wollten, wenn sie es nämlich nicht für Feigheit hielten und es nicht vorzogen, ihm nur mit dem Steinmesser gegenüberzutreten. Ja, Richard zweifelte nun nicht mehr, dass solch ein Pfeilschuss selbst die Haut eines Dickhäuters, die selbst der Spitzkugel trotzte, zu durchdringen vermochte.

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