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Der Welt-Detektiv – Band 11 – 2. Kapitel

Der Welt-Detektiv Nr. 11
Johnson, der Boxerkönig
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin

2. Kapitel

Eine erregte Debatte

Sherlock Holmes empfing das Telegramm, als er ge­meinsam mit Inspektor Bird im Wellington’schen Labo­ratorium zu Newton den zweiten Lokaltermin abhielt.

Die Nachricht von hoher See überraschte ihn nach zwei Seiten hin. Einmal war es der plötzliche Besuch Harrys, das andere Mal die Tatsache, dass sein früherer Famulus die Behauptung aufstellte, den Täter zu kennen, ohne über die näheren Einzelheiten des Verbrechens informiert zu sein. Bird nahm ebenfalls von dem Inhalt der Depesche Kenntnis.

Auch er schüttelte den Kopf. Wie konnte jemand, der sich zur Zeit des Raubüberfalles auf einem Schiff inmit­ten des Ozeans befand, wissen, was sich hier im Labora­torium abgespielt hatte?

»Die Sache ist unverständlich«, sagte er. »Die krimina­listische Tüchtigkeit Ihres einstigen Schülers in Ehren, Mr. Holmes, aber diesmal dürfte er wohl kaum seine aus dem Stegreif abgegebene Behauptung, die Täter zu ken­nen, Zug um Zug beweisen können!«

»Es sei denn«, erwiderte der Weltdetektiv nachdenk­lich. »der Fall Wellington habe eine Vorgeschichte, die ihm bekannt ist! Aber wie dem auch sei: Die Bitte, nichts zu unternehmen, sondern erst sein Eintreffen abzuwarten, kann ich ihm nicht erfüllen. Im Gegenteil, wir dürfen nichts unversucht lassen, um den Fall so schnell wie möglich zu klären. Noch sind die Spuren frisch!«

Bird seufzte. »Spuren!«, knurrte er dann. »Sie sprechen immer von Spuren! Der Teufel soll mich frikassieren, wenn die entdeckten Spuren auch nur einen Pfifferling wert sind. Was wissen wir denn schon? Dass als Täter zwei Personen infrage kommen. Zwei Männer, der eine ungewöhnlich groß und kräftig, der andere das Gegenteil davon. Ferner, dass sie den Tresor öffneten und Geld und Wertsachen, wahrscheinlich aber auch die Konstrukti­onspläne des neuen Raketenwagens mitnahmen, nach­dem sie glaubten, Wellington mit drei Revolverschüssen getötet zu haben. Das ist aber auch alles, was wir wissen. Zu allem Unglück ist Wellington noch nicht verneh­mungsfähig und wird es wohl auch innerhalb der nächs­ten acht Tage nicht sein. Wir haben also das Vergnügen«, schloss er wütend, »nach zwei Männern zu suchen, von denen der eine groß, der andere klein ist. Und das nennen sie Spuren?«

Sherlock Holmes konnte sich eines Lächelns nicht ent­halten.

»Ich kann mir nicht helfen«, meinte er, »aber ich be­merke, dass Sie in letzter Zeit ein bisschen reichlich ner­vös sind, Inspektor. Wenn Sie das Laboratorium genau so sorgfältig durchsucht haben wie ich – und das ist doch wohl der Fall – müssten Sie doch eigentlich recht viel Interessantes entdeckt haben. Bird machte große Augen.

»Nun ja«, merkte der Weltdetektiv an, »der eine Täter war besonders groß, der andere klein. Aber das ist es nicht allein. Mit ist bereits mehr bekannt. Und eben darum habe ich ja auch schon meinen braven Jonny nach Lon­don geschickt …«

»Langsam, langsam«, erwiderte der Inspektor etwas giftig. »Wenn man Sie so reden hört, könnte man wahrhaftig glauben, Sie hätten die Halunken schon beim Kra­gen.«

»So ähnlich verhält es sich auch«, erwiderte Sherlock Holmes gemütlich.

Bird starrte ihn an, um dann in ein Gelächter auszu­brechen.

»Jetzt fehlte nur noch«, rief er wütend, »dass Sie wieder einmal eine Ihrer berühmten Tatbestandsaufnahmen los­lassen. So etwa: Der Täter ist soundso alt, hat die und die Zähne, raucht die und die Zigarren …«

»Stopp!«, unterbrach ihn der Weltdetektiv. »Er denkt gar nicht daran, Zigarren zu rauchen: Er raucht Shagpfeife wie ich.«

»Wer?«, murmelte der Inspektor entgeistert. »Der Grö­ßere der beiden Übeltäter.«

»Sie sind ja verrückt!«, schrie Bird wütend. »Woher wollen Sie das wissen? Haben Sie vielleicht am Tresor da drüben 5 Gramm Shagtabakasche gefunden und die Pfeife dazu, he?«

»I wo!«, antwortete Sherlock Holmes lachend und ließ seine Hände knacken. »Ich kann Ihnen aber noch mehr erzählen, wenn es Sie interessiert. Der Große, nennen wir ihn einstweilen Goliath, ist genau, haargenau, lieber Freund, 39 Jahre und sieben Monate alt. Was seine Zähne anbelangt, so seien Sie versichert, dass er ein prachtvolles Gebiss sein eigen nennt, ein Gebiss, Bird, das wert wäre, von einer Zahnpastafabrik fotografiert und zu Reklamezwe­cken verwendet zu werden. Aber halten wir uns nicht mit den Zähnen auf. Der Mann besitzt noch andere merkens­werte Erkennungszeichen. So hat er beispielsweise an der linken Hand nur vier Finger. Den fünften verlor er durch einen Unglücksfall. Seine Schuhnummer kenne ich nicht, schätze sie aber auf 44er Größe. Oberhalb des rechten Auges befindet sich eine Narbe, die jedoch halb von den buschigen Brauen bedeckt wird.«

»Uff!«, murmelte der Inspektor und ließ sich auf den erstbesten Stuhl niedersinken. Er starrte Sherlock Holmes an, so, wie ein Arzt einen Patienten anblickt, bei dem er plötzlich eine Geisteskrankheit entdeckt hat. Der Weltde­tektiv lachte aus vollem Hals.

»Wollen Sie noch mehr wissen, Bird? Dann hören Sie zu: Unser Goliath hat am linken Oberarm eine Täto­wierung, die eine Faust darstellt, die eine Giftnatter ab­würgt. Sie ist nicht schön, keineswegs, aber sie ist nun einmal da. Letzten Endes sind das aber alles Kleinigkei­ten. Weit wichtiger ist es, zu wissen, wie der Kerl heißt, wo er wohnt und wo er zu finden ist, wenn er einmal seiner Häuslichkeit den Rücken kehrt.«

Bird rang nach Luft.

»Das wissen Sie natürlich auch?«

»Selbstverständlich!«

Der Inspektor sprang keuchend auf die Füße; und wäh­rend seine geballte Faust dröhnend auf die Schreibtisch­platte niederfuhr, brüllte er: »Suchen Sie sich gefälligst zu Ihren faulen Witzen ei­nen Dümmeren aus als mich, verstanden?«

So wuchtig donnerte die Faust auf den Schreibtisch nieder, dass die nahe dem Rand stehende marmorne Aschenschale einen wilden Satz machte, herunterfiel und sich auf dem Boden mit schrecklichen Geklirr in ihre einzelnen Bestandteile auflöste.

»Die schöne Schale!«, sagte Sherlock Holmes bedau­ernd. Dann sah er Bird vorwurfsvoll an: «Geht man so mit fremder Leute Eigentum um? Ich sage ja, Sie werden allmählich reichlich nervös. Wenn Sie mir nicht glauben, kann ich Ihnen nicht helfen.«

»Es kann nicht Ihr Ernst sein!«, keuchte der Inspektor. »Nein, nein! Denn wenn Sie wüssten, wie dieser Goli­ath heißt …«

»Ich weiß es, verlassen Sie sich drauf!«

»… dann hätten Sie ihn längst verhaftet!«

Sherlock Holmes lächelte spöttisch. »Ja«, meinte er dann, »es ist eben mit uns beiden immer dasselbe. Sie handeln nach Ihrer, ich nach meiner Taktik. Wenn Sie die Person des Täters kennen, würden Sie den Burschen so­fort hinter Schloss und Riegel bringen. Ich aber lasse ihn einstweilen noch auf freiem Fuß. Warum? Um mehr zu erfahren! Um auch die Hintermänner kennenzulernen, in deren Auftrag unser Goliath das Verbrechen ausführ­te!«

»Hintermänner?«, echote Bird.

»Gewiss! Denn das steht für mich fest: Der Raubüber­fall auf Wellington war bestellte Arbeit! Die beiden Männer – der Große und der Kleine – konnten wohl das Gold, wohl die Wertsachen, nicht aber die Pläne gebrau­chen! In wessen Auftrag, so frage ich darum, wurden die Pläne gestohlen? Was für Pläne ich meine, wissen Sie. Die des neuen Raketenwagens! Es müssen also Leute existieren, die Wellington seiner Erfindung berauben wollen, um sich selbst in deren Besitz zu setzen.«

Der Inspektor schüttelte den Kopf.

«Ihre Kombination hinkt!«, rief er.

»Wieso?«

»Weil die Leute, die nun die Wellington’schen Kon­struktionspläne in der Hand haben, nichts damit beginnen können. Darum nicht, weil Wellington sich alles Voraussicht nach wieder erholen wird und in der Erfindung, die nun Ihrer Ansicht nach von anderer Seite herausgebracht wird, auf der Stelle sein Eigentum erkennen würde!«

»Richtig«, bestätigte Sherlock Holmes, »aber Sie verges­sen einen Punkt: Die Männer, die Wellington mit drei Revolverschüssen niederstreckten, waren der Meinung, den Erfinder getötet zu haben! Man wird nun auf der Gegenseite vor Wut schäumen, dass Wellington nicht tot ist! Da die Konstruktionspläne aber nur für die Schurken verwendbar sind, wenn Wellington für immer schweigt, wird man alles versuchen, das Versäumte nachzuho­len!«

Inspektor Bird fuhr zusammen.

»Wollen Sie damit vielleicht sagen, dass man auf den Erfinder nochmals ein Attentat verüben wird?«

»Ja«, erwiderte der Weltdetektiv kurz.

»Und trotzdem lassen Sie den Mörder noch länger frei herumlaufen?«, schrie der Inspektor.

»Trotzdem!«, bestätigte Sherlock Holmes. »Doch seien Sie unbesorgt, ich weiß schon, was ich tue!«

Bird durchmaß den Raum mit langen Schritten, nur mühsam seine Erregung meisternd. Was ihm der Weltde­tektiv soeben erzählte, erschien ihm so närrisch, so aus der Luft gegriffen, dass es eigentlich töricht war, auch nur einen Augenblick die Behauptungen für ernst zu nehmen. Sherlock Holmes wollte die Täter, wenigstens den einen von ihnen, den Goliath, kennen! Das war ja Wahnsinn! Wahnsinn!

Bird wollte lachen. Laut und voller Hohn. Aber er vermochte es nicht. Es war Sherlock Holmes, dessen Lippen die unerhörten Behauptungen geformt hatten! Derselbe Sherlock Holmes, dessen Scharsinn die ganze Welt bewunderte! Teufel, wenn nun doch etwas Wahres an dem war, was der Weltdetektiv erklärt hatte?

Bird fuhr sich verzweifelt durch das Haar.

»Mr. Holmes«, sagte er. »ich …« Da sah er jedoch, dass Sherlock Holmes gar nicht mehr anwesend war. Er hatte das Laboratorium leise verlassen.

Der Inspektor stieß einen Fluch aus und eilte ans Fens­ter. Da sah er den Gesuchten vor der Tür stehen. Von der Straße her kam ein radelnder Telegrafenbote und über­reichte ihm eine Depesche. Sherlock Holmes erbrach sie. Es musste eine sehr interessante Nachricht sein, die er soeben empfangen hatte, denn er las das Telegramm zweimal. Dann nickte er, gab dem Boten ein Trinkgeld und kam wieder herein.

»Die Geschichte klappt besser, als ich dachte«, sagte er zu dem Inspektor. »Dass Jonny nach London fuhr, sagte ich Ihnen wohl schon. Eben depeschiert mir nun der bra­ve Junge, dass meine Kombinationen voll und ganz zutreffen. Jetzt weiß ich sogar schon, wie der Kleinere er beiden Täter heißt. Nennen wir ihn einstweilen David. Und diesen David werde ich voraussichtlich in kommen­der Nacht verhaften!«

Der Inspektor starrte den Sprecher verständnislos an. Dann murmelte er: »Sie fahren also nach London?«

»Nein«, erwiderte Sherlock Holmes und lächelte seltsam dabei, »ich bleibe hier in Newton. Passen Sie auf, Inspek­tor. Sie werden eine nette Überraschung erleben!«

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