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Jack – Kapitel II

Anton von Perfall
Jack
In: Deutsche Jugendbücherei, Nr. 5/6
Hermann Hillger Verlag Berlin – Leipzig

Kapitel II

Ich war also Tramp1, wenigstens beehrte ich noch vor kurzer Zeit ähnliche Individuen, welche mit zerrissenen Stiefeln und defektem Anzüge, ohne jedes Gepäck, sei es nun, weil sie keine Arbeit finden oder keine suchen, durch das Land ziehen, mit dem ebenso verachteten wie gefürchteten Namen. Dass ich mich mit gutem Gewissen zu der ersten Sorte rechnen durfte, tut nichts zur Sache. Mein kränkliches Aussehen war wohl der Hauptgrund der ständigen Abweisungen. Ich gab mir jedoch, zu meiner Ehre muss ich gestehen, alle Mühe, ein gewisses Wohlbehagen gewaltsam zu unterdrücken, welches die freie, ungebundene, mir aus einem früheren Beruf lieb gewordene Lebensweise unter diesem freien Himmel, bei guter Nahrung – der Kalifornier lässt auch den Tramp nicht hungern – unwillkürlich in mir auskommen ließ. Täglich hielt ich mir selbst meinen verächtlichen Titel vor, fragte nach Arbeit und bewahrte mich so vor dem gefährlichsten Stadium der Not der Selbstaufgabe.

Noch ein Umstand hielt mich aufrecht: Immer näher rückten die Berge der Sierra Nevada, mein altes Arbeitsfeld. Meine Fan­tasie drang in die verborgensten Täler und Einschnitte, ich sah, ich roch die teure rote Erde, die immer neue Hoffnung birgt. Die alte Lust erwachte. Wenn es nur noch einmal glückte, nur ein klein wenig, nur um etwas Ordentliches anfangen zu können.

Es war der Abend des zehnten Tages meiner Wanderschaft; ich näherte mich einem kleinen Rancho. Ein niedliches Holzhaus blitzte schneeweiß aus dem dunklen Laub der es umgebenden Orangen­bäume von einer Anhöhe herab, ringsum bebaute Felder, Weizen, Weinreben – das war es! Und wie oft hatte ich schon das Doppelte spielend erworben, als dazu gehörte, solches Heim zu erwerben, und gewissenlos vergeudet. Dazu ein Weibchen, eine Schar Kinder. Ich hatte wieder dasselbe Gefühl wie damals, als ich in der schmutzigen Gasse Friskos erwachte, eine Glückssehnsucht, die mir die Brust zu sprengen drohte. Und jetzt erscholl helles Kinderlachen, zwei kleine Mädchen stürmten, sich haschend, mit fliegenden Locken die Höhe herab. Wo solcher Segen im Haus, da gibt es auch Nacht­quartier, dachte ich, und die blonden Locken streicheln, in die Kinder­augen sehen, wird auch nicht verboten sein. Ich hatte nun einmal solche weiche Anwandlungen. Woher? Vom Schiff, vom Camp, aus der Wildnis stammten sie sicherlich nicht, vielleicht von der Hand, die auch mir einst schmeichelnd in die Locken fuhr, von dem Auge, dass auch einst liebevoll auf mir geruht, vielleicht – doch ein Tramp philosophiert nicht. Ich bog von der Straße ab und mar­schierte dem Haus zu. Die Kinder flohen mit Angstgeschrei. Eine schlanke, noch jugendliche Frau mit schwerem Blondhaar erschien unter den Bäumen und musterte mich mit Misstrauen. Ich war diese Blicke schon gewohnt seit einer Woche, aber aus diesen großen blauen Augen schmerzten sie mich doppelt. Sie waren gar nicht geschaffen zu solchem Ausdruck, sie blickten gewiss von Natur sanft und liebevoll, und nur Furcht und Ekel vor etwas recht Hässlichem oder Gefährlichem konnten sie so entstellen.

An diesem Augenblick war ich fest entschlossen, den Tramp auszuziehen um jeden Preis.

Ich bat um Nachtlager.

»Sie sind ein Deutscher?«, fragte die Frau, wohl an der man­gelnden Aussprache des Englischen den Landsmann erkennend. Ihr Antlitz klärte sich auf, als ich die Frage bejahte; mit dem Misstrauen kämpfte bereits herzliche Teilnahme. Zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich ein Heimatsgefühl, ahnte ich die Wonne des Wortes Vaterland.

Sie hieß mich folgen. Hinter den Bäumen lugten wie kleine Wilde die Kinder hervor. Ihr Mann werde gleich kommen, ich soll mich unterdessen hier außen lagern. Ihr Misstrauen war noch nicht geschwunden. Ich lockte die Kinder. In den Minen fehlen diese Engel; auf den Farmen, die ich bisher besuchte, wurden sie vor dem Tramp stets in Sicherheit gebracht, und ich empfand das Be­dürfnis, mit ihnen zu plaudern. Endlich fasste das ältere Mädchen einen Entschluss und kam zögernd näher. Ein von der kalifornischen Sonne gebräunter Blondkopf, das Ebenbild der Mutter. Das Schleckermäulchen saugte, trotz seiner Scheu vor mir, an einer saf­tigen Orange.

»Wie heißt du?«, fragte ich das Kind.

»Betsy.«

»Komm nur näher, Betsy; ich bin kein böser Mann.«

»Wo kommst du denn her?«’

»Aus der großen Stadt am Meer.«

»Sind dort deine Eltern?«

»Ich habe keine Eltern mehr, Betsy.«

»Aber dein Haus?«

»Ich habe auch kein Haus, Betsy.«

Betsy ließ die Orange vom Mund und sah mich erstaunt an. »Warum hast du keins? Gibt so viele Häuser.«

»Weil ich arm bin, Betsy.«

»Arm? Was ist denn arm?«

»Wenn man kein Haus hat, nichts zu essen, als was einem

gute Menschen geben.«

Betsy trippelte näher und reichte mir die angebissene Orange. »Nimm! Da oben hängen noch viele.«

Ich nahm die Orange und das kleine Händchen und küsste es mit einer Inbrunst, wie ich noch nie geküsst hatte. Da trat ein stark ge­bauter Mann im Blusenhemd in den Orangenhain, eine Schaufel auf der Schulter – der Herr!

»Was wollen Sie hier?«, fragte er rau.

»Er ist ein Landsmann und bittet um Nachtquartier«, rief die Frau vom Haus her.

»Nachtquartier? Hm!«

Wieder der Blick, der mir durch Mark und Bein ging.

»Wohin wollten Sie denn eigentlich?«

»Ich suche Arbeit.«

»Arbeit? Die wird wohl zu finden sein, fehlt ja überall an Händen, allerdings bei mir tun es zwei auch. Versuchen Sie es einmal in der Aqua Teniente Rancho. Fünf Wegstunden von hier. Morgen – für heute bleiben Sie natürlich. Was können Sie denn arbeiten?«

»Ich war Miner!«

»Miner!« Seine Stirn zog sich in Falten. »Das ist keine gute Empfehlung bei uns; sprechen Sie lieber nicht davon.«

Der Zorn stieg in mir auf, in den Minen war der Bauer ver­achtet. »Sie scheinen nicht zu wissen, was ein Miner leisten muss, Ihre Arbeit ist ja Kinderspiel dagegen«, konnte ich mir nicht ver­sagen zu erwidern.

»Mag sein,« sagte er, »aber eine Arbeit, deren Erfolg nur vom Zufall abhängig ist, die oft den Faulen begünstigt, den Fleißigen leer ausgehen lässt, ist nicht die rechte, die verdirbt die Leute. Mühe und Lohn müssen im Verhältnis stehen. Ihnen scheint sie nicht gut bekommen zu sein.«

»Ich hatte Pech, das ist kein Beweis.«

»So sagen sie alle, Miner und Spieler! Es taugt nichts, sage ich Ihnen, aus dem Gold liegt der Fluch. Da schauen Sie …« Er wies auf die wogenden Kornfelder, auf die Orangenhaine, »das ist das echte kalifornische Gold.«

»Sie haben gut reden.«

»Ah so, Sie glauben, ich habe mich in das gemachte Bett ge­legt? Fehlgeschossen! Vor fünf Jahren war ich so arm wie Sie. Es ist noch nicht viel, was ich habe, aber es langt und mehrt sich, langsam allerdings, aber sicher. Jetzt kommen Sie zum Essen.«

Die beiden Kinder, die andächtig zugehört hatten, jubelten nun dem Vater zu. Die Frau setzte eine dampfende Schüssel auf den reinlich gedeckten Tisch vor dem Haus. Es war alles so einfach wie nur möglich, fast ärmlich, und doch betrachtete ich es mit einer sehn­süchtigeren Gier als je ein kostbares Speziment2 in der Hand eines glücklichen Kameraden.

Ich war auf meiner Wanderschaft gewohnt, meine Abenteuer aus den Minen zum Besten zu geben und auf diese Weise meine Gastgeber bezahlt zu machen.

Diesmal war es mir besonders daran gelegen, diesen Mann von seiner verächtlichen Beurteilung abzubringen, ihm begreiflich zu machen, welcher Schatz noch in den Bergen schlummert, an denen bereits jetzt die abendlichen Schatten heraufzogen. So er­zählte ich die merkwürdigsten Fälle aus dem verführerisch blinkenden Sagenkreis der Minen.

Doch Mister Smith ließ sich dadurch nicht im Geringsten be­irren, er steckte sein Pfeifchen an, nahm die zwei Mädels auf den Schoß, blickte bald mit dem Ausdruck höchsten Wohlbehagens auf seinen wohlgepflegten Besitz ringsumher, auf die im Glanz der untergehenden Sonne wogenden Felder, bald lächelte er seiner Frau zu, die seinen Arbeitsrock flickte, und ließ mich gelassen von Dingen erzählen, die unsereiner mit pochendem Herzen und gierigen Blicken verschlang. Dann aber begann er, wie er vor Jahren dem Fluss, der zwischen saftigen Wiesen heraufblitzte, sein Land abgewann, die Wildnis rodete, die ersten Bäume pflanzte, die erste Furche zog, wie er mit Wolkenbrüchen und mit sengender Dürre um seine Scholle kämpfte, wie er aus der Blockhütte des Ansiedlers in sein selbstgebautes Haus einzog! Das war nicht aufregend, nicht spannend, ein altes, sich ewig wiederholendes Ereignis in diesem Land, aber ich lauschte seinen Worten wie ein andächtiges Kind, ich, schlürfte sie ein wie den erquickenden Wein in meine heiße, vom Wegstaub bedeckte Kehle.

Plötzlich kamen die Kinder, welche während des Gespräches mit Orangen Ball gespielt, atemlos gelaufen.

»Vater! Was da kommt?«, rief Betsy. »Ein Pferd mit einem großen Buckel und ein roter Mann!«

Das war eine Zusammenstellung, die unsere Neugierde er­regte. Wir eilten vor und waren im ersten Augenblick so unklar über den Anblick, der uns wurde, wie die kleine Betsy.

Die Formen zerflossen bereits im Dämmerlicht. Ein un­förmlicher Vierfüßler näherte sich, auf dem unbegreiflich gebauten Rücken ein schwarzes, jeden Augenblick seine Form veränderndes, auf und ab gaukelndes Etwas, daneben eine gebückte, kleine, sich sichtlich mühsam daher schleppende Gestalt, die man in der Däm­merung, bis auf einen roten, auf und ab schwankenden Punkt, der allerdings der Kopf sein musste, wie Betsy ganz richtig erraten hatte, mehr ahnte als sah. Wer war das?

Da erschütterte ein ohrenzerreißender, alle Register des Jammers durchlaufender Laut die Luft, ein Schluchzen und Grunzen, und der kleine schwarze Kobold sprang wie besessen auf und ab. Die Kinder liefen entsetzt zum Vater. Für uns Erwachsene war das Rätsel wenigstens zum Teil gelöst. Das Untier war ein Esel, hierzulande eine seltene Erscheinung, und jetzt, da er, wohl ein Nachtquartier witternd, die Anhöhe heraufgaloppierte, erkannten wir auch den Kobold als Affen, welcher aus einer mit einem Tuch überzogenen Art Kiste, dem vermeintlichen Höcker, sein Anwesen trieb.

»Jack! Jack! Attendez donc, Jack!«3, rief mit schwächlicher Stimme die gebeugte Gestalt, welche sich vergeblich abmühte, das eilende Tier zu erreichen. Da stand er schon vor mir, der ungehor­same Jack, während auf seinem Rücken der Affe fauchend und zischend auf und ab gaukelte. Ich hatte noch Brot in der Tasche und reichte es dem Langohr. Er nahm es mit seinen samtweichen Nüstern sorgfältig aus der Handfläche, sah mich mit den braunen Augen dankbar an und rieb dann seine krause Stirn so freund­schaftlich wie ein alter Bekannter an meiner Brust, dass ich, der Verlassene, Heimatlose, mich unwillkürlich zu dem Tier hingezogen fühlte.

»Jack! Braver Jack!« Ein fast menschlicher Seufzer war die Antwort auf diese Schmeichelworte. Der Affe nahm mir meinen Hut vom Kopf und schwang sich damit auf einen Baumast. Jetzt erst merkte ich, dass ich allein geblieben war, auch Jack sah sich nach seinem Herrn um. Dieser lehnte zusammengesunken an einem Baum, Mister Smith und seine Frau waren ihm eben zu Hilfe geeilt.

»Merci, mon cher4 – geht schon wieder«, stammelte der kleine alte Mann, Französisch und Englisch vermischend. Es ging aber nicht ohne Hilfe des wackeren Farmers, welcher den Armen gegen das Haus führte. Mit gesenktem Haupt folgte Jack, ohne noch einen Blick auf mich zu werfen.

Plötzlich raffte sich der Alte gewaltsam auf. »Jack! Gogol Venez donc!«5, rief er.

Der Esel rieb seine Schnauze an dem Rücken seines Herrn, um ihm seine Nähe zu bekunden. Gogo ließ meinen Hut fallen, kletterte vom Baum herab und näherte sich schuldbewusst.

»Ich will Ihnen jetzt zeigen meine gelehrte Esel Jack, le plus admirable animal du monde«6, begann der Fremde in dem bekannten Tonfall der öffentlich Vorführenden.

»Aber, mein Herr, Sie sind ja krank«, bemerkte der mitleidige Farmer. »Legen Sie sich zu Bett und zeigen Sie uns morgen Ihren Jack. Es wird auch schon dunkel.«

»Oh non, oh non!7 Piere Savage will nicht fallen zur Last wie ein Bettler. Wollen Sie mich haben für Produktion die Nacht und ein bisschen zu essen geben mir, Jack und Gogo, so ich sein dien content8 – nur etwas müde – und ein bisschen krankes Herz …«

Mich erdrückte die Scham. Der todesmatte, elende Greis wollte sein Abendbrot und Quartier erst verdienen!

»Wollen Sie sein so gut und Orgel herunternehmen«, bat er mich.

Ich war froh, ihm dienen zu können und befreite Jack von dem vermeintlichen Höcker. Pierre Savage fing an zu spielen, Gogo sprang auf den Kasten, Jack spitzte seine Ohren, scharrte mit den Hufen, schüttelte die zottige Mähne.

»Jack ist ein großer Rechner«, begann der Alte. »Messieurs et Mesdames9, passen Sie auf und sehen Sie auf die linke Fuß von Jack.« Dann tippte er mit einem dünnen Stöckchen an Jacks linkes Bein und begann: »Sage den Herrschaften, wie viel ist zwei mal zwei?«

Jack neigte den Kopf etwas zur Seite, als besinne er sich erst, dann scharrte er viermal mit dem Huf. Die weiteren Exempel wurden spielend von ihm gelöst.

»Hast du Hunger, Jack?«

Jack besann sich auffallend lange – Pierre musste noch ein­mal fragen.

Dann schüttelte jener energisch seinen Strubbelkopf.

»Durst? – Wieder Kopfschütteln.

»Braucht mein Jack Geld?« – Energisches Nicken.

»Jack bekommt nur Geld, wenn Pierre Geld bekommt. Weiß er eine reiche Frau für arme Pierre?«

Nicken.

»So hole sie mir, Jack.«

Jack trottete eine Zeitlang unschlüssig umher, ging dann plötz­lich auf die Hausfrau zu und drängte sie förmlich seinem Herrn zu. Mister Smith, welcher nur auf Jack und nicht, wie ich, auf Pierre und sein immer tätiges Zauberstöckchen sein Augenmerk richtete, war entzückt von diesem Kunststück. Es folgte ein Tanz mit Orgel­begleitung, wobei Gogo die Kurbel trieb, zur hellen Freude der Kinder, die Jack umjubelten. Auch mich hätten wohl die grotesken Bewegungen des Tieres zum Lachen gebracht, hätte nicht der neben seiner Orgel in sich zusammengesunkene Pierre eine gegenteilige Wirkung auf mich ausgeübt.

Mitten in der Melodie sprang Gogo von der Orgel weg, Jack schlug aus Freude darüber mit beiden Hinterbeinen aus und be­endete seinen Tanz. Pierre erhob sich mühsam.

»Nun wird zum Schluss der Produktion Jack vor Ihren Augen sterben.« Dabei griff er in seine Rocktasche und holte einen Re­volver hervor. Das Stöckchen berührte den Hals des Tieres, welches wie gebannt stand, den Kopf gesenkt, die Ohren zurückgelegt. Der Farmer starrte mit offenem Mund auf das Schauspiel, die Frau schrie entsetzt aus. Pierre erhob den Revolver, zielte, und im Rauch stürzte Jack zusammen.

Die Kinder heulten.

»Der böse Mann.«

»Der arme Jack!«

Frau Smith war empört, der Farmer selbst sprachlos.

Jack lag in den letzten Zuckungen, dann plötzlich ganz still – tot! Er spielte die Rolle täuschend, aber auch Pierre die seine wohl besser als je. Er war leichenblass und musste sich auf die Orgel stützen, um nicht zu fallen, und sein Ausruf »Mon pauvre Jack! II est mort! Vraiment mort!«10, klang kummervoll genug.

»Beruhigen Sie sich, Messieurs«11«, sagte er dann mühsam, »Pierre hat ein Mittel gegen den Tod, ein unfehlbares Mittel! Das wird er geben son cher Jack.«12 Dabei kniete er auf dem regungslosen Körper, gab sich den Anschein, als flöße er dem Tier irgendein Mittel ein, und richtig, Jack fing wieder zu strampeln an, stieß ein freudiges Wiehern aus, welches wohl dem Schluss der Vorstellung galt, und war zum Jubel der Kinder schnell auf den Beinen – aber Pierre nicht. Er war nicht imstande, sich zu erheben. Gogo lief mit einer Sammelbüchse umher, er machte schlechte Ge­schäfte, wir hatten mit dem armen Pierre zu tun, der jetzt wohl oder übel unsere Unterstützung annehmen musste, doch weigerte er sich entschieden, als ihn Smith in das Wohnzimmer bringen wollte, in welchem ein tadelloses Bett stand. Er verlangte in den Stall, er könne nicht mehr liegen in einem Bett und dann: »le pauvre Jack, ich verlasse nie meine alte Freund seit zehn Jahren.« Dabei sah er sich besorgt um. Jack ging dicht hinter uns und be­schnupperte seinem Herrn die Taschen, aus welchen er begreiflicher­weise seinen Lohn für das schöne Sterben noch nicht empfangen hatte. Gogo rasselte auf dem Tisch, wütend über die schlechten Geschäfte, mit der Sammelbüchse.

Es blieb uns nichts übrig, als dem Alten seinen Willen zu lassen, und wir richteten ihm in einem Winkel des Stalles das Lager so gut wie möglich her. Jack wich jetzt keinen Schritt mehr von ihm und leckte mit seiner rauen Zunge das graue Haupt seines Herrn. Pierre warf uns sonderbar lächelnd einen dankbaren Blick zu für den letzten Liebesdienst. Wir fühlten beide, dass er es war, und als ich ver­sprach, die Nacht bei ihm zuzubringen, drückte der Alte mir innig die Hand.

»Vous etes un brave!«13, lispelte er.

Es war das erste herzliche Wort, das ich in meinem Leben ver­nommen hatte, dieses Wort aus dem Mund des sterbenden Spielmanns.

Die Nacht war eingefallen, hinter dem Schneegipfel des Mount Shasta stand der Mond und übergoss das schweigende Tal mit seinem Silberlicht.

»Er wird die Nacht nicht überleben – fragen Sie ihn, was mit seinem Eigentum geschehen soll«, sagte Mister Smith, als er den Stall verließ. »Ich wüsste ein Geschäft für Sie mit dem Jack …«

»Mit den fünf Dollar, die ich in der Tasche habe? Das wird schwerlich gehen.«

»Na, wir werden ja sehen! Es gäbe mancher einen Esel um eine liebevolle Hand in solcher Stunde.«

Frau Smith brachte ihre ganze Hausapotheke und machte mir das Vorrecht streitig, bei dem Kranken zu wachen, doch ihr Mann sprach ein Machtwort. Er fühlte, dass wir zueinander passten, ich und der Spielmann – zwei Heimatlose!

Pierre schien zu schlafen. Sein Herzschlag war bald nicht zu fühlen, bald wallte er jäh auf unter meiner prüfenden Hand. Jack ließ sich das Maiskorn trefflich schmecken: in Gemeinschaft mit seinem Freund Gogo, welcher im Barren saß und die besten Körnchen ausklaubte. Was meinte nur Smith mit dem Geschäft? Herum­ziehen mit dem Wundertier, der Drehorgel und dem Affen? Eigentlich eine beleidigende Zumutung.

Pierre erwachte. »Ist Jack hier?« Das Tier scharrte und wandte seinen Kopf nach seinem Herrn.

»Monsieur!«14

Ich kniete zu ihm nieder.

»Ich werde nicht mehr verlassen dieses Haus … Pierre Savage … Cirque Savage!15 Großer Cirque … alles verbrannt! … New Orleans … seulement moi, Jack et Gogo!16 … Sie nehmen Jack, wenn ich sein tot … gute liebe Tier …«

»Haben Sie keine Angehörigen? Ich werde alles gewissenhaft besorgen«, sagte ich.

»Alles verbrannt … Angele, la petite Mire … Jack, Gogo c’est tout!17 Jack gut für alles … Jack dankbar Tier … menschlichen Verstand .. versprechen Sie gut sein mit Jack …«

Ich versprach es ihm hoch und teuer, hinzufügend, dass es wohl nicht so schlimm mit ihm stehe.

Er griff nach dem Herzen. »Nicht schlimm … gut für arme Pierre … müde vom Wandern … Angele … Mire!« Er lächelte wie ein Kind und schloss wieder die Augen.

Der Mond beleuchtete durch das schadhafte Dach das bleiche, eingefallene Antlitz. Dann wurde es still. Jack legte sich niederer, Gogo machte es sich auf seinem Rücken bequem – auch mich übermannte der Schlaf. Eine Stimme weckte mich. »Wie viel sein zwei mal zwei? Jack! Hörst du, Junge? Brauchst du Geld? Reiche Frau … dansez18, Jack … Pierre haben Mittel ooutrs la mort.«19

Ich blickte dem Alten in das Gesicht. Der Mond war ver­schwunden, ich verspürte nur des Greises leisen Atem. Vielleicht stand es doch nicht so schlimm mit ihm – ich schlief wieder ein.

Der Cirque Savage brannte lichterloh, träumte ich; Angele, die kleine Mire im Arm, lief kreischend durch die Flammen, Pferde tobten, Affen quiekten – plötzlich ein wildes, betäubendes Geschrei – ich erwachte! Jack stieß es aus. Unerhörte, grauenvolle Töne, dabei zerrte er an dem Halfter und stampfte den Boden. Ein Ge­danke kam mir. Es war finster, ich brannte ein Streichholz an und beleuchtete das Antlitz Pierres – er war tot! Jack hatte es gefühlt.

Und da kam auch schon Mister Smith, den der Lärm geweckt hatte, mit einer Laterne. Pierre war tot, ein zufriedenes Lächeln lag auf seinem Antlitz. Jack blickte zitternd am ganzen Leib auf seinen Herrn. Gogo saß, in philosophischer Betrachtung vertieft, diesem zu Häupten und strich, sorgsam mit der Pfote prüfend, über das starre Antlitz.

»Haben Sie mit ihm noch gesprochen?«, fragte Smith, »und hat er sein Testament gemacht?«

»Ja«, erwiderte ich. »Er stand allein in der Welt und ich bin sein Erbe, der Erbe des einstigen Zirkusbesitzers Pierre Savage, Jacks, Gogos und der Orgel. Oder glauben Sie, dass der Tramp Sie belügt vor diesem Toten?«

»Sagte ich Ihnen denn nicht, dass eine Freundeshand in dieser Stunde wohl einen Esel wert ist, und ich soll daran zweifeln, dass der Alte das eingesehen hat? Doch jetzt kommen Sie, er bedarf Ihrer nicht mehr, wir wollen von den Geschäften reden.«

Wir überließen Jack und Gogo die Totenwache und gingen in die Wohnstube des Farmers.

»Das Herumorgeln im Land mit Jack, dem Esel, wird Ihnen wohl nicht passen, es ist am Ende auch nichts anderes als Bettelei. Dem alten erwerbsunfähigen Pierre nahm man es gewiss nicht übel, ein junger Mann, wie Sie sind, wird damit keinen guten Ein­druck machen. Meinen Sie nicht auch?«

»Ich wundere mich, wie Sie mich danach fragen können«, erwiderte ich verdrossen, »das kommt von Ihrem Vorurteil gegen mich als Miner.«

»Umso besser!«, erwiderte Smith, ohne sich irre machen zu lassen. »Mein Vorschlag ist auch ein ganz anderer. Es fehlt uns Farmern an allem Möglichen. Die Stadt ist weit, das ständige Hin- und Herfahren, um das Nötigste anzuschaffen, kostet Zeit und Geld. Händler kommen selten heraus, es gibt in der Stadt vollauf zu verdienen. Richten Sie einen Wanderstore (Laden) ein, das heißt, kaufen Sie in der Stadt alle erdenklichen Gebrauchsgegenstände, Nadel, Zwirn, Kamm und Schere, Flitterzeug für die Frauen, Pferdebürsten, Messer, Tabak, Pfeifen für die Männer, packen Sie das alles Jack auf den Rücken und ziehen Sie damit von Farm zu Farm. Ich wette, in einem Jahr fahren Sie mit einem Wagen, und in einem weiteren Jahr fahren Sie überhaupt nicht mehr, sondern sind selbst Farmer, und das ist doch das Beste hierzulande. Was sagen Sie dazu?«

»Ein vortrefflicher Plan, an dessen Gelingen ich nicht zweifle, nur hätte mir Pierre außer Jack noch einiges Kleingeld hinterlassen müssen«, erwiderte ich. »Der Inhalt der Sammelbüchse wird kaum für Nadel und Zwirn genügen – oder sollten Sie geneigt sein, gegen Orgel und Gogo als Pfand, mir einen Vorschuss zu geben?«

»Ohne Orgel und Gogo. Ich habe nicht vergessen, dass auch mir von einem braven Landsmann über den schwierigen Anfang hinweggeholfen wurde. Hundert Dollar kann ich Ihnen geben, und das genügt vorderhand, wenn Sie ordentlich zugreifen. Ein­verstanden?«

Er bot mir die Hand. Ich, der ich gewohnt war, das Geld geringzuschätzen, welches mir stets achtlos durch die Finger glitt, – wie gewonnen, so zerronnen, – sah jetzt mit feuchtem Auge einen unermesslichen Schatz blinken in dieser biederen schwieligen Hand. Gestern noch verlassen, an mir selbst verzweifelnd, drängte sich hier zum ersten Mal in meinem Leben die Liebe an mich. Sie strahlte auf dem Scheideblick des verlassen Sterbenden, der mich zu seinem Erben einsetzte, sie zuckte aus der Hand Smiths mir mitten in das Herz und trieb mir das Nass in die Augen.

Bei Sonnenuntergang begruben wir Pierre Savage.

Es war ein sonderbarer Kondukt20. Smith und ich trugen den in die Decke der Orgel gehüllten Toten, dicht hinter mir folgte Jack, das Haupt gesenkt, die langen Ohren zurückgelegt, mit den zitternden Nüstern die Luft einziehend, die ihm den Herrn verriet unter dem rotgestreiften Tuch. Auf seinem breiten Rücken Gogo, die nackte Stirn in bedrohliche Falten gezogen, dann Frau Smith, in Tränen aufgelöst um den Unbekannten, und die Kinder mit ihrer neugierigen Freude an dem Absonderlichen. So bewegte sich der Zug gegen das Eichenwäldchen hinter dem Haus. Ein kurzes Gebet – und die keimstrotzende kalifornische Erde deckte Pierre Savage. Jack scharrte unzählige Male mit dem linken Fuß, schüttelte verneinend das Haupt, als wollte er noch einmal die alte liebe Stimme hören, deren Klang er so gut verstand.

 

»Jack, jetzt bist du mein! Wenn ich auch einen Arbeiter aus dir mache, den du, bisher Künstler, verachtest, sei mir nicht böse, es ist ein ehrlich Brot, und es soll dir an nichts fehlen«, sprach ich zu meinem Erbteil und kraute ihm die langen Ohren. Doch Jack stemmte die Vorderbeine und wollte nicht weichen vom Grab seines Herrn. Er schlug aus und biss wild um sich. Da kam mir ein guter Gedanke.

»Hat Jack Hunger?«

Da stutzte er.

»Braucht Jack Geld?«

Da schlug er unzählige Male die Erde – ich hatte die Reihenfolge der Fragen nicht eingehalten. »Hat Jack eine reiche Frau für mich?«

Da schüttelte er das Haupt energisch. Dann nach einem kurzen Zögern folgte er mir willig. Als wir nach Gogo riefen, grinste er uns boshaft aus den Zweigen einer Eiche entgegen und warf mit dürren Ästen und Zweigen nach uns, den Toten­gräbern seines Herrn.

Ich setzte Betsy und ihr Schwesterchen auf Jacks Rücken, und unter dem frohen Lachen der Kinder, umgeben von der Pracht eines kalifornischen Morgens, kehrten wir heim.

Eine Stunde darauf verließ ich das gastliche Haus, das ich als Tramp betreten hatte, frei von jedem Gelüste nach den im blauen Dunst winkenden Goldbergen, gesundet, ein ganzer Mann durch den Segensblick eines Sterbenden, den Händedruck eines edlen Menschen, Jack mir zur Seite. Gogo und die Orgel ließ ich zurück für die Kinder. Als wir die Straße erreichten, tönte die alte Weise, welche Jack so oft zum Tanz forderte. Er richtete sich auf, machte einige Sprünge links und rechts, dann warf er einen langen Blick zurück, ließ einen Abschiedsruf ertönen und trabte, in sein Schicksal ergeben, neben mir die staubige Straße entlang.

Die Orgeltöne schwebten uns noch lange nach über die Fluren, allmählich verklangen sie. Ich musste an Angele denken und la petite Mire – an Pierres seliges Lächeln! Es gibt nur ein Glück, das erhaben ist über alles Erdengewirre – die Liebe!

»Jack, weißt du mir ein treues Weibchen?«

Show 20 footnotes

  1. Landstreicher
  2. Quarzstück, in dem Gold eingeschossen ist.
  3. Jack, Jack, warte doch!
  4. Danke, mein Lieber!
  5. Kommt doch her!
  6. Das wunderbarste Tier der Welt
  7. O nein, o nein.
  8. Sehr zufrieden
  9. Meine Herren und Damen
  10. Mein armer Jack! Er ist tot! Wahrhaftig tot!
  11. Meine Herren
  12. Seinem lieben Jack
  13. Ihr seid gut.
  14. Mein Herr!
  15. Zirkus Savage
  16. Nur ich, Jack und Gogo
  17. Angele, die kleine Mire – Jack, Gogo, das ist alles!
  18. Tanze
  19. Gegen den Tod
  20. Leichenzug

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