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Der Welt-Detektiv – Band 10 – 3. Kapitel

Der Welt-Detektiv Nr. 10
Die Dame in Schwarz
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin

3. Kapitel

Eine sonderbare Feststellung

Dort, wo die Mauer einen rechten Winkel schlug, voltigierten Sherlock Holmes und Jonny lautlos über die Mauer und ließen sich jenseits auf den Friedhof hinab. Weit und breit war nichts zu sehen. Kein Laut unterbrach die Stille. Nur einmal schallten schnelle Schritte an ihr Ohr, aber sie kamen von draußen, von der Landstraße her. Es war der Hausierer, der Eile hatte, nach Hause zu kommen. Dann wurde es wie­der still wie zuvor. Das fahle Mondlicht umspielte Gräber und Kreuze.

Ein Blick auf die Uhr belehrte den Meisterkrimina­listen, dass nur noch wenige Minuten an der Mitter­nachtsstunde fehlten. Abergläubischen Personen hätte diese Feststellung einen Schauder nach dem anderen eingejagt, doch Sherlock Holmes und Jonny konnte selbst eine Mitternachtsstunde auf dem Friedhof wenig schrecken. So lagen sie regungslos hinter einem Busch, von dem aus sie den größten Teil des Friedhofs überschauen konnten, ohne selbst gesehen zu werden, und warteten. Der Radfahrer befand sich hier. Daran war nicht zu zweifeln. Und irgendetwas musste mit diesem Mann nicht geheuer sein. Warum fuhr er denn sonst ohne Licht und in einem so wahnsinnigen Tempo, als ob hunderttausend Teufel hinter ihm her waren? Warum schoss er sogleich, als der Hausierer auf ihn zueilte? Warum fuhr er nicht weiter nach Croydon?

Das waren Fragen, auf die sich Sherlock Holmes vorläufig keine Antwort zu geben wusste. Plötzlich aber schlug er sich vor die Stirn. Hell and devils! Daran hatte er noch gar nicht gedacht: Der Kerl konnte ja den Friedhof längst wieder verlassen ha­ben! Schon wollte er sich erheben, um dort, wo der Unbekannte die Mauer überstiegen hatte, nach Spuren suchen, als ein lautes Kreischen die Stille der Nacht misstönend zerriss. Es hörte sich an, als ob sich eine schwere Tür in einer rostigen Angel dreht. Was be­deutete das?

Starr blickte der Weltdetektiv in die Richtung, aus der das Geräusch erklungen war. Im gleichen Augenblick zuckte er jäh zusammen, und Jonny, der unmittelbar an seiner Seite lag, hatte Mühe, einen Schrei der Überraschung zu unterdrücken. Eine ge­radezu unheimlich wirkende Gestalt kam den Weg herunter. Es war eine Frau! Sie war verschleiert und tief in Schwarz gekleidet. Wie eine Schlafende kam sie langsam näher; Schritt für Schritt, nicht rechts und nicht links schauend.

»Die Hexe!«, flüsterte Jonny.

Der Weltdetektiv regte sich nicht. Seine Augen bohrten sich förmlich in die Gestalt der Näherkom­menden. Ja, darüber konnte kein Zweifel bestehen: Es war Frau Dougdan, die als Hexe bezeichnete Witwe, die in der Villa am Ende der Stadt hauste. Aber wie sonderbar! Kam sie nicht just aus jenem Winkel, wo der seltsame Radfahrer die Mauer über­klettert hatte? Befand sich etwa dort das Erdbegräb­nis, das die Schlafwandlerin oft zu nächtlicher Stun­de auszusuchen pflegte?

Mit zusammengepressten Lippen lag Sherlock Holmes hinter dem Busch und ließ die Frauengestalt nicht mehr aus den Augen. Sie wandte sich dem Ausgang zu und verschwand auf der Landstraße. Sherlock Holmes Hirn arbeitete fieberhaft. Kühne Kombinationen durchzuckten ihn. Kombinationen, die jedoch erst durch lückenlose Beweise zu erhärten waren.

»Folge der Frau!«, raunte er Jonny zu. »Ich werde mir jene Friedhofsecke«, er deutete zum Erdbe­gräbnis hinüber, »inzwischen ein wenig genauer ansehen. Erwarte mich in der Nähe des Spukhau­ses.«

Jonny glitt wie ein Schatten davon. Sekunden spä­ter war auch er in der Nacht verschwunden. Sherlock Holmes war auf dem Friedhof allein. Er huschte zu jener Stelle, an der der Radfahrer die Mauer über­klettert hatte, und fand bald die Spur, die übe reinige Gräber hinweg direkt zu einem der Erdbegräbnisse führte.

Hier ruht die Familie Dougdan, stand an der Tür. Der Weltdetektiv runzelte die Stirn. Was für ein Rätsel waltete hier? Die Spur verriet, dass der Radfahrer sich hier zu dieser Gruft begeben hatte. Und von hier war auch die Schlafwandlerin gekom­men!

Er zog eine Anzahl Schlüssel hervor, aber keiner passte. Selbst sein Universalschlüssel versagte. So blieb ihm nichts anderes übrig, als von dem Schloss einen Wachsabdruck zu nehmen.

Mit finsteren Blicken maß er das Erdbegräbnis. Dann aber zuckte es seltsam in seinen klugen, grauen Augen auf.

»Sehr schlau«, murmelte er, »aber doch nicht schlau genug!« Ein spöttisches Lächeln huschte für kurze Augenblicke über sein scharfgeschnittenes Antlitz. Dann wandte auch er sich zum Gehen, um gleich darauf die Stätte des Friedens zu verlassen.

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