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Detektiv Nobodys Erlebnisse und Reiseabenteuer Band 1 – Teil 2

Detektiv Nobodys Erlebnisse und Reiseabenteuer
Nach seinen Tagebüchern bearbeitet von Robert Kraft
Band 1
Kapitel 1, Teil 2

Im Speisesalon fand die letzte Mahlzeit statt. Von dem Verkauf seiner Schmucksachen war nichts bekannt geworden, wohl aber hatte sich schnell verbreitet, wie er im Zwischendeck viele tausend Dollar verteilt, wie er seine ganze Garderobe verschenkt hatte. Was sollte man davon denken? Salden saß mit an der Tafel, aber auch in der letzten Minute löste er nicht das Rätsel, das ihn umgab, war unnahbar wie immer.

Und der Schluss dieser Reise sollte erst den Anfang des allergrößten Rätsels bilden.

Auf dem einsamen Meer wurde es lebendig, überall tauchten Lichterchen auf, deren Zahl ständig zunahm. Man näherte sich der Küste, dem Hafen, wenn man auch noch immer einige Stunden davon entfernt war.

Es war eine warme Sommernacht, aber stockfinster.

Ungefähr eine Stunde vor Mitternacht war es, als sich vorsichtig, manchmal um sich spähend, ein Mann zu dem äußersten Hinterteil des Schiffes schlich, wo sich das Reservesteuerrad für die höchste Not befindet, gerade über der Schraube, welcher Teil des Schiffes für die Passagiere streng geschlossen ist.

Es war Salden. Dort, wo das von der Schraube aufgewühlte Kielwasser phosphoreszierend brandete, angelangt, blickte er nochmals um sich. Kein Matrose, kein Mensch war in der Nähe. Schnell zog er aus der Brust eine Brieftasche, entnahm ihr einige Papiere, zerriss diese und ließ die Stückchen über Bord flattern. Dann warf er die Ledertasche selbst ins Wasser.

»Vernichtet für immer ist mein Name«, murmelte er, »nun gilt es bloß noch meine eigene Persönlichkeit.«

Ehe er den Satz vollendet, hatte er die Hände auf die Bordwand gelegt und … war mit einem Hechtsprung kopfüber in der Flut verschwunden!

Als er wieder auftauchte, war er außerhalb des Bereiches der gefährlichen Schraube, aber dort rauschte die PERSEPOLIS als ein feuriges Ungetüm mit Hunderten von glühenden Augen mit ungeschwächter Schnelligkeit davon, und kein Ruf Mann über Bord! war erschollen.

Und der Selbstmordkandidat befand sich in der heitersten Stimmung.

»Willkommen, mein liebes Meer!«, erklang es jauchzend aus den schäumenden Wogen. »Kennst du mich noch? Bisher bin ich deinem unersättlichen Magen unverdaulich gewesen, denn schon dreimal verschlucktest du mich, und dreimal spiest du mich wieder aus. Hast du es diesmal anders mit mir vor? Nun, Meer, schlag zu; wir wollen sehen, wer stärker ist, ich oder du! Und wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben!«

Mit diesen Worten hatte er sich den Kragen abgeknöpft – also nicht abgerissen, wie es wohl jeder andere gemacht hätte, wenn er sich im Wasser dieses Kleidungsstückes entledigen wollte – sondern hatte ihn fein säuberlich abgeknöpft. Einstecken tat er ihn nicht, sondern ließ ihn mit dem Schlips schwimmen. Dann zog er den schwarzen Gehrock aus, hierauf kamen die Stiefeletten daran, und dass er dabei mit dem Kopf unter das Wasser musste, genierte ihn nicht im Geringsten, wie man überhaupt auf den ersten Blick bemerkte, dass er ein gottbegnadeter Schwimmkünstler war, eine Seehundnatur. Als auch die Strümpfe von den Füßen waren, kamen die Hosen daran, dann die Unterwäsche, und das alles wurde so recht hübsch gemächlich ausgezogen, da wurde kein Band abgerissen, schließlich streifte er sich auch noch das Hemd über den Kopf, und nun, so wie ihn der liebe Gott erschaffen hatte, ging es mit mächtigen Stößen vorwärts, dorthin, wo in der Ferne die meisten Feuer leuchteten.

In den letzten Tagen war die See sehr aufgeregt gewesen, nun wieder geglättet, wenigstens hatte man von dem hohen Schiff aus nur eine leicht gekräuselte Wasseroberfläche gesehen … aber wenn man selbst im leicht gekräuselten Ozean liegt – ei die Dunnerwetter! würde da wohl mancher sagen – denn da geht es noch immer bergauf und talab, das Wasser schlägt dem ungeschickten Schwimmer noch oft genug über dem Kopfe zusammen.

So wurde also auch Salden noch tüchtig vom Wellenschlag des Ozeans geschaukelt, aber er war eben ein ausgezeichneter Schwimmer, mit jedem Stoß legte er mindestens zwei Meter zurück, und dann ging es wieder einmal Hand über Hand.

Ein in weiter Entfernung vorüberstreichender Dampfer verkündete durch acht Glasenschläge die Mitternachtsstunde. Schon eine Stunde also schwamm Salden so kraftvoll, und da war noch keine Spur von Ermüdung zu merken.

Noch eine Stunde verging, aber dem Schwimmer nicht die Kraft. Nun hatte er sich ein bestimmteres Ziel gewählt. Das große Lichtermeer, dem er immer näherkam, ließ er links liegen und hielt auf einen kleineren Komplex von erleuchteten Fenstern zu, welche einsam aus der dunklen Nacht hervortraten.

»Die Insel Manhattan, auf welcher New York liegt, ist es auf alle Fälle«, murmelte er, »und meiner Ansicht nach, welche bei einem neugeborenen Kind freilich nicht viel gilt, ist das dort ein einsames Badehotel, und wenn sich das neugeborene Kindlein nicht irrt, so sollte mich das sehr freuen, dann würde ich mich dort gleich in die Wiege legen, und bei dieser Geschichte bekommt man auch Appetit.«

Noch eine halbe Stunde, und er bekam bei einem Versuch, Grund zu finden, feinen Sand unter die Füße, er begann zu waten, und immer deutlicher konnte er nun die Umrisse eines großen Gebäudes mit einigen erleuchteten Fenstern erkennen.

Er hatte noch immer lange Zeit zu waten, der Badegrund stieg nur allmählich an. Als ihm das Wasser nur noch bis an die Knie ging, zuckte er plötzlich etwas zusammen, blieb stehen und hob den einen Fuß, um den Splitter daraus zu entfernen, den er sich eingetreten hatte.

»Eine Stecknadel! Wahrhaftig, eine Stecknadel! Der Himmel hat mir für meinen neuen Lebenslauf das erste Bekleidungsstück geschenkt!«

Er behielt dieses erste Bekleidungsstück in der Hand und hatte nun bald den trockenen Strand erreicht. Auf diesem standen viele elegante Badehütten, er untersuchte einige Türen und fand sie alle fest verschlossen, aufbrechen tat er keine.

Da sah er im Dunkeln am Boden etwas Weißes leuchten, er hob es auf – ein Bogen Zeitungspapier.

»Aaagh, Adams Feigenblatt ist auch schon gefunden! Wenn der Himmel weiter mir so gnädig gesinnt ist, betrete ich dort das Hotel noch als tadellos gekleideter Gentleman. Ein Glück nur, dass ich die Stecknadel aufgehoben habe. Ich habe es immer gesagt: Der Mensch soll sparsam sein, soll auch gar nichts fortwerfen, nicht einmal eine Stecknadel. Also machen wir Toilette.«

Sein Körper war bei dem langen Waten im seichten Wasser schon trocken geworden, so wickelte er sich den Bogen Papier um die Hüften und steckte die Ränder mit der Nadel fest.

So kostümiert, marschierte er direkt auf das hellerleuchtete, noch geöffnete Portal zu, in welchem er mehrere Personen unterscheiden konnte, und was er da sah, das genierte ihn alles nicht, das Portal zu betreten.

Es war richtig ein Hotel, ein Badehotel, welches nur in der Sommersaison ständige Gäste aufnimmt.

Nun, in der zweiten Nachtstunde, war schon alles ruhig. Aber das Dienstpersonal, weibliches und männliches, hatte doch noch bisher zu tun gehabt, soeben gaben alle die, welche Schlüssel unter sich hatten, diese an der Portierloge ab.

»Good morning Ladies and Gentlemen.«

Einen Moment Todesstille, und dann ein furchtbares Kreischen, und verschwunden war plötzlich alles, was einen Weiberrock getragen hatte.

Steht da plötzlich mitten unter ihnen ein nackter Kerl! Ein Glück nur, dass die Stecknadel das bisschen Papier zusammenhielt.

Der Portier aber und die Kellner und die anderen dienstbaren Geister männlichen Geschlechts reckten den Hals immer weiter heraus und machten immer größere Augen.

»Was … ist … denn … das?«

Der nackte Mann ließ sich nicht beirren, und nun war er ein total anderer als noch vor zwei Stunden an Bord der PERSEPOLIS.

Gravitätisch setzte er das eine nackte Bein vor, stemmte die eine Hand in die Hüfte, die andere streckte er aus, und so sagte er in schnarrendem Tone mit abgerissenen Worten: »… ääääääähhhh … ein Zimmer … erste Etage … vorn heraus … mit Salon … mit Bad … mit Wasserklosett … mit musikalischem Wasserklosett … wenn man sich draufsetzt, muss es den Priesterchor aus der Zauberflöte mit voller Posaunenbegleitung und Paukenschlag spielen …«

So schnarrte der nackte Mann im affektiertesten Ton. Und was sagten der Portier, die Kellner und die anderen dazu?

So etwas, wie hier geschildert, und was dann noch weiter geschah, ist in keinem anderen Land möglich als nur in Amerika – um einen modernen und äußerst zutreffenden Ausdruck zu gebrauchen: im Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

In Deutschland und in jedem anderen Land, England vielleicht nicht ausgeschlossen, wäre doch sofort die Polizei geholt und der nackte Eindringling, der sich so benahm, auf die Wache oder gleich ins Irrenhaus gebracht worden. Nicht so in Amerika.

Dazu aber müssen wir den nackten Mann erst einmal mit den Augen des Hotelpersonals betrachten.

Sie sahen eine schlanke Männergestalt, aber der Körper ausgebildet wie der eines Athleten, die kleinste Muskel trat wie gemeißelt hervor – und sie sahen die wohlgeformten Füße, ebenso mit peinlicher Sorgfalt gepflegt wie die schlanken Hände – und im Augenblick war ihnen alles klar; das war so ein Faxenmacher vom Athletic-Klub, dem vornehmsten Klub New Yorks, dem lauter solche Dandies angehören, welche nicht wissen, wie sie Zeit und Geld totschlagen sollen, hier handelte es sich einfach um eine tolle Wette.

Also die dienstbaren Geister verbissen ihr aufsteigendes Lachen und waren wie die Ohrwürmchen um den sonderbaren Gast herum, denn da gab es natürlich dann, wenn es zur Auflösung kam, fürstliche Trinkgelder.

»Sehr wohl, mein Herr, ein Zimmer vorn heraus. Wünschen der Herr vielleicht noch zu speisen?«

»Speisen, jawohl … auf meinem Zimmer … Weinkarte … und eine Spielkarte … ganz neu … und ein Nachthemd … braucht nicht ganz neu zu sein.«

»Sehr wohl, mein Herr.«

Gut, der späte Gast, dessen ganzes Gepäck in einer Stecknadel und in einem Zeitungsblatt bestand, wurde in ein prachtvolles Schlafzimmer geführt, in dem nichts weiter fehlte als das Wasserklosett mit Musik. Zuerst brachte ihm der Kellner ein langes Nachthemd, Salden, wie wir ihn vorläufig noch nennen wollen, bestellte eine Flasche des teuersten Champagners, die Küche lieferte noch immer ein ausgewähltes Souper. Auf einem Teller lagen auch die gewünschten Spielkarten.

»Wünschen der Herr sonst noch etwas?«

»Nein, für jetzt nichts mehr. Morgen früh den New Yorker Herald und andere Morgenzeitungen.«

»Sehr wohl, mein Herr.«

Der Kellner wünschte Gute Nacht und ging, der Gast schloss sich ein, um die Mahlzeit im Nachthemd einzunehmen, und dann konnte der kuriose Kauz für sich allein auch noch eine Partie Karten spielen – oder für sein künftiges Schicksal sich die Karten legen.

Unterdessen wälzten sich unten die Kellner und Dienstmädchen vor Lachen. Besonders über das musikalische Wasserklosett mit Posaunenbegleitung und Paukenschlag konnten sie sich gar nicht wieder beruhigen. Wenn nur erst der helle Tag anbräche, dass man sehen konnte, wie sich das noch weiterentwickelte, was sich aus dem nackten Fremdling noch entpuppte.

 

Die Morgenzeitungen waren nach und nach gekommen, und da der rätselhafte Gast sie doch auf sein Zimmer bestellt hatte, durfte der Kellner es wagen, die Zeit des Wiedersehens abzukürzen, er klopfte an die Tür.

»Come in!«

Der Riegel konnte durch einen Mechanismus vom Bett aus zurückgeschoben werden, der Kellner trat ein.

Salden lag noch im Bett, die Schüsseln und die Flasche waren geleert, aber das Spiel Karten verschwunden.

»Hier sind die gewünschten Morgenzeitungen.«

»Geben Sie her!«

»Befehlen der Herr das Frühstück?«

»Jawohl, das Frühstück. Es darf etwas ausgiebig sein. Und Seife und Kamm usw.«

Der Kellner brachte mit mehreren Gängen alles Verlangte. Salden las im Bett die Zeitungen.

»Halt«, kommandierte er, als sich der Kellner wieder entfernen wollte, »wem gehört dieses Hotel?«

»Mr. Ephram.«

»Ist er anwesend? Ist er zu sprechen?«

»Während der Saison ist Mr. Ephram immer anwesend. In einer Stunde wird er zu sprechen sein.«

»Gut, ich möchte ihn dann sprechen. Halt! Kennen Sie die dem Meer entstiegene, schaumgeborene Venus, auch Aphrodite genannt?«

Der Kellner machte ein sehr dummes Gesicht.

»Nein, diese Dame ist mir leider unbekannt.«

»Schade. Die bin ich auch nicht – aber ihr Bruder. Rufen Sie den Hotelier, ich muss ihn sprechen, ehe ich hier noch mehr Schulden mache.«

Als sich der Kellner entfernte, war ihm etwas unwirsch im Kopf. Wenn er den Herrn sonst auch gar nicht verstanden hatte, so summte ihm doch immer das fatale Wort Schulden in den Ohren.

Der Hotelbesitzer kam. Er hatte schon von seinen Leuten alles erfahren, es hatte ihn sehr amüsiert, schließlich war er doch auch ein Mensch, freilich mehr noch Geschäftsmann.

Salden hatte das Bett verlassen und sich gewaschen, sonst aber empfing er den Hotelier natürlich im Nachthemd.

»Sie wünschten mich zu sprechen, mein Herr? Ich bin der Besitzer dieses Hotels. Ephram ist mein Name.«

Das Nachthemd machte eine tadellose Verbeugung.

»Sehr angenehm. Nobody ist mein Name.«

Auch den Hotelbesitzer befiel plötzlich eine unangenehme Empfindung. Jetzt hätte der vornehme Faxenmacher wenigstens seinen Namen nennen müssen. Denn Nobody heißt auf Deutsch Niemand. Das war also der Herr Niemand. Nun gibt es im Englischen allerdings diesen Namen, auch im Deutschen, aber … die ganze Geschichte gewann nun doch den Anschein, als habe man es mit einem Individuum zu tun, das seinen Namen nicht nennen wolle.

Und das sagte der vormalige Salden dem Hotelier denn auch gleich offen heraus, immer höflich, aber auch etwas von oben herab, und den Mann dabei immer fest anblickend.

»Sie werden erfahren haben, unter welchen außergewöhnlichen Umständen ich diese Nacht Ihr Hotel betreten habe. Ich schulde Ihnen ein Zimmer, ein Souper, ein Flasche Champagner und noch mehreres andere. Ehe ich noch weitere Schulden mache, teile ich Ihnen mit, dass ich keinen Cent besitze, vollständig mittellos bin, und bitte Sie dennoch, mich nicht für einen Hochstapler oder Zechpreller halten zu wollen.«

Wohl stutzte der Direktor noch mehr als zuvor, aber war dies die Sprache und das Benehmen eines Hochstaplers?

Und dann diese merkwürdigen Augen, sie schlugen den Hotelier wie in einen Bann.

»Ja, wer sind Sie da aber, mein Herr? Wo haben Sie Ihre Kleider gelassen? Wie sind Sie in solch eine Lage gekommen?«

Mr. Nobody, wie er sich nun nannte, nahm vom Tisch den New Yorker Herald und hielt ihn dem Hotelier entgegen, auf eine bestimmte Stelle deutend.

»Haben Sie diesen heutigen Artikel schon gelesen?«

Ein mysteriöser Vorfall an Bord des Schnelldampfers PERSEPOLIS.

So lautete die fettgedruckte Überschrift des Sensationsartikels. Als die PERSEPOLIS heute früh bei Tagesanbruch am Quai beigelegt hatte, waren, wie gewöhnlich, die Berichterstatter der verschiedenen Zeitungen an Bord gekommen, um über eventuelle bemerkenswerte Begebenheiten während der Reise zu forschen.

Ja, da konnte man allerdings etwas erzählen. Ein Passagier war heute über Nacht plötzlich verschwunden, hatte anscheinend Selbstmord begangen.

Als die PERSEPOLIS Long Island passierte, waren – unvermutet früh – die amerikanischen Zollbeamten mit der üblichen Polizeibegleitung an Bord gekommen, die noch schlafenden Passagiere wurden mit amerikanischer Rücksichtslosigkeit sofort geweckt, um zunächst ihr Handgepäck untersuchen zu lassen.

Ein Passagier fehlte – Mr. Eugen Salden. Ein Steward begab sich zunächst zu der Kabine, an deren Tür er vorhin stark geklopft hatte, er tat es auch jetzt, keine Antwort, er öffnete die unverschlossene Tür, Mr. Salden war nicht darin – aber sofort erblickte der Steward ein großes Stück Pappe, auf welches mit dicken Buchstaben geschrieben war:

Ich, der ich mich Eugen Salden nannte, springe heute Nacht um elf Uhr über Bord.

Der Selbstmordkandidat verhinderte durch diese letzte Mitteilung das Durchsuchen des ganzen Schiffes nach seiner fehlenden Person.

Ein Selbstmordkandidat? Nun begannen die rätselhaften Aussagen der Passagiere und Angestellten, welche ihn beschreiben wollten – rätselhaft dadurch, dass sich ihre Angaben so widersprachen.

Bartlos, ja, darin waren sie sich einig, aber das war auch das einzige.

»Noch nicht zwanzig Jahre alt. – Mindestens vierzig. – Klein. – Mir kam er sehr groß vor. – Ein rücksichtsloser Patron. – Ungemein höflich und zuvorkommend …«

Und so ging es weiter, bis schließlich wieder alle darin übereinstimmten: »Es war eine ganz eigentümliche, rätselhafte Persönlichkeit, die jedem sofort auffallen musste.«

Bevor er in den Tod ging, hatte er alles verschenkt, was er besaß. Es wurde konstatiert, dass er im Zwischendeck fast 6000 Dollar verteilt hatte, dem irländischen Auswanderertrupp hatte er ja allein 5000 Dollar geschenkt. Nun erzählte auch der Tabakagent, wobei er sich gar nicht zu kompromittieren brauchte, wie ihm jener Mann seine Wertsachen angeboten hatte, er zeigte die goldene Uhr und die anderen Kleinodien. Seine Koffer, die er mit Restinhalt dem Steward geschenkt hatte, mussten geöffnet werden. Alles aufs feinste. Allein das große Toilettennecessaire verriet den geborenen Elegan. Aber kein Name, kein Monogramm in der Wäsche, gar nichts.

Warum hatte er Selbstmord begangen? Aus Geldnot sicherlich nicht. Der nächste oder sogar der erste Grund ist immer die Liebe.

»Gewiss, er trug eine unglückliche Liebe in seinem Herzen«, flötete eine Dame, »ich sah es ihm sofort an, ich ahnte ein Unglück, er sah so unsäglich melancholisch aus.«

»I Gott bewahre, der hatte überhaupt gar kein Herz im Leib, er sah aus, als ob er das Phlegma selbst wäre.«

Warum hatte er den Selbstmord erst kurz vor New York begangen, wo er doch auf dem hohen Ozean viel sicherer seinen Tod gefunden hätte?

»Er hat die Ausführung seines entsetzlichen Vorhabens immer und immer wieder hinausgeschoben, es fehlte ihm an Mut, er sah auch so energielos aus.«

»I Gott bewahre! Das war ein Mann, der nicht in der Ausführung eines einmal gefassten Entschlusses schwankt; das war ein Mann mit einer rücksichtslosen Energie, die alles unter die Füße tritt.«

Je mehr man fragte und über den Fall grübelte, desto unergründlicher wurde das Rätsel nur.

Die Zeitungsreporter bemächtigten sich dieser Sache mit Heißhunger und fabrizierten in aller Geschwindigkeit die sensationellsten Berichte. Wohl waren diese etwas übertrieben, aber aus Wahrheit beruhten sie dennoch – ja, sie gaben die Größe des Rätsels nicht einmal wieder, wie es in Wirklichkeit war. Das konnte erst mit der Zeit geschehen.

 

»Ich habe diesen Artikel bereits gelesen, es steht davon in allen Zeitungen«, sagte der Hotelier, und mit einem erstaunten Blick auf den Mann im Nachthemd setzte er hinzu: »Das sind doch nicht etwa Sie?«

»Ja, das bin ich, aber jetzt nicht mehr Eugen Salden, was auch nur ein angenommener Name war, sondern Nobody – ein Niemand.«

»Sie haben den Tod in den Wellen nicht finden können?«

»Nicht finden wollen. Ich habe nicht daran gedacht, einen Selbstmord zu begehen. Ich sprang in der Nähe des Hafens ins Wasser, um schwimmend die Küste von Amerika zu erreichen, im Wasser entkleidete ich mich vollständig, und das weniger deshalb, weil mich die Kleidung am Schwimmen hinderte, als vielmehr, weil ich das amerikanische Festland völlig mittellos, so wie Gott jeden Menschen zur Welt kommen lässt, betreten wollte …«

»Ah, es handelt sich um eine Wette?«, rief der Hotelier, der als Yankee, wenn auch sonst ein trockener Geschäftsmann, für alles Exzentrische schwärmte.

»Nehmen Sie an, es handele sich um eine Wette. Erst aber etwas anderes. Ich musste wohl länger als zwei Stunden schwimmen …«

»Zwei Stunden im offenen Meer, kolossal!!«

»Es war ein Zufall, dass ich gerade hier vor ihrem Hotel landete. Ich hatte Hunger und Durst und war müde. Ich bestellte, ohne zu sagen, dass ich nicht bezahlen könne. Ich kann es auch jetzt noch nicht. Mein ganzes Besitztum besteht in einer Stecknadel und einem Bogen Zeitungspapier, und auch das gehört eigentlich Ihnen, denn ich habe es auf Ihrem Grund und Boden gefunden. Sie könnten mich jetzt als Zechpreller der Polizei ausliefern …«

»O, mein Herr!«, unterbrach ihn der Hotelier mit abwehrender Handbewegung. »Für wen halten Sie mich denn? Sie haben doch den armen Leuten im Zwischendeck 6000 Dollar geschenkt!«

»Halt! Dies ändert an der Sachlage nichts. Ich habe das Geld eben verschenkt, und ich bin nicht der Mann, ein Geschenk wieder zurückzufordern. Doch Sie haben recht, wenn Sie nach allem, was Sie hier gelesen haben, mir vertrauen. Es handelt sich tatsächlich um eine Wette, nur dass ich diese nicht mit einem anderen, sondern nur mit mir selbst abgeschlossen habe. Das heißt, ich habe mir die Ausführung eines Experimentes vorgenommen. Zahllose Auswanderer landen alljährlich in Amerika, mehr oder weniger mit Geld ausgestattet, sie alle sind von den optimistischsten Hoffnungen beseelt, sie alle gedenken in der neuen Welt eine sichere Existenz zu finden, mehr noch, träumen gleich von Reichtümern, die sie sich durch Arbeit oder Spekulation erbeuten werden, und je mehr jemand Kapitalien mitbringt, desto schneller hat er sich im Traum zum zweiten Vanderbilt gemacht. Wie diese Träume meistenteils zu Wasser werden, ist Ihnen selbst bekannt.

Ich aber wollte diesen Erdteil hilflos und nackt betreten, wie mich der liebe Gott erschaffen hat, fremd, unbekannt, kein einziger Mensch soll wissen, wer ich bin, wie ich früher hieß – und noch an demselben Tag, also heute, will ich ein Einkommen von jährlich mindestens 100.000 Dollar besitzen.«

»Von … wie viel?«

»Von 100.000 Dollar – mindestens.«

Dass der Hotelier nun ein etwas ungläubiges Gesicht machte, war begreiflich. Er musste auch daran denken, ob er nicht vielleicht einen Geistesgestörten vor sich hatte.

»Zunächst«, fuhr der kleine Krösus im geborgten Nachthemd fort, »muss ich Ihnen beweisen, dass ich auch wirklich kreditfähig bin. Es ist Ihnen vielleicht bekannt, dass ich mir vom Kellner eine Spielkarte geben ließ?«

Der Hotelier bejahte sehr verwundert. Auf welche Weise wollte der sich denn durch diese Spielkarte Kredit verschaffen?

»Ich führe an, dass ich eine Spielkarte bei mir habe, damit Sie sich vor mir nicht etwa fürchten«, meinte Nobody. »Übernatürliche Kräfte besitze ich nicht, auch bei mir geht alles mit natürlichen Dingen zu. Geschwindigkeit ist keine Hexerei.«

Mit diesen Worten hatte er den rechten Ärmel des Nachthemdes bis weit zur Schulter hochgekrempelt, und auch der Hotelier staunte über den Arm, den er zu sehen bekam – nicht riesenhaft, nicht herkulisch, aber dennoch von einer Muskelentwickelung, wie der Mann so etwas eben noch nicht gesehen hatte.

»Sie sehen meine Hand, ich habe nichts darin.«

Dicht vor den Augen des Direktos drehte er die erhobene Hand mit gespreizten Fingern hin und her. Auch diese Hand fiel dem Hotelier auf, so schlank, so wohlgepflegt und dennoch strotzend von Muskeln. Jetzt wusste er, dass er einen Taschenspieler vor sich hatte. Doch was für ein außergewöhnliches Kunststück will man denn heutzutage mit Karten noch vormachen?

»Ich habe nichts in der Hand?«

»Gewiss nicht.«

»Welche Karte soll ich aus der Luft greifen?«

»Pik-As.«

Wie es geschah, d. h., welchen Eindruck es machte, lässt sich nicht beschreiben. Der Taschenspieler griff in die Luft, die Karte wuchs ihm aus dem dem Beobachter abgekehrten Handteller heraus, durch die eigentümliche Bewegung aber sah es gerade so aus, als zöge er die Karte aus der Luft – kurz und gut, plötzlich hielt er zwischen seinen Fingern das Pik-As.

Der Hotelier war starr vor Staunen. Wohl hatte er derartige Kunststücke und auch ganz dieses selbe schon oft genug gesehen, aber doch nie in solcher Nähe, so dicht vor den Augen, und dann war die Täuschung auch niemals eine solch überzeugende gewesen; der Hotelier hätte gleich schwören mögen, dieser Mann hatte die Karte wirklich aus der Luft gegriffen.

»Wie in aller Welt machten Sie denn das? Wo bekamen Sie die Karte denn nur plötzlich her?«

Der Taschenspieler blieb die Erklärung schuldig.

»Geschicklichkeit ist so wenig Hexerei wie Geschwindigkeit. Nennen Sie eine andere Karte.«

»Herz-Dame.«

Genau wieder dasselbe, und so noch mehrmals. Der Taschenspieler zog die gewünschte Karte aus der Luft, aus dem Knie des Hoteliers, aus dessen Nase, also immer dichter vor seinen Augen, und der Mann konnte absolut nicht begreifen, woher jener die Karten nahm, wie er sie plötzlich in seine Hand schmuggelte.

»Bitte, da sagen Sie mir doch, wie Sie das nur machen«, schmeichelte immer wieder der Yankee, der sonst gar nicht danach aussah, als ob er über solche Kunststückchen die Fassung verlieren könnte. »Wo haben Sie nur die Karten? Wenn Sie es mir nicht erklären, glaube ich wirklich noch an Zauberei.«

»Es geht ganz natürlich zu, aber solch ein Geheimnis darf man nicht verraten. Glauben Sie, dass ich sofort von einer Variété-Bühne engagiert werde? Und ich kann nämlich noch ganz andere Sachen.«

»Aber natürlich«, rief der Hotelier begeistert. »Mann, Sie sind ja im Besitz einer Goldquelle! 25 Dollar für jede Vorstellung – nein, 50 Dollar und noch mehr – wenden Sie sich sofort an Mr. Lewis, ich kenne ihn persönlich, er ist mein Freund, er kommt gleich her, wenn ich zu ihm schicke …«

»Wer ist das, Mr. Lewis?«

»Der artistische Direktor vom Atlantic-Garden. Kennen Sie den Atlantic-Garden? Das größte Vergnügungsetablissement von New York, der Variété-Saal fasst 8000 Zuschauer. Doch nein, solche Kartenkunststücke sind auf der Bühne in einem so großen Saal nicht wirksam. In Klubs müssen Sie sich produzieren, 100 Dollar für die Vorstellung, Sie brauchen nur erst einmal einen Anfang gemacht zu haben, dafür kann ich sorgen, dann haben Sie für jeden Abend eine Bestellung, die reichen Klubs überbieten sich …«

»Und ich sage Ihnen, ich werde dennoch im Atlantic-Garden auftreten, und das schon heute Abend, aber nicht für 25 Dollar, sondern für 250 Dollar, denn, wie schon erwähnt, ich kann noch etwas ganz anderes, was in Amerika noch kein Mensch gesehen hat. Jetzt, Mr. Ephram, wollte ich Sie bitten, mir den Berichterstatter einer großen Zeitung, womöglich des New Yorker Herald, zuzuführen, der mich interviewt.«

»Das wollte ich Ihnen bereits vorhin sagen«, beeilte sich der Hotelier zu entgegnen, »und das passt vortrefflich. Mr. Law, der für den New Yorker Herald berichtet, ist gerade hier bei mir …«

»Ein gewöhnlicher Reporter?«

»O nein, was meinen Sie wohl! Das ist kein Reporter, welcher sofort den Bleistift vom Leder zieht, wenn ein Droschkengaul stürzt. Mr. Law ist Korrespondent und politischer Interviewer, im letzten Krieg bekam er einen großen Dampfer zur Verfügung gestellt, mit dem er die englische Kriegsflotte begleitete, der steht sich glänzend, und er hätte es nicht einmal nötig, er hat die Tochter von H. P. World geheiratet, sein einziges Kind. Sie kennen doch H. P. World?«

»Wer ist das?«

»Der größte Verlagsbuchhändler von New York, von Amerika, ein vielfacher Millionär.«

»Was verlegt er?«

»Romane, Jugendschriften. Er verlegt alles, wenigstens immer das, womit ein Geschäft gemacht wird. Die ganze Familie ist jetzt bei mir zur Sommerfrische.«

»Bitte, wenn sich Mr. Law zu mir bemühen will. Im Hemd kann ich ihm wohl nicht meine Aufwartung machen.«

»Nein, nein, Sie müssen auch noch Ihr Hemd ausziehen«, rief der Hotelier, schon in der offenen Tür stehend, noch zurück.

» Glück wie immer«, murmelte Nobody, als er allein war, griff in die rechte Achselhöhle und brachte aus diesem Versteck die Karten zum Vorschein, welche er vorhin nicht gezogen hatte.

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