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Nick Carter – Zur Strecke gebracht – Kapitel 7

Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Zur Strecke gebracht
Ein Detektivroman

Nick Carters Kampf auf der Lokomotive

Der Cabby, welcher den Detektiv vom Metropolitan Opera House zu dem Grand Central Depot gefahren hatte, war nicht wenig überrascht, als statt seines modisch gekleideten Fahrgastes ein katholischer Geistlicher den Wagen verließ. Kopfschüttelnd schaute er dem eine goldene Brille tragenden und mit langer schwarzer Soutane bekleideten Seelenhirten nach, der würdevollen Schrittes in die geräumige Vorhalle des Riesengebäudes eintrat.

Das verblüffte Gesicht des braven Kutschers fiel einem der Gelegenheitsarbeiter auf, welche ihren Lebensunterhalt durch Öffnen und Schließen der Kutschentüren oder vielmehr vermittels der bei solchen Handreichungen ergatterten Trinkgelder fristen.

»Well?«, sagte er, eben dabei, den Schlag wieder zu schließen. »Was für ein Knicker ist denn das? Noch nicht mal einen Nickel für mich?«

»Mir hat er auch nur einen Dollar bezahlt«, knurrte der Kutscher. »Weiß der Teufel, wer es ist … Wie er vor dem Opernhaus einstieg, da war er ein Stutzer … Und nun steigt er als Pfarrer aus … Ich habe gar nicht gewusst, dass man in meinem Rumpelkasten so schnell geistlich werden kann.«

»Weiterfahren!«, rief der nächste Policeman ärgerlich und machte der Unterredung dadurch ein schnelles Ende. Der Gelegenheitsarbeiter schien die Lust verloren zu haben, weitere Wagentüren zu öffnen. Er verschwand in der Schalterhalle und sah gerade den katholischen Geistlichen unter einer der zu der riesigen Abfahrtshalle führenden großen Flügeltüren verschwinden. Wie ein Blitz schoss der Arbeiter zum Fahrkartenschalter. »Entschuldigen Sie bitte«, fragte er das als Verkäuferin tätige ältliche Fräulein, »der Reverend hat noch Gepäck im Wagen gelassen … Welches Ticket nahm er?«

»Pullmancar Chicago … Sie meinen doch den katholischen Geistlichen?«

Der Arbeiter nickte und eilte zum Perron weiter. Doch obwohl er den anscheinenden Priester wahrnahm, der gerade hurtig die lange Wagenreihe hinunterschritt, würdigte er ihn kaum eines Blickes, geschweige denn, dass er hinter ihm herlief. Er setzte erst seine Füße in rascheste Bewegung, als er wahrgenommen hatte, wie der geistliche Herr, gestützt von einem der farbigen Porter, die vorderste Pullmancar erstieg. Dann schoss er an der ungewöhnlich langgestreckten Car vorüber, passierte auch noch den nicht minder langen Gepäckwaggon der Expressgesellschaft und hatte die Sekunde darauf die fauchende, abfahrbereite Lokomotive erreicht.

Vorsichtig spähte der Mann umher, ob ihn keiner beobachtete. Dann, als sein Rundblick zu seiner Befriedigung ausgefallen war, huschte er unmittelbar vor der Lokomotive quer über das Geleise und kam derart auf die andere Seite der Maschine – gerade in dem Moment, als mit einem kurzen Pfiff sich das Ungetüm zischend und fauchend in Bewegung setzte.

Langsam drehten sich die Räder. Der Glasverschlag mit dem Maschinisten darin rollte an dem so seltsam sich Gebärdenden vorüber; dann kam der Tender mit dem Heizer. Der Letztere musste den dicht neben dem Geleise Kauernden wahrnehmen, denn er beugte sich über die Eisenbrüstung. Durch das Puffen und Stoßen der Maschine erreichte deutlich der Zuruf seine Ohren: »Nick Carter ist im Zug … Pullmancar … als katholischer Geistlicher verkleidet!«

Dann schoss die Lokomotive vorüber. Immer schneller glitt auch der Gepäckwagen an dem Gelegenheitsarbeiter vorbei. Nun war die vordere Plattform des Pullmanwagens mit ihm in gleicher Höhe. Auf ihr stand der Geistliche, um die Luft zu genießen oder einen letzten Blick auf die Riesenhalle des Bahnhofs zurückzuwerfen. Sein Anblick genügte, um den Mann auf dem Perron noch tiefer sich niederducken zu lassen, um nicht gesehen zu werden.

Doch gerade diese schnelle Bewegung erregte den Argwohn Nick Carters.

Der berühmte Detektiv besaß die Eigenschaft, mit seinen Blicken überall zugleich sein zu können. Der anscheinende Gelegenheitsarbeiter, der ihm vor dem Bahnhof den Wagenschlag geöffnet hatte, war auf den ersten Blick von ihm erkannt worden. Trotz der schmierigen Kleidung, welche der Kerl trug, war sein Gesicht unverändert geblieben – und Nick Carter wusste augenblicklich, dass der Mann zu den Burschen gehörte, die er als vermeintlicher Spieler in hocheleganter Kleidung in der Wohnung von Inez Navarro angetroffen hatte.

Natürlich hatte Nick sich nichts anmerken lassen, aber mit doppelter Vorsicht den ihm Nachfolgenden beobachtet und es wohl bemerkt, wie dieser eine kurze Frage an die Schalterbeamtin richtete.

Ohne Weiteres war ihm klar, dass Morris Carruthers sich im Zug befand. Der vermeintliche Gelegenheitsarbeiter war sein Helfershelfer und mit der Aufgabe betraut gewesen, aufzupassen, ob ein Verfolger auftauchte. Als dies zugetroffen war, hatte er es noch im letzten Moment verstanden, dem Verbrecherkönig einen Wink zu geben.

Morris Carruthers befand sich also im Zug … aber wo steckte er? Der Detektiv wusste, dass er selbst sich im vordersten Personenwagen befand und dass ihn nur noch der Gepäckwagen der Expressgesellschaft von der Lokomotive trennte.

In diesem Gepäckwagen oder auf der Lokomotive musste der Gesuchte sich aufhalten!

Ein Blick in das noch hell erleuchtete Wageninnere hinter ihm zeigte ihm, dass der farbige Porter eben alle Hände voll zu tun hatte, um den noch zuletzt eingetroffenen Reisenden ihre Schlafkojen anzuweisen. Er hatte wohl kaum bemerkt, dass der Detektiv auf die Vorderplattform herausgetreten war. Sofort entwarf Nick Carter seinen Plan. Er musste, ehe der Zug noch den Tunnel verließ, feststellen, wo Morris Carruthers sich aufhielt, denn die Möglichkeit lag nahe, dass der von seinem Helfershelfer gewarnte Verbrecher versuchen würde, vom Zug abzuspringen, solange dieser noch mit mäßiger Schnelligkeit dahinfuhr. Das aber durfte unter keinen Umständen geschehen.

Schnell streifte der Detektiv die ihm hinderliche Soutane ab, um sich gleich darauf in Hemdsärmeln mit der Geschmeidigkeit eines Panthers über die Plattform zum Gepäckwagen zu schwingen und dessen Dach zu erklettern. Er musste dabei sehr behutsam zu Werke gehen, denn der Tunnel war nicht viel höher als die Dächer der Wagen. Doch es gab keine turnerische Leistung, welcher Nick Carter nicht gewachsen gewesen wäre. Schon die Minute darauf lag er flach auf dem Verdeck des Gepäckwagens. Das Dach fiel nach beiden Seiten in starker Rundung ab, und in der Letzteren waren Oberlichtfenster, die zugleich als Ventilation dienten, angebracht. Auf diese Weise konnte Nick Carter, ohne von den im Inneren fieberhaft tätigen Beamten wahrgenommen werden zu können, diese sowie die innere Einrichtung des langgestreckten Waggons eingehend betrachten.

In Unmasse türmten sich Koffer und Körbe, Pakete und Briefsäcke bis zur Decke. Doch umsonst spähte Nick Carter nach dem von ihm Gesuchten aus. Natürlich war er darauf vorbereitet, Morris Carruthers unter irgendeiner vortrefflich gewählten Verkleidung erkennen zu müssen. Er mochte sich auch hinter den aufgestapelten Koffern verborgen haben.

Doch nein! Das erschien ausgeschlossen. Sein Helfershelfer hatte ihm vom Perron aus noch jene Warnung zugerufen, das hatte er natürlich nur getan in der Gewissheit, auch von Carruthers verstanden zu werden. Die Wagenseite, wo der Warner sich aufgehalten hatte, war von eilig übernommenen Koffern völlig zugebaut, und die Beamten waren eben dabei, Ordnung in das Chaos zu bringen. Außerdem aber befand sich ein höherer Aufsichtsbeamter, der wahrscheinlich eine Revisionsfahrt mitmachte, im Wagen; ein sicheres Anzeichen, dass der Verbrecher hier nicht Zuflucht gesucht haben konnte.

Blieb also nur noch die Lokomotive!

Je klarer der Detektiv sich vergegenwärtigte, wo der Warner gestanden haben musste, als er seinen kurzen Ruf ausstieß, desto wahrscheinlicher wollte es Nick erscheinen, dass der vor keinem Wagnis zurückschreckende Carruthers Zuflucht auf der Maschine gesucht hatte.

Eben gab die Lokomotive einen kurzen, schrillen Pfiff. Der Expresszug hatte den Park Avenue-Tunnel durchbraust und passierte nun in voller Geschwindigkeit die Lokalstation an der 125th Street. Wie Irrlichter tanzten die elektrischen Bogenlampen vorüber – dann sauste der Zug dem Hunderte von Meilen entfernten Albany, der nächsten Haltestelle, entgegen.

Vorsichtig richtete sich Nick Carter halb auf, nahm die ihm hinderliche Perücke ab und vergewisserte sich durch Betasten, dass seine Waffen am Platz waren und er sie jederzeit ergreifen konnte.

Dann kroch er behutsam voran, bis er das vordere Ende des Wagens erreicht hatte und notgedrungen wieder anhalten musste.

Eben sauste der Zug stromaufwärts neben der schimmernden breiten Fläche des Hudson dahin; es war eine dunkle, sternenlose Nacht. Der flackernde Widerschein der gleich einem Riesenauge auf der Stirnseite der Schnellzugmaschine angebrachten großen Reflektorlaterne huschte über die bewegte Wasserfläche und zog funkelnde Lichtfurchen über die schaumgekrönten Wellen.

Die Lokomotive selbst lag im Dunkeln. Der Tender war mit Kohlen hoch bepackt und verhinderte jegliche Aussicht auf den Standort des Maschinisten und den vor den Feuerlöchern befindlichen Platz des Heizers.

Nun besaß Nick Carter wahre Luchsaugen und es glückte ihm, bei einer scharfen Kurve wahrzunehmen, dass sich auf der Maschine nur die beiden mit deren Führung und Wartung betrauten Beamten befanden und dass der Maschinist soeben den mit direkter Lebensgefahr verbundenen Versuch wagte, über den Tender hinweg von seinem Glasstand zum Feuerraum des Heizers zu klettern.

Ohne Weiteres war Nick Carter klar, dass es sich um irgendeinen außerordentlichen Vorgang handeln musste, denn der Maschinist durfte unter keinen Umständen seinen Platz verlassen. Geschah dies doch, wie eben gerade, so kostete es ihn, falls die Sache ruchbar wurde, seine Stellung.

Wie so häufig handelte der berühmte Detektiv auch in diesem Moment unter einem inneren Zwang, fast instinktiv, ohne über die Tragweise seiner mehr als gefahrvollen Handlungsweise nachzudenken. Mit der Geschmeidigkeit eines Eichhörnchens hatte er sich vom Dach des Gepäckwagens niedergelassen. Die Minute darauf saß er auf der den Wagen und die Lokomotive verbindenden Kupplung.

Es erforderte die Bärenkräfte des Detektivs, um an den unaufhörlich hin- und herklirrenden und bei der geringsten Kurve zur Seite schlagenden Ketten sich festzuhalten. Eine einzige falsche Bewegung musste das Ende herbeiführen, denn ein Fallen auf die Schienenspur hinunter bedeutete den sicheren Tod.

Ein grausiger Augenblick war es, als der tollkühne Mann auf den Lokomotivpuffern, bis zu denen er bereits herübergekrochen war, sich erhob, um an der Maschine selbst Halt zu bekommen. Die Zähne fest aufeinandergebissen, balancierte Nick Carter solange, bis es ihm gelang, sich an der mit Glas gedeckten Abschlussfläche des Führerhauses emporzurichten. Gleich darauf hatte er die Messingstange gepackt, die neben den steilen Eisenstufen, welche zum Maschinistenstand führten, angebracht war und als Handgriff diente.

Mit einem Atemzug der Erleichterung schwang sich Nick Carter auf die Treppe. Er hatte richtig gesehen: Der Glasstand war leer, und der Maschinist war wirklich über den Kohlentender hinweg zu dem Feuerkasten gekrochen.

Mit einem Blick erkannte er, dass der Lokomotivführer mühsam die Steuerung festgebunden und auch den die Zugschnelligkeit regulierenden Radhebel durch eine dazwischen gesteckte Feilstange festgemacht hatte – alles Zeichen, dass der Pflichtvergessene auf die verhältnismäßig gerade Strecke vertraute und seinen Posten auf längere Zeit verlassen hatte. Eben pfiff es sogar laut und anhaltend … Der scharfe Blick des Detektivs erkannte sofort, dass der Maschinist den betreffenden Zughebel mit einem langen Strick verbunden und diesen mit sich über den Tender zum Platz des Heizers genommen hatte. Genau zur selben Sekunde wurde eine der Zwischenstationen passiert.

Behutsam begann Nick Carter, das Metalldach des pavillonartigen Führerstandes zu erklettern, um sich ebenfalls zum Tender zu begeben. Das gelang ihm ohne Schwierigkeiten, denn im Vergleich zu den bereits hinter ihm liegenden Gefahren war sein weiteres Vorhaben ein Kinderspiel zu nennen.

Behutsam kroch der Detektiv auf dem Kohlentender weiter. Er war sich seiner doppelten Gefahr wohl bewusst. Einmal musste er in seinem Bestreben, sich verborgen zu halten, immer die dunkelsten Punkt an der Tenderseite aufsuchen. Gerade dort war die Kohle locker gepackt und konnte unter seinem Gewicht plötzlich niederbrechen. Zum anderen aber vermochte er jeden Moment von dem Maschinisten entdeckt zu werden, kam dieser auf den naheliegenden Einfall, sich auf seinen Posten zurückbegeben zu wollen, denn der Detektiv sah keine Möglichkeit vor sich, in einem solchen Falle auszuweichen. Wie aber der Maschinist sich ihm gegenüber stellen würde, entdeckte er seine unbefugte Anwesenheit auf der Lokomotive – das stand dahin.

Selbst der furchtlose Detektiv konnte nur mit einem gewissen inneren Grauen an die Möglichkeit eines Kampfes auf der in voller Fahrt befindlichen Expresszugmaschine denken. Wenig ließ er sich trotz alledem aber träumen, dass die Wirklichkeit sich um einiges schrecklicher als seine allerschlimmsten Befürchtungen gestalten sollte.

Endlich hatte Nick Carter sich auf einem Platz hoch auf dem Tender zurechtgerückt, wo er sicher kauerte und nahe genug an den beiden Männern im Feuerraum war, um sie beobachten und, trug ihm ein günstiger Wind ihre Worte zu, vielleicht auch belauschen zu können.

Eben riss der eine von ihnen wieder das Eisentor des einen Feuers auf.

Brennende Hitze schlug aus der Öffnung und der Widerschein der brennenden Lohe verbreitete Tageshelle in der Firebox.

Nick Carter nahm von seinem Versteck aus zwei Männer wahr, welche dicht nebeneinander standen. Es waren zwei herkulische Gestalten, der eine etwas untersetzter, der andere schlanker und größer.

Diesen Letzteren kannte Nick Carter gut, denn schon manches Mal hatte er mit ihm in erbittertem Kampf gerungen.

»Wenn Sie mich auch gut bezahlen, Mister«, hörte der Detektiv eben die tiefe Bassstimme des einen Mannes sagen, »das ist alles ganz schön, aber mich kostet es meine Stellung, merkt nur irgendjemand, dass ich meinen Platz verlassen habe.«

»Nun, ich zahle Ihnen tausend Dollar und Ihrem Heizer gerade so viel«, entgegnete der andere – und nun erkannte Nick Carter seinen Mann auch an der Stimme. »Bis Albany wird es wohl gehen.«

»Aber ganz gewiss nicht weiter!«, brummte der Maschinist.

»Wie Sie so kurz vor Abgang des Zuges an mich herantraten und mir den Tausender unter die Nase hielten – well, da reizte mich das Geld, und ich dachte mir: Was kann dabei sein, zumal Sie behaupteten, etwas von der Kesselfeuerung zu verstehen … Ich dachte auch nicht lange darüber nach, was Sie zu dem sonderbaren Anerbieten bewogen haben konnte, meines Heizers Platz einzunehmen. Doch da Jimmy auch einverstanden war, so dachte ich mir nichts Böses. Nun möchte ich aber lieber die tausend Dollar missen. Ich bin verheiratet, Mister, und habe Kinder … Und meine Stellung bringt 2500 Dollar pro Jahr ein … Und bei irgendeiner Schlechtigkeit möchte ich schließlich auch nicht mithelfen …« Er hustete, unterbrach sich und war wieder geschäftig dabei, von neuem Kohlen auf die Feuer zu werfen. »Ich bin nur froh«, fuhr er dann brummig fort, »dass Jimmy mitgefahren ist … Von Albany an muss er in den Feuerraum, da kann nichts helfen.«

»Es ist mir recht so«, hörte Nick nun Morris Carruthers sagen. »Wann sind wir dort?«

»Um fünf Uhr früh.«

»Nun, dann ist es noch nicht ganz Tag«, meinte Carruthers. »Geht da nicht ein Dampfboot nach New York zurück, eh?«

»Gewiss, eine halbe Stunde nach unserer Ankunft … Warten Sie mal, Mister … Heute ist Kapitän Fowlers Boot an der Reihe … Der wäre vielleicht Ihr Mann, denn um Geld tut der einiges … Na, mich geht es nichts an … Ich will nichts wissen.

Habe ich A gesagt, so sage ich auch B und halte meinen Mund … Das muss ich schon, will ich meine Stellung nicht verlieren … Aber was ich da gehört habe, als wir gerade aus dem Grand Central Depot fuhren … Was der Bummler da von Nick Carter geschrien hat und einem katholischen Geistlichen … Well, Mister … Mit Nick Carter will ich nichts zu schaffen haben, am wenigsten gegen ihn, denn der hat den Teufel im Leib.«

»Schon recht, Sie schweigen und ich steige in Albany aus«, versetzte Carruthers kurz angebunden. »Die Teufelsmaschine da kann ich aber nicht bedienen … Mir ist der Kopf ohnehin voll genug.«

Der Maschinist fluchte.

»Das hat man davon, lässt man sich auf solche Sachen ein!«, hörte der Detektiv ihn knurren. »Dabei kann ich Sie nicht einmal zehn Minuten allein lassen … Entweder flöge die ganze Maschine in die Luft oder der Dampf geht aus … An diese Fahrt will ich denken.« Dann lachte er augenscheinlich noch, dabei immer wieder die Feuerlöcher bedienend. »Well, eins werden Sie doch können, eh?«, frage er dann wieder. »Ich habe es mit Jimmy verabredet, dass er über die Wagendächer zum Tender klettern soll, falls es durchaus mit Ihnen nicht geht … Hört er die Glocke auf der Maschine läuten, so kommt er … Man muss nur den kleinen Hebel mit dem schwarzen Holzgriff, links von dem Zughebel, an den ich den Strick hier in meiner Hand gebunden habe, herausziehen, dann läutet es … Das werden Sie doch besorgen können, Mister, eh?«

»Sie meinen, ich soll über den Tender da klettern?«, fragte Carruthers gedehnt.

»Das meine ich nicht nur, sondern Sie müssen es tun!«, schrie nun der Maschinist wütend. »Es wird nicht lange dauern, so kommt Jimmy an, denn der ist flink wie eine Eidechse … Dem sagen Sie dann, er soll die Glocke abstellen. Sobald er dann hier an den Feuerlöchern ist, komme ich zu meinem Stand zurück und Sie ducken sich dort bis kurz vor Albany … Dort müssen Sie von der Maschine herunter, denn sieht der Stationsvorsteher in Albany einen Dritten auf dem Kasten, komme ich in heißes Wasser.«

Nick Carter spürte, wie ihm der Atem schwer zu gehen begann. Ihm stand der schlimmste und gefahrvollste Kampf seines Lebens bevor, und zwar nicht nur mit einem ebenbürtigen Gegner, sondern mit einem Mann, der wusste, dass er verloren war, gelang es ihm nicht, die Oberhand zu gewinnen … Einem Verzweifelten also, der mit dem Aufgebot all seiner Kräfte kämpfen würde.

Schon längst hatte Nick Carter begriffen, was den Verbrecherkönig auf die Lokomotive gebracht hatte. Zweifelsohne hatte Morris Carruthers mit Inez, seiner Geliebten, die verhängnisvolle Box 17 genommen, um einen Treffpunkt zu haben, falls das auf den unglücklichen Buchmacher in der Nacht zuvor verübte Attentat fehlschlug. Nun, als der Detektiv wieder ihren Weg gekreuzt hatte, hatten die beiden beschlossen, erst ihren Todfeind zu verderben und dann zu fliehen. Als es ihnen gelungen war, Chick im Wagen zu betäuben, hatten sie den Letzteren verlassen und Inez sich zum Opernhaus begeben. Wahrscheinlich war Morris Carruthers als erster Besucher bei ihr erschienen, einer ihrer Helfershelfer war dann als zweiter gekommen … Ob jener oder Morris Carruthers den Mord an Inez Navarro verübt hatte, stand dahin und war auch nebensächlich. Jedenfalls hatte Morris die bereits gelösten Billetts nicht gefunden und sich ihrer auch nicht zu bedienen gewagt. Nun, da Inez tot war, konnte seines Bleibens erst recht nicht länger in New York sein, denn ihr scharfer Verstand hatte immer wieder neue Auskunftsmittel zu erinnern gewusst, um der Polizei ein Schnippchen zu schlagen.

Wahrscheinlich hatten die Helfershelfer des Verbrecherkönigs diesen von den inzwischen stattgefundenen Vorgängen in der Wohnung seiner toten Geliebten unterrichtet und Carruthers erfahren, dass sein Mordanschlag gegen Nick Carter durch eine höhere Vorsehung vereitelt worden war. Naheliegend war es, dass er oder seine Gehilfen sich von der Ankunft Nick Carters und seiner Leute im Metropolitan Opernhaus überzeugt und daraus ihre weiteren Schlüsse gezogen hatten. Darum war auch Morris Carruthers auf den verzweifelten Einfall gekommen, den Maschinisten und den Heizer des Expresszuges zu bestechen und des Letzteren Posten einzunehmen. Auf solche Weise konnte er unauffällig aus New York verschwinden.

Nun wollte er, in Albany angelangt, zweifellos an Bord des fälligen Stromdampfers zu gelangen und dessen ihm als habgierig geschilderten Kapitän zu bestechen versuchen. Gelang ihm dies, so konnte es der alten Teerjacke nicht schwerfallen, Carruthers an Bord eines zu den südamerikanischen Häfen auslaufenden Dampfers zu schmuggeln – und einmal im fernen Süden angelangt, war er so gut wie gerettet.

Doch das durfte nicht sein! Morris Carruthers machte sich eben daran, vom Feuerraum aus über den Tender zum Führerstand zu kriechen, um dort das Glockensignal zu geben. Nick Carter begriff, dass er vor dem Verbrecher jenen Platz erreichen musste.

Mit äußerster Schnelligkeit trat der Detektiv den Rückweg an. Er achtete kaum auf die Lebensgefahr, in welche seine überstürzte Hast ihn brachte – ihm lag nur daran, vor Carruthers und ungesehen von diesem den Führerstand zu betreten.

Kaum war dies geschehen, so nahm Nick Carter auch schon den ihm unmittelbar auf dem Fuß über den Tender folgenden Verbrecher wahr. Diesen beschäftigte viel zu sehr die Gefahr, als dass er um sich zu schauen gewagt hätte. Er fluchte vor sich hin und kroch der Quere nach, weil er auf solche Weise dem unausgesetzten Rütteln und Stoßen besser Widerstand entgegenzusetzen vermochte.

Mit kundiger Hand machte Nick Carter sich an der Steuerung zu schaffen. Er hatte keine Zeit, die Knoten des daran befestigten Strickes zu lösen. So durchschnitt er ihn mit dem Taschenmesser, um sich die Sekunde darauf mit voller Wucht auf den Bremsenhebel zu werfen und Gegendampf zu geben. Seine Absicht ging dahin, den Zug auf freier Strecke zum Halten zu bringen.

Ein Zittern und Dröhnen ging von der Maschine aus durch die Wagenreihe des in unglaublicher Schnelligkeit dahinschießenden Zuges … Und im selben Moment gewahrte Nick Carter dicht über sich auf dem Schutzdach des Führerstandes zwei funkelnde Raubtieraugen, die voll unbändiger Wut auf ihn herabblitzten.

Es war Morris Carruthers. Das betäubende Zischen des mit furchtbarer Gewalt aus den Ventilen entweichenden Dampfes erstickte den Wutschrei auf den Lippen des Verbrecherkönigs. Rein mechanisch riss Nick Carter einen Revolver hervor und schlug auf den dicht über seinem Kopf wie ein sprungbereiter Tiger Niedergeduckten an.

Doch Morris Carruthers befand sich in einer Lage, in welcher er die tödliche Waffe nicht mehr fürchtete als ein in die Enge getriebener Wildeber. Mit einem einzigen Sprung warf er sich vom Schutzdach herunter auf seinen Todfeind. Wohl krachte die Schusswaffe in den Händen des Detektivs, doch ihre Kugel musste fehlgegangen sein – und ehe Nick Carter ein andermal feuern konnte, fühlte er sich auch schon mit übermenschlicher Gewalt von dem durch Hass, Wut und Todesfurcht beinahe wahnsinnig Gewordenen an der Kehle gepackt.

Eine Sekunde hindurch versuchte der Detektiv, sich mit eiserner Kraft den Händen seines Gegners zu entwinden, doch umsonst. Die Verzweiflung verlieh dem Verbrecher Riesenstärke, und dessen durch die Wucht des Sturzes sich vervielfachendes Körpergewicht tat das Übrige. Nick Carter brach nieder und kam so unglücklich zu Fall, dass er mit dem Kopf und Nacken über die abschüssige Eisentreppe zur Seite des Standes zu liegen kam, während Carruthers ihm auf der Brust kniete und mit würgenden Fingern ihm die Kehle umklammerte.

Ein entsetzliches Ringen erhob sich, während die voll aufgezogenen Bremsen immer mächtiger wirkten und durch die Macht ihres Druckes das flüchtige Dampfross in schauerliches Schütteln und Rütteln versetzte, welches den Riesenkoloss beinahe aus der Schienenspur zu schleudern drohte.

Die Absicht des Schurken war klar. Er wollte um jeden Preis, und kostete es auch sein Leben, den Detektiv von der Lokomotive schleudern … Er hatte nicht nur den Vorteil der Lage, sondern sein würgender Griff drohte dem unglücklichen Gegner den Atem zu nehmen und ihm die Besinnung zu rauben.

Doch auch Nick Carter begriff, was auf dem Spiel stand – und auch seine Kräfte vervielfachten sich. Kein Wort wurde zwischen den Kämpfenden gewechselt, nur das furchtbare Keuchen der beiden Männer war hörbar.

Plötzlich gelang es dem Detektiv, die eine Hand freizubekommen. Mit der Gewalt eines Schmiedehammers teilte er fürchterliche Schläge auf die Schläfen des über ihm Liegenden aus.

Umsonst! Der Verbrecherkönig schien die Wucht der Fausthiebe nicht einmal zu spüren, geschweige dass sie ihn betäubten. Im Gegenteil, sie verdoppelten nur seine Wut, und Zoll um Zoll glitt der unglückliche Detektiv immer mehr auf der abschüssigen Treppe nieder. Noch stemmte sich Nick Carter mit den Füßen gegen die Schutzbrüstung und versuchte mit der Kraft äußerster Verzweiflung, sich und seinen Todfeind festzuhalten.

Und dann geschah das Schreckliche.

Durch die auf ihm wuchtende Last des sich wie rasend gebärenden Carruthers kam der Körper Nicks ins Rollen … Und kopfüber sauste er zugleich mit dem grimmen Gegner herunter zur Schienenspur.

Doch fast im gleichen Moment hielt der Zug auf offener Strecke. Mit leichenblassem Gesicht tauchte der pflichtvergessene Maschinist, der beim ersten Anziehen der Bremsen Unheil gewittert hatte und so schnell wie möglich über den Kohlentender zu seinem Stand zurückgeklettert war, über dessen Brüstung auf. Zugleich öffnete sich die Tür des Expresswagens, und aus allen Waggons kamen die Zugbeamten bestürzt herbei, um Zeuge des fürchterlichen Kampfes zu werden, der sich unmittelbar neben dem einen Riesenrad der Maschine auf dem Schotterbett des Bahngleises fortsetzte. Eine gnädige Fügung hatte es gewollt, dass Nick Carter, schon im Fall begriffen, sich noch einen letzten Schwung hatte verleihen können, welcher ihn seitwärts getragen und ihn den zermalmenden Rädern hatte entgehen lassen.

Zugleich aber hatte Nick Carter sich auf seinen Gegner, dessen Kopf beim Fallen schwer auf die Außenkanten der Eisentreppe geschlagen war, werfen können. Nun kniete er auf der Brust des halb Betäubten.

»Zurück!«, schrie er mit Donnerstimme, als die Zugbeamten, der Maschinist voran, sich auf ihn stürzen und ihn von Morris Carruthers reißen wollten.

»Zurück! Ich bin der Detektiv Nick Carter, und der Mann hier ist mein Gefangener … Ein zum Tode verurteilter, vielfacher Mörder, dessen Hinrichtung auf übermorgen früh auf dem elektrischen Stuhl in Sing-Sing angesetzt ist!«

Seine Worte wirkten Wunder. Wagte schon der um seine Stelle besorgte Maschinist es nicht mehr, irgendetwas gegen den Detektiv zu unternehmen, so stellten sich die übrigen Zugbeamten einhellig auf dessen Seite – und Morris Carruthers Schicksal war besiegelt!

 

*

 

Nick Carter nahm den an Händen und Füßen Gefesselten mit nach Albany und brachte ihn mit dem nächsten Morgenzug über New York nach Sing-Sing. Morris Carruthers war ein gebrochener Mann. Er wusste, dass ihm kein Widerstand mehr nützte, und so versuchte er auch keinen weiteren Fluchtversuch. Doch seinen Lippen war auch ebenso wenig mehr ein Wort zu entlocken. Erst als man ihn zur festgesetzten Stunde zum elektrischen Stuhl führte und in diesem festschnallte, gab er den ersten Laut wieder von sich: Ein höhnisches, herausforderndes Lachen, und zugleich maß er seinen siegreichen Gegner, der geschworen hatte, ihm nicht mehr von der Seite zu weichen, bis sein Schicksal sich erfüllt hatte, mit einem vernichtenden Blick.

»Well, Nick Carter, das Spiel ist aus … und du bist der Sieger«, stieß er rau hervor. »Die arme Inez war mein letztes Opfer, ich musste sie unschädlich machen, denn sie wusste zu viel. Schade darum, sie hätte am Leben bleiben können, hätte ich das Ende voraus gewusst!«

Schon die Sekunde darauf bäumte sich sein mächtiger Körper unter der Einwirkung des elektrischen Stromes … Noch ein letzter Hassblick auf den mit über der Brust verschränkten Armen vor ihm stehenden Nick Carter – und der Verbrecherkönig stand vor des Ewigen Richterstuhl.

Der Fall Carruthers war zu Ende.

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