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Die Plauderstube – Des Seeräubers Schatz – Kapitel 4

Des Seeräubers Schatz
Eine Preisnovelle von Edgar Allan Poe
Sonntag, den 30. Oktober 1859

4.

Wir mochten ein Dutzend Schritte vorwärts gegangen sein, als Legrand mit einem lauten Fluch auf Jupiter losschritt und ihn bei der Kehle ergriff. Der erstaunte Diener sperrte Augen und Mund weit auf, ließ die Spaten fallen und sank auf das Knie.

»Du Schurke!«, sagte Legrand, indem er die einzelnen Silben zwischen seinen zusammengekniffenen Zähnen hervorstieß, »du höllischer Schuft! Sprich, sag ich dir, antworte mir den Augenblick ohne weitere Ausflucht, wo ist dein linkes Auge?«

»O, herrje! Massa Will! Is denn das hier nicht ganz bestimmt mein linkes Auge?«, schrie der entsetzte Jupiter, indem er seine Hand an sein rechtes Gesichtsorgan führte und mit desparater Hartnäckigkeit auf demselben ruhen ließ, als fürchtete er, sein Herr möchte ihm unverzüglich dasselbe ausstechen.

»Ich dachte es mir – ich habe es gleich gewusst – Hurra!«, jauchzte Legrand, während er den Afrikaner fahren ließ und eine Masse von Freudensprüngen und Schwenkungen ausführte, sehr zum Erstaunen seines Dieners, der, indem er sich aus seiner knieenden Stellung erhoben hatte, stumm von seinem Herrn zu mir und von mir zu seinem Herrn hinsah.

»Kommt! Wir müssen zurückgehen!«, rief der Letztere uns zu, »das Spiel ist noch nicht verloren!« Abermals führte er uns an den Tulpenbaum.

»Jupiter«, hob er an, als wir den Fuß desselben erreicht hatten, »komm her! War der Totenkopf mit dem Gesicht aufwärts an den Stamm genagelt oder mit dem Gesicht gegen den Stamm?«

»Das Gesicht war nach außen, Massa, sodass die Krähen bequem an die Augen kommen konnten, ohne viel Mühe.«

»Gut; war es also dieses Auge oder dieses, durch welches du den Käfer fallen ließest?«

Hier berührte Legrand beide Augen Jupiters.

»Es war dieses Auge, Massa – das linke Auge – just wie Ihr es mir gesagt habt.«

Und hiermit deutete der Mann auf sein rechtes Auge.

»Schon gut; wir müssen es nochmals versuchen!«

Mein Freund, in dessen Tollheit ich nun eine Art Methode sah oder zu sehen glaubte, setzte nach diesen Worten den Pflock, welcher dem Baum am nächsten war, etwa drei Zoll westlich von seinem früheren Standpunkt. Hierauf nahm er, wie zuvor, von dem nächsten Punkt des Baumes das Maß und verlängerte die Linie in gerader Richtung bis zu einer Entfernung von 50 Fuß. Er kam durch dieses Verfahren auf einen Fleck, der von dem Platz, an welchem wir früher gegraben hatten, einige Ellen entfernt war.

Um diesen neu gewonnenen Punkt wurde nun ein Kreis, etwas größer, als der vorige, beschrieben und unsere Spaten begannen von Neuem ihr Werk. Ich war entsetzlich erschöpft, aber mir kaum bewusst, wodurch ein so plötzlicher Wechsel in meinem Gedankengang hervorgerufen sei, fühlte ich keine so große Abneigung mehr gegen die mir zugewiesene Arbeit. Ich empfand an derselben ein eigentümliches Interesse, ja, eine Aufregung, von der ich mir keine Rechenschaft zu geben vermochte. Es lag etwas in dem extravaganten Benehmen Legrands, ein gewisser Ausdruck von Überlegung und Bedachtsamkeit, dem ich nicht widerstehen konnte. Ich grub emsig fort und ertappte mich mehrmals, wie ich in allem Ernst mit einem Blick umher sah, der von Erwartung des eingebildeten Schatzes sprach, dessen vermeintliche Existenz meinem unglücklichen Gefährten den Kopf verrückt hatte. In einem Moment, wo solche Träumereien mich in höchstem Grad beherrschten, und wir vielleicht eine oder anderthalb Stunden gearbeitet hatten, wurden wir abermals durch das widerwärtige Geheul des Hundes unterbrochen. Seine Unbehaglichkeit mochte früher nur das Resultat von Spielerei und Laune gewesen sein, nahm aber nun unverkennbar einen weit ernsteren Charakter an. Als Jupiter ihm wieder das Maul fest zubinden versuchte, leistete er wütenden Widerstand und scharrte, in das Loch hinabspringend, die Erde wild mit den Pfoten empor. In wenigen Sekunden hatte er eine Masse menschlicher Gebeine herausgewühlt, welche zwei vollständige Skelette bildeten und bei denen sich verschiedene Metallknöpfe nebst anscheinenden Resten vermoderter Kleidungsstücke vorfanden. Ein oder zwei Stiche mit dem Spaten warfen die Klinge eines spanischen Messers empor, und als wir tiefer gruben, kamen drei oder vier Gold- und Silbermünzen zum Vorschein.

Beim Anblick dieser konnte Jupiter kaum seine Freude verhehlen, aber die Züge seines Herrn trugen den Ausdruck bitterster Enttäuschung. Er bat uns jedoch, unsere Arbeit fortzusetzen, und hatte kaum diese Worte gesprochen, als ich über einen eisernen Ring stolperte, in dem sich die Zehen meines Stiefels gefangen hatten, und der noch halb unter der Erde begraben war.

Wir schafften nun ernstlich fort und niemals habe ich zehn Minuten in größerer Aufregung verbracht. Während dieser Zeit hatten wir einen großen länglichen Holzkasten von der Erde befreit, der wegen seines vollständig gut erhaltenen Zustandes und seiner eigentümlichen Härte offenbar irgendeinen Versteinerungsprozess durchgemacht zu haben schien. Die Kiste war vierthalb Fuß lang, drei Fuß breit und zwei und einen halben Fuß tief. Sie war mittelst eiserner Bänder zusammengefügt, welche festgenietet, eine Art von Gitterwerk um das Ganze bildeten. Auf jeder Seite der Kiste, nahe dem Deckel, fanden wir drei eiserne Ringe – sechs im Ganzen, mittelst welcher sich die Kiste durch sechs Personen recht gut heben ließ. Die Anstrengung unserer vereinigten Kräfte führte zu nichts, als dass wir die Kiste fast unmerklich von der Stelle rückten. Wir sahen die Unmöglichkeit ein, solch ein großes Gewicht zu heben. Glücklicherweise war die Kiste nur durch zwei Riegel verschlossen, welche wir zitternd und voll ängstlicher Erwartung zurückschoben. Ein Schatz von unermesslichem Wert glänzte vor unseren Augen. Als das Licht der Laternen hinabflimmerte, traf uns ein funkelnder Schein von Juwelen und verworrenen Goldhaufen, der unsere Augen blendete.

Ich versuche nicht, die Gefühle zu beschreiben, mit denen wir auf die Kiste starrten. Erstaunen herrschte vor. Legrand schien vor Aufregung erschöpft und sprach nur wenige Worte. Jupiters Physiognomie nahm einige Minuten lang eine solche Totenblässe an, wie ein dunkles Gesicht, der Natur der Sache nach, dieselbe je aufweisen kann. Er schien angewurzelt, vom Donner gerührt. Dann fiel er in der Grube auf die Knie. Seine nackten Arme bis zum Ellenbogen in Gold vergrabend, ließ er sie dort ruhen, als erfreue er sich an der Wollust des Bades. Endlich stöhnte er mit tiefem Seufzer, wie mit sich selbst redend, hervor: »Und das alles is von dem Goldkäfer gekommen! Dem süßen Goldkäfer, dem armen kleinen Goldkäfer! Den ich in so ’ner unsinnigen Art von Manier fallen ließ! Schämst du dich nich über dich selbst? Beantworte mir das, schwarzer Mann!«

Ich sah mich zuletzt genötigt, beide, den Herrn wie den Diener, ernstlich auf die Wichtigkeit, den Schatz nach Hause zu bringen, aufmerksam zu machen. Es war schon spät, und wir mussten unsere ganze Kraft anwenden, um vor Tagesanbruch alles unter Dach zu schaffen. Es war schwierig zu sagen, was am tunlichsten sei, und viele Zeit wurde mit Beratungen vergeudet, so verwirrt waren wir alle. Endlich erleichterten wir die Kiste um zwei Drittel ihres Inhalts und sahen uns nun imstande, sie mit einiger Mühe aus dem Loch emporzuheben. Die herausgenommenen Sachen wurden zwischen den Brombeersträuchern versteckt, und der Hund als Wache zurückgelassen, mit dem ausdrücklichen Befehl Jupiters, weder unter irgendeinem Vorwand sich von der Stelle zu entfernen noch bis zu unserer Rückkehr seinen Mund zu öffnen. Dann begaben wir uns eilig mit der Kiste auf den Heimweg und erreichten sicher, aber mit unendlicher Mühe, um 1 Uhr morgens die Hütte. Ermattet wie wir waren, schien es unserer Natur unmöglich, sogleich wieder eine neue Arbeit zu beginnen. Wir rasteten daher bis zwei Uhr und genossen etwas Speise. Darauf kehrten wir mit drei großen Fruchtsäcken, die sich glücklicherweise in der Wohnung vorfanden, zum Schauplatz unserer Tätigkeit zurück. Gegen 4 Uhr langten wir bei der Grube an, verteilten den Rest des Fundes so gleichmäßig wie möglich unter uns auf und strebten, ohne das Loch wieder auszufüllen, abermals der Hütte zu, in der wir zum zweiten Mal unsere goldene Last hinsetzten, als eben der erste matte Schimmer des Morgenrots im Osten über den Baumwipfeln heraufglomm.

Unsere Kraft war nun im höchsten Grad erschöpft; aber die maßlose Aufregung ließ uns nicht zur Rast kommen. Nach einem unruhigen Schlummer von höchstens drei- oder vierstündiger Dauer standen wir alle drei, als hätten wir uns verabredet, auf und begannen eine Prüfung unseres Schatzes.

Die Kiste war bis zum Rand gefüllt gewesen und wir brauchten zur Untersuchung ihres Inhalts den ganzen Tag und den größten Teil der ihm folgenden Nacht. Alles war ohne irgendeine Ordnung wild durcheinander hineingepfropft worden. Nachdem wir die verschiedenen Gegenstände sorgfältig sortiert, fanden wir uns im Besitz eines noch immenseren Reichtums, als wir anfänglich vermutet hatten.

An Geld besaßen wir mehr als 450.000 Dollar, wenn wir den Wert der Münzen so genau abschätzten, wie mithilfe der uns zu Gebote stehenden Münztabellen sich tun ließ. Silber fand sich gar keines vor. Alles war Gold von antikem Gepräge und aus den verschiedensten Ländern, französisches, spanisches und deutsches Gold, nebst einzelnen englischen Guineen und verschiedenen Zahlmarken, die wir zuvor niemals gesehen hatten. Wir erblickten auch mehrere sehr große und schwere Münzen, so verschlissen, dass wir nichts von ihren Inschriften entziffern konnten. Kein amerikanisches Gold war vorhanden. Den Wert der Juwelen fanden wir viel schwieriger zu bestimmen. Da lagen Diamanten – einige ungewöhnlich groß und prachtvoll – 110 im Ganzen, und nicht ein einziger war klein; 18 Rubine von wunderbarem Glanz; 310 Smaragde, alle sehr schön, 21 Saphire und ein Opal. Diese Steine waren sämtlich aus ihrer Fassung herausgebrochen und lose in die Kiste gelegt.

Die Einfassungen, welche wir aus dem übrigen Gold auslasen, schienen mit einem Hammer zusammengeschlagen, um jedes Wiedererkennen zu verhindern. Außerdem fanden wir eine bedeutende Masse von soliden goldenen Schmucksachen: beinahe 200 massive Finger- und Ohrringe; reiche Ketten, dreißig, wenn ich mich recht entsinne; 83 sehr große Kruzifixe; schöne goldene Weihrauchfässer von erklecklichem Wert; eine luxuriöse goldene Punschbowle mit prachtvoll ziseliertem Weinlaub und bachanalischen Tänzerfiguren geschmückt, nebst 2 vorzüglichen Schwertgriffen von getriebener Arbeit und manchen anderen kleineren Artikeln, an die ich mich nicht mehr erinnern kann. Das Gewicht dieser Kleinodien betrug mehr als 350 Pfund Handelsgewicht, und bei dieser Taxation habe ich noch 197 goldene kostbare Uhren vergessen, von denen drei mindestens jede 500 Dollar wert waren. Manche von ihnen mochten sehr alt und als Zeitmesser nutzlos geworden sein, da das Werk mehr oder weniger von Rost gelitten hatte; allein alle waren reich mit Juwelen besetzt und das Gehäuse bei allen kostbar. Wir schätzten den ganzen Inhalt der Kiste in jener Nacht auf eine und eine halbe Million Dollar, und bei dem späteren Verkauf der Bijouterien und Juwelen, von denen wir einige wenige zu unserem eigenen Gebrauch behielten, stellte es sich heraus, dass wir unseren Fund noch bedeutend unterschätzt hatten.

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