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Gespensternovellen 6

Vilhelm Bergsøe
Gespensternovellen
Aus dem Dänischen übersetzt von Adolf Strothmann
Autorisierte Ausgabe, Verlag Otto Janke, Berlin 1873
Schimmelmanns Pferd
I.

Vor zehn bis fünfzehn Jahren befand sich Hellebeck noch in seinem Unschuldszustand. Keine Nordbahn führte die Kopenhagener nach Helsingör, kein Marienlyft prunkte mit schwarzbefrackten Kellnern. Hamlets Grab war noch nicht entdeckt, und wenn ein vereinzelter Fremdling sich aus dem Hammermühlenwald nach Hellebeck oder Aalsgaarde verirrte, so kann er sicher sein, bewundernde Zuschauer an die Fenster zu locken. Das kleine Fabrikstädtchen lag mit seinen weißen Häusern und klappernden Mühlrädern still und ruhig im Sommersonnenschein. In Aalsgaarde trockneten die Männer ihre Netze, während die Frauen vor dem Haus mit Nadel und Filirstab beschäftigt waren – man wusste kaum etwas von Fremden, noch weniger hatte man gelernt, sie wie andere Fische als guten Fang zu betrachten.

In dieser glücklichen Periode traf es sich, dass ich in Hellebeck verweilte, denn diese tiefen, dunklen Waldseen, diese Vegetation, welche die Buche und die Anemone brüderlich mit der Birke, dem Wachholder und dem Heidekraut vereint, beherbergten eine ganze Welt in sich, unstete, rastlose Bewohner, mit deren Treiben sich bekannt zu machen wohl der Mühe verlohnte.

Meine Zeit war zwischen dem Wald und dem Krug geteilt —– man hatte noch eine gewisse Scheu, seine Zimmer zu vermieten. Wie deutlich erinnere ich mich an den großen Saal des Kruges mit seinem blaugeblümten Sofa, den seltsamen altmodischen Stühlen, der rot angestrichenen Kommode von Tannenholz mit den halsstarrigen Schiebladen, die immer herausglitten, allein, wie im Genuss ihrer Freiheit, nie wieder hinein wollten. Wie klar sehe ich die merkwürdige Pastellzeichnung, von welcher ich noch nicht weiß, ob sie Mariä Himmelfahrt oder den Tanz der Musen auf dem Helikon vorstellte, und welche das Geschenk einer mehr naiven als talentvollen Künstlerin aus der Umgegend war.

All diese Herrlichkeiten gehörten mir. Der ganze Krug stand mir zur Verfügung, mit Ausnahme der Schankstube und des Kramladens, in welchem ein Handel mit Kaffee, Zucker und Etcetera getrieben wurde, wie auf dem Schild stand. Eins jedoch beschränkte mein Eigentumsrecht, nämlich der Samstagabend. Da versammelte sich das Volk von Stadt und Land, nicht zu politischem Geschwätz bei einer halb veralteten Zeitung, sondern zu einem ordentlichen, soliden Trunk, zu einem Tanz und bisweilen zu einem Zweikampf, bei welchem jedoch weder Messer noch Pistolen in Anwendung kamen. Da lernte ich Männer mit harten, derben wettergebräunten Gesichtern und doch von kindlichster Naivität und Gutmütigkeit kennen; Männer, die gleich fest standen, mochten sie nun mit einer Dreiquartflasche auf dem Land oder mit einer Bramsegelkühlte auf einer schwankenden Marsrah anbinden. Ich könnte manche von ihnen nennen, aber ich verweile nur bei einem, dem Bootsmann, meinem Freund, Niels Kei.

Niels Kei und das Meer waren unzertrennlich gewesen, jedoch nur bis zu einer gewissen Periode. Vom Schiffsjungen war er Matrose, vom Matrosen Bootsmann geworden. Dann hatte er sein genügendes Teil vom Kriegsruhm erhalten, das ihn ein Stück der rechten Backe nebst entsprechendem Backenbart gekostet hatte. Nun war er Fischer geworden und angelte sowohl nach eigentlichen Fischen als auch nach den Kapitänen, die wegen widrigen Windes im Sand still lagen, und mit denen er ein nicht unbedeutendes Schmugglergeschäft trieb. Eines schönen Tages verkaufte er seine Reusen und Netze für eine Handvoll Geld, schaffte sich einen Wagen und ein Pferd für anderthalb hundert Reichstaler an und war nun, was ihn tief kränken würde, wenn er es hörte, ein seltsames Mittelding von Fuhrmann und Fischer — nach Kapitänen.

Aber er war zugleich etwas anderes. Er war Hellebecks Rätsel, dessen Mysterium, dessen unauflösliche Sphinx. Woher hatte Niels Kei den Braunen und den kleinen, leichten, neu gemalten Korbwagen erhalten? Oder, um gleich zur Sache zu kommen: Woher hatte er das Geld erhalten? Hätte er auf Sizilien gelebt, so würde man gesagt haben, dass er einen Leichnam geplündert hatte. In Hellebeck zischelte man in den Ecken, schüttelte mit dem Kopf und schielte heimlich nach dem Braunen, wenn derselbe mit dem Korbwagen, Niels Kei und einem Fremden den Weg nach Helsingör hinunterfuhr.

Niels Kei nahm einen Reichstaler für einen solchen Freundschaftsdienst; aber ich, der Student, brauchte nur drei Mark zu bezahlen, »denn man soll nicht unverschämt sein«, meinte er. Niels hatte eine besondere Art, sein Pferd und sein Fuhrwerk zu behandeln. Band er die Zügel an, so geschah es mit einem halben Ruck, als schnüre er die Schote an einem Sturmsegel fest. Saß er auf dem Bock, so spreizte er die Beine auseinander und stemmte sie gegen den Vorderrand des Wagengestelles, als rudere er in einer Jolle, und wollte er den Braunen antreiben, so machte er mit den Zügeln ganz eigentümliche Schläge, die mich auffällig an jemand erinnerten, welcher Dorsche angelt. Aber der Braune verstand ihn, und er verstand den Braunem und das war ja die Hauptsache.

So rollten wir eines Herbstabends auf der Straße nach Helsingör dahin, Niels Kei mit einem unfuhrmannsmäßigen Südwester auf dem Kopf, denn er meinte, es würde wohl Regen aus Nordost geben; ich in Ballkleidung und Pferdedecke. Der Weg ging durch den Hammermühlenwald, an dem dunklen Bauernteich vorüber und zum Kupferteich hinauf, unter gegenseitigem Schweigen, denn Niels Kei schien an dem Abend nicht gut aufgelegt zu sein und zeigte nicht sein gewöhnliches schlaues, behagliches Grinsen.

Plötzlich fragte er: »Weiß der Student, dass Ole Hansen heut Nacht gestorben ist? Er war mein Freund!«

»Ole Hansen!«, rief ich aus. »Woran denn?«

»An zu viel Wasser; er ist ertrunken«, antwortete Niels Kei trocken. »Ja, das hätte man sich selbst sagen können«, fügte er halblaut hinzu, während er nach dem Braunen mit einer Bewegung auslangte, als würfe er eine Tauschlinge ans Land.

»Hat er sich denn ertränkt?«, fragte ich.

»Ertränkt?«, wiederholte Niels verächtlich, »kein Fischer ertränkt sich. Die Jolle lag mit dem Kiel noch oben gerade draußen vor dem schwarzen Stein, und Ole Hansen etwas südwärts davon nach dem Strand zu — tot wie ein Hering.«

»Wie hätte man das denn vorher sagen können?«, fuhr ich fort.

Niels Kei drückte mit der linken Hand den Südwester fester auf den Kopf, angelte mit der rechten nach dem Braunen und sandte mir einen vielsagenden Blick zu.

»Soll er hier ruhen?«, fragte ich, als wir an dem kleinen Waldkirchhof vorbei fuhren, dessen weiße Mauern von der untergehenden Sonne gelblich beleuchtet wurden.

»Nein«, sagte Niels Kei, »die Fischer kommen nordwärts.«

Kaum hatte er das gesagt, als der Braune plötzlich mit einem Ruck mitten auf dem Weg anhielt. Dann schüttelte er sich, als wolle er Bremsen vom ganzen Leib abschütteln, bewegte den Kopf heftig hin und her und war nicht von der Stelle zu bringen.

»Hm!«, sagte Niels Kei mit einer seltsamen Betonung und ließ die Zügel sinken.

»Was ist es?«, fragte ich.

»Ach, es ist so ein Garnichts«, brummte er, und im selben Augenblick jagten wir von dannen, als fühlte der Braune die Sporen in den Flanken.

»Hat der Student etwas dawider, einen kleinen Umweg zu machen?«, fragte Niels, dessen Miene sehr bedenklich geworden war.

»Wie es Ihnen beliebt«, antwortete ich, und damit bogen wir in einen Nebenweg zur Rechten ab, der in den Wald hinein führte.

Der Braune trabte rasch vorwärts, bis wir einen Steinhügel zur Linken erreichten, der von mächtigen, einzeln stehenden Buchen umgeben war. Hier schüttelte er sich wieder, warf den Kopf empor und legte die Ohren zurück.

»Dachte ich mir’s nicht?«, sagte Niels Kei mit der ganzen Sicherheit der Überzeugung. »Wir hätten nimmer an einem Freitag fahren sollen.«

Darauf stieg er vom Wagen herunter, suchte einen Stein, warf denselben auf den Hügel und schwang sich wieder auf den Wagen. Im selben Augenblick fuhr neues Leben in den Braunen, und wir rollten wieder auf der Straße dahin.

»Was machten Sie da, Niels?«, fragte ich ihn.

»Ach, es ist nur so eine Sitte«, erwiderte er kurz; »ich legte nur einen Stein hin für Schimmelmanns Pferd.«

»Was für ein Pferd?«, fragte ich.

»Ja, der Student ist so buchgelehrt«, versetzte Niels Kei zögernd, »dass er wohl kaum an das glaubt, was für uns Bauern sicher und gewiss ist.«

»Doch, Niels, gewisslich tue ich das«, sagte ich und rezitierte pathetisch: »Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen sich die Schulweisheit nichts träumen lässt.«

»Ja, freilich, freilich«, sagte er, »und wenn der Student nicht über mich lachen will, soll er das Ganze erfahren … Also, dieser Schimmelmann, der die Fabrik baute, war ein Deutscher, und ein großer …« Hier hielt Niels Kei plötzlich inne und betrachtete mich mit einem Blick, als wolle er meine Ansicht erforschen.

»Ich weiß schon«, sagte ich.

»Er hatte viel mit dem Siebenjährigen Krieg zu schaffen«, fuhr Niels Kei fort. »Es stand damals knapp mit dem Futter für die Pferde, und da sollte dieser Schimmelmann den Hafer besorgen, denn er war ja wohl als Proviantmeister oder sowas angestellt. Aber wie das nun zugehen mochte, die Pferde des Preußenkönigs konnten es nie mit denen der Franzosen oder Russen aufnehmen, und so ließ der Preußenkönig den Schimmelmann zu sich bescheiden. Aber der hatte Lunte gerochen, und obwohl ein ganz Husarenregiment ihm nachsetzte, holten sie ihn doch nicht ein, denn er hatte einen Grauschimmel, der schneller als alle anderen war. So kamen sie zuletzt an den Elbefluss tief da unten in Deutschland, und über den schwamm Schimmelmanns Pferd hinüber, aber die Husaren mussten alle jämmerlich ertrinken. Dann trug das Pferd ihn ganz nach Jütland hinauf, und zuletzt kam er nach Kopenhagen, und da nannte er sich ja wohl Schimmelmann, weil ihn der Schimmel gerettet hatte; denn früher soll er anders geheißen haben. Dann fraß unser König Friedrich der Fünfte oder der Vierte einen Narren an ihm und machte ihn zum Ministers und ließ ihn die Fabrik hier bauen, die ein Fideikommiss ist, denn sonst war er ein tüchtiger Mann. Als nun der Preußenkönig das erfuhr, ließ er die Zeit hingehen, bis der Krieg zu Ende war, und als alle glaubten, dass die Geschichte vergessen sei, schickte er eine Deputation oder sowas zu unserem König, und Schimmelmann sollte hinunter und seine Landsleute begrüßen. Die lagen aber auf einem großen Fregattschiff draußen vor Trekoner, und der Kapitän hatte Ordre, sobald Schimmelmann seinen Fuß aufs Deck setze, sollten sie mit ihm in See stechen.

Die Schaluppe mit der preußischen Königsflagge lag drunten an der Zollhaustreppe, und Schimmelmann war schon draußen bei dem Zollhaus. Da stand nun ein Gardist von der Leibwache, der Schultz hieß, denn er war eigentlich ein Holsteiner und konnte Deutsch sprechen so gut wie einer. Der hatte Tags vorher in Brokkens’s Penne gesessen und mit den Matrosen vom preußischen Schiff getrunken, und da hatte er gehört, dass das Ganze so ein Filurenstreich sei, um diesen Schimmelmann zu fangen und ihn zu den Preußen zurückzuschleppen. Er durfte nichts sagen, als der Minister mit den hohen Herren vorüber ging, aber er blinzelte ihm zu und machte ihm ein Zeichen, wie einer, dem Handschellen angelegt werden.

Das verstand nun Schimmelmann gleich, denn er war ein großer Lucifer, und so sagte er, dass er einige Papiere droben auf dem Schloss vergessen habe. Sie wollten nun einen der Lakaien danach senden, aber Schimmelmann sagte, er müsse sie selbst holen. So ging er aufs Schloss, und da blieb er. Die Preußen warteten, bis sie schwarz wurden, aber als sie merkten, dass das Ganze eine Kriegslist gewesen sei, stachen sie wieder in See, und Schimmelmann war für diesmal gerettet.

Aber dann schrieb der Preußenkönig an unseren König, er solle Schimmelmann unter Schloss und Riegel setzen, und das musste unser König denn auch versprechen. Deshalb gab er ihm das große vergoldete Eisengitter draußen vor seinem Hof in Bredgaden. Das steht heute noch und jeder kann es sich ansehen. Das Letzte, weiß ich, ist wahr und gewiss, denn ich habe es selbst von dem alten Schultz, dem Gardisten von der Leibwache, gehört, welcher Schimmelmann zublinzelte und welcher deshalb als Inspektor auf der Fabrik angestellt wurde. Das andere habe ich gelesen, und es ist daher wohl möglich, dass es nur historisch ist.«

»Aber wie wurde es denn mit dem Pferd?«, fragte ich.

»Ja, das Pferd«, wiederholte Niels Kei, indem er einen ängstlichen Blick um sich warf. »Das war gar kein richtiges Pferd. Das kann auch wohl jeder wissen, welcher sah, dass es hier drinnen im Wald wie ein anderer Christenmensch begraben wurde, nicht von dem zu reden, was es getan hatte und noch tut.«

Es war augenscheinlich, dass Niels hier wieder auf das Gebiet des Mystischen kam, denn er blickte nach einigen aufziehenden Wolken und schwieg.

»Nun, was tut es denn?«, forschte ich.

»Ja das ist es eben, woran der Student natürlich nicht glauben will«, murmelte Niels Kei. »Es geht um und weidet am Kirchhof ohne Haut und Haar, ja, ohne dass es nur einen Fetzen Fleisch hätte. Begegnet es Leuten, so geht es ihnen, hast du nicht gesehen, aus dem Weg; aber noch jedes Mal ist der, welcher es traf, drei Tage nachher ins Grab gesunken. Die Tiere können merken, wo es herumgegangen ist, denn die verstehen sich besser auf so was als wir anderen. Dann bleibt einem nichts anders übrig, als ein Kreuz über einen Stein zu schlagen und ihn für Schimmelmanns Pferd hinzulegen, sonst kriegen sie den Todeskoller oder sonst eine Räude. Dadurch ist der Steinhaufen hier entstanden.«

»Hat denn Ole Hansen Schimmelmanns Pferd gesehen, ehe er starb?«, fragte ich.

Niels schob den Kautabak auf die andere Seite des Mundes, warf wieder eine Tauschlinge über den Braunen hin und sprach wie in die leere Luft: »Zuerst hörte er es einmal nachts in Aalsgaarde, dann begegnete er ihm an der westlichen Ecke der Kirchhofsmauer, dicht bei der Ziegelei. Heute Abend ist es wieder draußen.«

»Woher wissen Sie das, Niels Kei?«, fragte ich.

»Das hat er sonst nie getan«, versetzte Niels und trieb den Braunen mit der Peitsche an. »Es ist heute Abend wieder draußen. Jetzt kriegen wir Regen.«

»Aber ist das Ganze nicht die Geschichte vom Totenpferd?«, sagte ich und hüllte mich in die Decke.

»Totenpferd!«, wiederholte Niels verächtlich. »Ja, der Student mag glauben, was er will. Das Totenpferd? Das ist ja historisch!«

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