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Der Detektiv – Das Gespensterwrack – Teil 1

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Das Gespensterwrack

Teil 1

Es war Abend nach der aufregenden Nacht, in der wir dem Tode nur durch Harald Harsts kühle, klare Überlegung entgangen waren. Wir saßen zu dritt auf der Gartenterrasse des Harstschen Hauses: Frau Auguste Harst, Freund Harald und ich. Soeben hatte in dem hinter der Terrasse gelegenen Speisezimmer die Standuhr sieben geschlagen; soeben hatte die besorgte Mutter ihren Einzigen abermals flehentlich gebeten, für einige Zeit Berlin zu verlassen, hatte noch hinzugefügt: »Harald, ich gebe dich ja so ungern wieder ab, wo du kaum erst nach einjähriger Abwesenheit aus Indien zurückgekehrt bist. Aber ich werde die Angst nicht los, dass dieser entsetzliche Palperlon noch in Berlin weilt, dir auflauern und dich beseitigen wird. Harald, ich flehe dich an: Reise irgendwohin, bleibe vierzehn Tage an einem Ort, wo du sicher bist, und dann …«

»Dann?«, unterbrach er sie und streichelte ihre Hand. »Dann Mutter, dann hat sich nichts geändert, nichts. Palperlon wird mich ebenso wenig vergessen wie ich ihn. Wir haben eine große Rechnung miteinander zu begleichen. Er ist mein Schuldner und sein Konto ist riesengroß belastet. Er ist der Schuldner der ganzen zivilisierten Menschheit. Er hat Morde über Morde verübt: Er ist eine schlaue Bestie, vielleicht die schlaueste, die je in Menschengestalt über diese Erde wandelte. Ich bin es meinem Ruf schuldig ihn unschädlich zu machen. Nein, Mutter, verreisen werde ich nicht. Aber ich verspreche dir …«

Die Köchin Malwine betrat die Terrasse und legte zwei Briefe vor Harst hin.

»Soeben hat der Postbote sie gebracht«, sagte die treue Alte und verschwand wieder.

Harst griff sofort nach dem einen Brief.

»Ah, von James Palperlon! Ich erkenne die schlechte Maschinenschrift sofort wieder.« Er schnitt den Umschlag auf, zog einen nur einmal gefalteten Bogen heraus.

»Hm,« meinte er. »Eine Zeichnung. Nichts als eine Zeichnung.« Er lächelte. »Palperlon will mir, so scheint es, ein Rebus zu raten geben. Nun, da dies einige Arbeit – geistige Arbeit – kosten dürfte, legen wir diese Art Mitteilung zunächst beiseite.«

Er nahm den anderen Brief auf.

»Ebenfalls Anschrift getippt. Aber diese Maschine ist tadellos.« Er drehte den Brief in der Hand, besichtigte ihn, als ob es an dem Umschlag noch allerlei zu sehen gäbe, und fuhr dann fort: »Ein sehr teures Papier, dieser Umschlag. Erstklassige Luxusware. Der Brief könnte von einer Dame herrühren. Er duftet nach … nach … ja es dürfte eine Mischung von Divinia und Peau d’Espagne sein.«  Er schob sein Federmesser unter die Klappe und löste diese ohne Schwierigkeit.

»Sehr flüchtig zugeklebt!«, meinte er. »Auch das deutet auf eine Dame hin!«

Ich sah, dass der aus demselben elfenbeinfarbenen Papier bestehende Briefbogen ebenfalls mit Maschinenschrift bedeckt war.

Harst las halblaut vor:

Berlin, den 2 Oktober 19.. Sehr geehrter Herr Harst!

Ich gehöre nicht zu den Leuten, die Sie bewundern. Keineswegs! Ihr sogenannter Weltruhm als Detektiv ist ein Kind des Zufalls! Sie haben eben Glück gehabt bei Ihren Abenteuern, die Ihr Leibdichter Schraut der staunenden Menschheit zudem noch in einer Aufmachung in Gestalt von Erzählungen vorsetzt, die Ihr Genie stets dick unterstreicht – zu dick für Leute, die nicht gerade vertrottelte Idioten sind!

»Eine Frechheit«, entschlüpfte es mir. Denn der Leibdichter war ja ich selbst.

Harst lachte leise auf. »Ich bin ja gespannt, worauf dieser Brief abzielt. Also weiter:

Bewundern würde ich Sie nur, wenn Sie eine Aufgabe lösten, an die sich ein Ihnen ebenbürtiger Geist ohne Erfolg herangewagt hat. Dann wüsste ich, dass diese Aufgabe wirklich Schwierigkeiten bietet, zu deren Bewältigung mehr als ein Durchschnittstalent gehört. Ich selbst arbeite seit einem Jahr auf demselben Gebiet wie Sie, nur dass ich nie an die Öffentlichkeit trete. Vielleicht haben Sie in den Zeitungen gelesen, das ein geheimnisvoller Unbekannter stets aus dem Verborgenen heraus die Polizei nach Kräften unterstützt hat. Fragen Sie nur Ihren Freund Bechert. Der kennt mich. Vielmehr – er kennt mich nicht – mich kennt niemand! Ich bin insofern das gerade Gegenteil von anderen Leuten, die ihr Genie in alle Welt ausposaunen lassen. Ihr Konkurrent bin ich gewissermaßen; auch ein Liebhaberdetektiv! Nur keiner der das Wutgeschrei der großen Masse braucht. Heute erst las ich in der Berliner Zeitung, dass Sie bereits heimgekehrt sind und auch begünstigt von Ihrem alten Glück Ihre Frau Mutter wieder aufgefunden haben. Der spaltenlange Artikel in der BZ interessierte mich nur insofern, als ich bisher nicht wusste, dass Warbatty nur das durch Hypnose zu blindem Gehorsam gezwungene Werkzeug dieses James Palperlon gewesen ist. Palperlon ist Ihnen gestern Nacht entschlüpft. Jetzt wird er darauf sinnen, Sie schleunigst in den Hades zu schicken. Nun, ich werde Sie schützen! Und stets wenn Sie einer Lebensgefahr entronnen sind, werde ich Ihnen dies mitteilen. Mehr noch: Ich werde fortan bei der Aufklärung von Verbrechen und rätselhaften Vorfällen als Ihr Konkurrent arbeiten. Wollen sehen, wer mehr und schneller etwas erreicht. Ich selbst bin auch erst vorgestern aus Norwegens Hauptstadt zurückgekehrt. Haben Sie vielleicht von dem Gespensterwrack gehört? Deswegen war ich auf dem Christianiafjord. Leider war ich dort umsonst zwei Wochen begeisterter Angler. Das heißt: Ich habe eine Niederlage erlitten! Wenn Sie das Geheimnis jenes Wracks aufklären, würde ich meine Ansicht über Sie ein wenig ändern.

»Aha!«, sagte Harst. »Also ist er der ebenbürtige Geist, der sich erfolglos an eine Aufgabe herangewagt hat, wie es auf der ersten Seite heißt. Ein Wink mit dem Zaunpfahl für mich! Ich verstehe. Er will, dass ich mich nun an die Gespenster des Wracks heranmache!«

Geben Sie sich keine Mühe, mich zu enthüllen, Herr Kollege! Es gelingt Ihnen nicht. Ich bin Berliner wie Sie. Das muss Ihnen genügen. Sie hören bald mehr von mir, denn James Palperlon hat bereits seine unsichtbaren Giftzähne nach Ihnen ausgestreckt! Sollten Sie nach Christiania reisen, Herr Harst, so warne ich Sie schon jetzt! Zwei von den dortigen Kriminalbeamten, die einmal eine Nacht auf dem Wrack zubrachten, sind seitdem spurlos verschwunden. Leben Sie wohl! Ich bin in mäßiger Verehrung, Ihr Lihin Omen.

»Köstlich!«, rief Harst »Lihin Omen! Großartig ausgedacht – großartig! Denn dieses Lihin Omen einzeln rückwärts gelesen heißt Nihil Nemo, ist lateinisch und bedeutet: Nichts Niemand. Also wir haben es mit einem Herrn Nichts Niemand zu tun!« Er streichelte seiner Mutter wieder zärtlich die Hand: »Du bist ihm zu Dank verpflichtet, diesem Herrn! Denn … jetzt … werde ich reisen … nach Christiania. Mutter, du siehst mithin Deinen Wunsch erfüllt. Wir werden gleich morgen Berlin unter den gewöhnlichen Vorsichtsmaßregeln den Rücken kehren. Der wackere Karl, unser kleiner Gehilfe, soll auch mit – zum Dank für seine Unterstützung im Fall Schattenbilder

Am nächsten Nachmittag 5 Uhr waren wir in Hamburg – wieder in Hamburg, wo wir ja erst vorgestern nach unserer Orientreise den Lloyddampfer verlassen hatten.

Harald mietete dann für 14 Tage am anderen Morgen eine 15-Meter-Jacht mit Aushilfsmotor, die einem alten, pensionierten Schiffskapitän namens Tiessen gehörte. Der alte Tiessen und ein gleichfalls älterer Matrose begleiteten uns. Harst hatte seinen wahren Namen zunächst verschwiegen. Erst als wir dann Helgoland hinter uns hatten, erklärte er den beiden Seeleuten, wer wir seien und was wir in Christiania wollten.

Kuno Tiessen und der Matrose Jakob Pedersen waren sofort Feuer und Flamme für dieses Abenteuer, gelobten feierlich, Harsts Inkognito zu wahren und entpuppten sich bald als ein paar prächtige Menschen.

Harst war blondbärtig und nannte sich Hermann Hirt, ich hieß Max Schütz und Karl Malke war mein Sohn Karl.

Wir hatten mit dem Wetter großes Glück. Der Nordwest, Windstärke 6, brachte uns in drei Tagen an die Mündung des berühmten, 115 Kilometer langen Christianiafjords, an dessen Nordende die Hauptstadt Norwegens liegt.

Unsere Jacht hieß Optimus (der Beste). Sie war recht elegant eingerichtet, wenn auch nicht mehr ganz der Neuzeit entsprechend, da sie bereits auf ein Alter von einigen zwanzig Jahren zurückschauen durfte. Der kleine Motor war nachträglich eingebaut. Sie besaß ein leichtes Beiboot aus Aluminium. Dieses spielte nachher noch eine besondere Rolle.

Harst hatte die Zeichnung mit auf die Reise genommen, die Palperlon ihm damals abends durch die Post zugeschickt hatte und beschäftigte sich beinahe dauernd mit ihr. Als ich ihn am zweiten Reisetag wieder einmal im Wohnsalon über dieser Zeichnung brütend vorfand und scherzend meinte, das Palperlonsche Bilderrätsel scheine ihm ja wichtiger zu sein als die unser im Christianiafjord harrende Aufgabe, erwiderte er: »Es muss etwas ganz besonderes dahinterstecken. Sonst hätte Palperlon sich nicht die Mühe gemacht, etwas zu ersinnen, das sogar meinem Spürsinn so hartnäckig seine wahre Bedeutung verheimlicht.«

Ich kannte die Zeichnung längst von Ansehen. Sie bestand nur aus ein paar Punkten, Strichen und sechs scheinbar willkürlich hier und da hineingeschriebenen lateinischen großen Buchstaben. Ich komme später nochmals genauer auf sie zu sprechen.

Jedenfalls wir waren am Ziel. Wir waren im Christianiafjord. Bis nach Christiania hinauf brauchten wir die Fahrt nicht fortzusetzen, da Kapitän Tiessen eins doch genau wusste, dass das Wrack etwa 20 Kilometer von der Fjordmündung entfernt unweit des Fulehuk-Leuchtturmes lag.

Harst hatte bereits seinen Schlachtplan fertig. Wir wollten zunächst das Städtchen Vallö am Westufer des Fjords anlaufen, angeblich einer Beschädigung am Steuer wegen.

Nachmittags drei Uhr waren wir im Hafen von Vallö, machten an einem hölzernen Landungssteg fest und ließen zunächst von Kapitän Tiessen die nötigen Meldungen bei der dortigen Hafenpolizei erledigen. Wir blieben an Bord, saßen auf dem Kajütendeck unter dem nun aufgespannten Sonnensegel und tranken den vorzüglichen Kaffee, den Jakob Pedersen, zugleich auch unser Koch, gebraut hatte. Harst hatte Tiessen streng verboten, sich etwa in der Stadt nach dem Wrack zu erkundigen. Überhaupt sollten wir alle so tun, als ob wir davon noch nie etwas gehört hätten und als ob uns Wrack und Gespenster sehr gleichgültig ließen.

Um halb 5 Uhr kam Tiessen den Landungssteg entlanggestampft. Er hatte auch verschiedene kleine Einkäufe gemacht und dabei gleich deutsche Banknoten gegen Norwegische eingewechselt, im Ganzen für 500 Mark. Damit hoffte Harst vorläufig auszukommen.

»Wie steht’s mit einem Schlosser, der unsere Steuerkette wieder ausflickt, die wir absichtlich zerrissen haben?«, fragte Harst.

»Morgen früh erscheint er«, antwortete Tiessen und zählte Harst das Geld hin.

»Hörten Sie zufällig etwas über das Wrack?«, meinte Harst.

»Ja, zufällig! In dem Geschäft, wo ich mir Kautabak kaufte, bediente mich ein Mann, der mir gleich so bekannt vorkam. Denken Sie, Herr Harst, es war ein früherer Steuermann, mit dem ich mal auf einem englischen Dreimaster bis Australien angemustert hatte. Na, das gab eine große Freude, als wir uns wiedererkannten. Der Sven Torgelson hat durch ’n Unfall seine linke Gehmaschine eingebüßt und spielt nun den Krämer. Ein Prachtkerl ist’s! Er wird mich abends hier an Bord besuchen. Na, und Torgelson sagte, als ich scherzend meinte: ›Also als Wrack bist du hier in Vallö gestrandet.‹

›Stimmt – als Wrack! Aber auf mir tanzen nur meine drei Kinder herum, wenn ich auf dem Sofa Mittagsschlaf halten will, keine Gerippe wie auf dem Gespensterwrack!‹

Da hab’ ich denn mächtig den Dummen markiert und gefragt: ›Wohl so ’n neuer Seespuk, das Gespensterwrack, wie?‹ Und da wurde er gleich sehr ernst und erklärte: ›Du, Tiessen, das ist nicht zum Witze machen! Jetzt hab ich keine Zeit. Aber abends auf dem Optimus erzähl ich dir alles ganz genau. Das ist so was für zwei alte Seebären wie wir es sind. Übrigens war vor Kurzem ein Deutscher hier, ein Berliner, der sehr viel im Fjord angelte und den wir alle im Verdacht hatten, er hielte sich nur hier auf, um dieser tollen Geschichte mit den Skeletten auf dem wracken Kahn ein bisschen auf den Grund zu gehen. Na, er ist wieder abgereist, und die Gespenster sind noch genauso rührig wie früher.‹ So sagte er. Und dann wechselte er mir noch zwei Hundertmarkscheine und ich schob ab.«

»Herr Lihin Omen!«, meinte Harst und sah mich bedeutungsvoll an.

Ich verstand: Der Angler war fraglos unser Konkurrent gewesen.

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