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Slatermans Westernkurier 06/2021

Auf ein Wort, Stranger, erinnerst du dich noch an die weiße Frau der Seneca?

Der bekannte Autor, Amerikaexperte und Kenner des Wilden Westens Thomas Jeier hat einmal in einem seiner Bücher geschrieben: »Eigentlich war sie nur eine Randnotiz der amerikanischen Pioniergeschichte, und doch blieb sie bis heute unvergessen.«

Treffender kann man ihr Leben und Wirken kaum in Worten ausdrücken.

Mary Jemison wurde als sechstes Kind ihrer schottisch-irischen Eltern Thomas und Jane Jemison während der Überfahrt von Irland in die Vereinigten Staaten im Jahre 1742 an Bord des Schiffes Mary Williams geboren, andere Quellen behaupten, es war im Jahr 1743.

Nach der Ankunft in der Neuen Welt siedelte sich die Familie am Marsh Creek in der Nähe von Gettysburg, Pennsylvania, an.

Im Jahre 1754 begann der sogenannte Siebenjährige Krieg in Nordamerika, der nichts anderes war als der Interessenkonflikt der beiden Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich und ihrer jeweiligen indianischen Verbündeten um die Vorherrschaft in Nordamerika; ein Krieg, der trotz aller Abgeschiedenheit, in der die Jemisons wohnten, ein Jahr später auch ihren Besitz erreichte.

Mary war gerade mal zwölf, als am 5. April 1755 eine Bande umherstreifender Marodeure, vier Franzosen und sechs Indianer des mit Frankreich verbündeten Stammes der Shawnee, die elterliche Farm überfielen. Wobei auch dieses Datum mit Vorsicht zu genießen ist. Den 5. April gibt jede Quelle als den Tag an, an dem es geschah, nur bei der Jahreszahl schwankt es zwischen 1755 bis 1758. Worüber sich aber alle einig sind, ist der Ablauf des Geschehens.

Den beiden ältesten Brüdern von Mary gelang die Flucht, während sie, ihre Eltern und die anderen drei Geschwister gefangen genommen wurden.

Danach wurde sie und ein Junge aus der Nachbarschaft von den anderen Gefangenen getrennt, da sie im richtigen Alter für eine Adoption waren. Ihre Eltern und ihre Geschwister und alle anderen jedoch wurden verbrüht, erschlagen und skalpiert, ein grausamer Akt, wobei ersteres seinen Ursprung in der Religion der Shawnee hat.

Die Bande verschleppte sie bis nach Fort Duquesne, wo Mary an zwei trauernde Seneca-Frauen verkauft wurde, die ihren Bruder verloren hatten. In einer Zeremonie, die Mary kaum verstand, verbrannten die Frauen ihre Kleider und kleideten sie anschließend wie eine Indianerin. Wie sie später erfuhr, ein Zeichen dafür, dass man ihr Leben verschonte und sie in den Stamm aufnahm, damit sie den dezimierten Seneca neue Krieger gebären konnte.

 

*

 

Mary fügte sich zunächst nur widerwillig in ihr Schicksal, doch schon bald fand sie heraus, dass man sie als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft ansah und ihr die gleiche Zuneigung und den gleichen Respekt wie einem echten Seneca entgegenbrachte. Sie war keine Sklavin, sondern lebte gleichberechtigt mit den Familien ihres Clans im Langhaus und lernte so die fremde Kultur verstehen.

Ein Jahr später auch deren Sprache.

Verwundert, ja geradezu ungläubig stellte sie danach fest, wie demokratisch die Seneca eigentlich organisiert waren, welch großen Einfluss die Frauen hatten und welche Bedeutung das spirituelle Leben selbst im Alltag besaß.

Im Grunde genommen war ihr jetziges Dasein, die tägliche Feldarbeit und ein Leben, das von den vier Jahreszeiten bestimmt war, nicht anders als das einer weißen Farmersfrau.

Dennoch gab es einen großen Unterschied, die Kultur der Seneca, die von gegenseitigem Respekt geprägt war, räumte ihr bedeutend mehr Rechte ein, als die meisten anderen weißen Frauen in Amerika besaßen.

Mary, der man inzwischen den indianischen Namen Dehgewanus, auch Deh-he-wä-mis oder Dickewamis, gegeben hatte, was so viel wie Zwei fallende Stimmen bedeutete, vergaß schon bald die grausamen Morde, welche die Shawnees an ihren Eltern und den anderen begangen hatten. Ihr Drang, zu den Weißen zurückzukehren, wurde immer schwächer und erlosch

schließlich vollständig, als sich einige Zeit später ein anderer Stamm in der Nähe der Seneca ansiedelte und sie dort einen Delaware-Krieger namens Sheninjee kennen- und später auch lieben lernte. Die beiden heirateten 1760 und hatten zwei Kinder. Das erste war ein Mädchen, das 1761 kurz nach der Geburt starb, das zweite ein kräftiger Junge, dem sie den Namen ihres Vaters, Thomas, gab.

Jetzt war sie endgültig eine Seneca.

 

*

 

Doch ihr Glück war nicht von langer Dauer, die Zeiten wurden immer unruhiger. Der Krieg zwischen den Kolonialmächten war zu Ende und immer mehr weiße Siedler drängten in das Land der Seneca und vertrieben die Indianer nach und nach aus ihren Jagdgründen.

Als ihr Dorf zerstört wurde, folgte sie ihrem Mann nach Norden, um bei seinem Clan am Genesee River eine neue Heimat zu finden.

Es war jedoch bereits Spätherbst und Schneestürme kündigten einen drohenden eisigen Winter an. Zu allem Unglück kam ihr Mann auch noch bei der Jagd um, sodass sie bei Kälte, Schnee und Eisregen mitten in der Wildnis mit ihrem kleinen Sohn an der Seite auf sich allein gestellt war.

Doch Mary haderte nicht mit ihrem Schicksal, sondern zeigte ihm die Stirn. Sie trotzte allen Entbehrungen und erreichte nach einem unvorstellbaren Gewaltmarsch voller Schmerzen, Leid und Hunger nach über siebenhundert Meilen das Dorf ihres Mannes, wo sie voller Herzlichkeit aufgenommen wurde. Dort erfuhr sie im Sommer des darauffolgenden Jahres durch einen fahrenden Händler auch vom Tod ihres Mannes.

Da die Zeiten weiterhin unruhig blieben, entschloss sich der Clan, nach Little Beards Town, ins Kernland der Seneca überzusiedeln, wo er sich mehr Schutz und Sicherheit vor den weißen Siedlern versprach. Dort fand Mary auch eine neue Liebe, die sie etwas mehr als zwei Jahre später schließlich heiratete.

Hiokatoo war nicht nur ein angesehener Häuptling, sondern auch ein zärtlicher Ehemann und liebevoller Vater ihrer sechs Kinder, die sie ihm im Lauf der Ehe schenkte. Da Mary durch die gesellschaftliche Ordnung der Seneca ein gewichtiges Mitspracherecht bei der Namensgebung besaß, hießen ihre vier Töchter deshalb nicht Kleine Blume oder Weiße Wolke, sondern Jane, Nancy, Betsey und Polly und die beiden Söhne John und Jesse.

Doch auch dieses Glück war nicht von langer Dauer.

 

*

 

Die dunklen Wolken eines erneuten Krieges überzogen das Land. Dieses Mal jedoch waren die Vorzeichen andere, dieses Mal standen sich nicht zwei Kolonialmächte gegenüber, die ein fremdes Land wie ein Stück Kuchen unter sich aufteilen wollten.

In diesem Konflikt standen die weißen Siedler Amerikas der britischen Kolonialmacht gegenüber, keine schlechtbezahlten oder zum Wehrdienst gepresste Soldaten oder Söldner, sondern Menschen, die dieses Land als ihre Heimat betrachteten und sich gegen die Londoner Vormundschaft mit Zähnen und Klauen zur Wehr setzten.

Es gab deshalb auch keine Bündnisse oder Verträge mehr, für beide Seiten galt nur noch: »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns und wird deshalb vernichtet!«

Die Seneca entschieden nach langer Beratung, sich auf die Seite der Engländer zu schlagen, ein fataler Fehler, wie wir heute wissen.

Der Beschluss, sich auf die Seite der Engländer zu stellen, erfüllte den Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte, George Washington, mit solcher Wut, dass er 1779 seinem General John Sullivan umgehend befahl, in das Land der Seneca einzumarschieren und Little Beards Town und das gesamte Umland niederzubrennen und die Bewohner zu töten.

Hiokatoo fiel im Kampf gegen die Soldaten und die Seneca flohen in die nahen Wälder, wo viele von ihnen in den Schneestürmen des Winters verhungerten oder erfroren. Mary wählte einen anderen Weg. Sie blieb am Genesee River und kam mit ihren Kindern bei entlaufenen Sklaven unter.

Nachdem der Krieg zu Ende war, kehrte sie zu dem Volk der Seneca zurück, das von den siegreichen Amerikanern inzwischen in Reservationen gedrängt wurde.

Mary erkannte schon bald, dass die Trostlosigkeit und das Elend, das dort herrschte, die Seneca nicht nur um ihre Kultur und Tradition brachte, sondern sie auch für Dinge empfänglich machte, welche den Seneca fremd waren, unter den Weißen allerdings als gegeben hingenommen wurden.

Missgunst, Neid, Diebstahl und Alkoholismus, wobei es letzteres war, das dem Leben ihrer Söhne ein Ende bereitete.

Ihr Sohn John erschlug im Whiskyrausch erst seinen älteren Buder Thomas mit einem Beil und erschoss dann später Jesse, um bald darauf ebenfalls durch den Alkohol den Tod zu finden. Kurz zuvor war bereits ihre Tochter Jane im Alter von 15 Jahren verstorben.

Doch auch diese Schicksalsschläge warfen Mary Jemison nicht aus der Bahn. Im Gegenteil, sie wurde zur engagierten Vermittlerin zwischen Seneca und Weißen und erwarb sich den Respekt beider Völker.

Sie starb hochgeachtet und von allen respektiert am 19. September 1833 im Erle County im Staate New York in der Seneca-Reservation am Buffalo Creek. 1874 bettete man sie um und bestattete sie in der Nähe des Genesee Rivers, wo sich ihr ehemaliges Haus befand. 1910 wurde ihr zu Ehren dort eine Statue aus Bronze errichtet. 1923 baute ihr ein katholischer Priester in der Nähe der Stelle, an der sie einst gefangen genommen wurde, aus Respekt ein weiteres Denkmal. Auch heute noch verneigt sich ein ganzer Bundesstaat vor der einfachen Farmertochter, die so viel für die Seneca getan hatte und der das Schicksal dennoch übel mitspielte. Nicht nur, dass ihr zweiter Ehemann noch zu ihren Lebzeiten verstarb, auch ihre Töchter überlebten sie gerade einmal um sechs Jahre. Danach starben alle binnen drei Monaten. Somit hatte kein einziges Mitglied ihrer Familie, weder die beiden Ehemänner noch ihre insgesamt acht Kinder, den Winter 1839 überlebt.

Euer Slaterman

Quellennachweis:

  • Thomas Jeier Das große Buch der Indianer, 2008 Verlag Carl Ueberreuter Wien, ISBN 978-3-8000-1596-2
  • Mary Jemison/James E. Seyver, Niederschrift der Lebensgeschichte Mary Jemisons, ins Deutsche übersetzt und herausgegeben von Urs Lauer und Janis Osolin, Stroemfeld/Frankfurt 1979
  • Lois Lenski, Indian Captive: The Story of Mary Jemison, Open Road Media, 2011

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