Blutrosen – 12 – Treue Liebe
Blutrosen
Schauererzählungen
frei nach dem Französischen des Eugène Sue, Alexandre Dumas d. Ä, Honoré Balzac, Victor Hugo und andere
Verlags-Comptoir. Breslau. 1837
Druck von M. Friedländer in Breslau
Zweiter Teil
Treue Liebe
Eine große Menschenmenge drängte sich auf den Stufen des Palastes. Alles wollte der heutigen Sitzung des Assisenhofes beiwohnen, die ein lebhaftes Interesse erregt hatte. Es schlug zehn Uhr. Aller Augen richteten sich zu einer kleinen Tür, welche geöffnet wurde, um den Angeklagten eintreten zu lassen.
An diesem Tag waren die Wachen verdoppelt, denn man richtete einen Hochverräter.
Die kleine Tür öffnete sich und Raimund Dervaux, der Angeklagte, erschien. Seine zahlreichen Freunde begrüßten ihn mit ermutigenden Blicken und Kopfnicken. Er dankte durch eine ausdrucksvolle Bewegung, trat vor und ließ über die Gesellschaft hin seinen Feuerblick gleiten, der nun durch seine Lage gemildert war und in seiner Sanftmut einen unendlich beredten Ausdruck hatte. Sein für gewöhnlich strenges Gesicht wurde nun durch reuelosen Stolz verschönert. Auf seiner hohen Stirn las man seine Seele.
Einen Augenblick ließ er sich durch einen finstern Gedanken bewältigen, sein Kopf sank auf die Brust. Auf derselben Bank, vor denselben Richtern, erschienen auch die Verbrecher! Doch er empfand darüber weder Schande noch Demütigung, sondern Wut. Er knirschte mit den Zähnen. Indem er die Arme kreuzte, erhob er das Haupt mit dem Stolz einer großen Seele und zeigte so, wie sehr er sich über sein Geschick zu erheben wusste.
Unter seinen Freunden fesselten einige Vertraute sein Blick; in seinen Augen lasen sie abwechselnd Gefühle des Schmerzes oder der Hoffnung. Eine Frau besonders empfing jede stumme Mitteilung, welche die Übereinstimmung zweier Wesen verriet, die, um sich alles zu sagen, keines einzigen Wortes mehr bedürfen.
Unter den Anwesenden, verborgen unter der Masse, befand sich eine andere Frauengestalt, aufmerksam und besorgnisvoll, errötend und erbleichend bei der Rede Raimunds. Des Atems kaum mächtig, verließen ihre Blicke die Bank der Angeklagten nur, um sich auf die Richter und Geschwornen zu wenden und ihre strengen regungslosen Gesichter zu befragen, während sie, vergessen von dem, der ihr solche Angst einflößte, keinen Blick als Antwort erhielt. Sie sah nur, wie er die vor ihm sitzende Frau sanft anblickte. Und dann fühlte Maria das Blut sich zu ihrem Herzen zurückdrängen und seufzte.
Die Zeugen waren vernommen, es blieben nur noch zwei. Die Aussagen schienen nicht sehr wichtig, wenigstens waren die Anklagen beseitigt. Die Freunde Raimunds blickten einander ruhiger an und hofften wieder.
Einer der zwei Zeugen trat vor.
»Wiederholt Eure Aussage«, befahl der Präsident. »Wo habt Ihr den Angeklagten Dervaux in der Nacht des Ereignisses gesehen?«
»Es war elf Uhr. Der Angeklagte ging schnell, verbarg eine Waffe unter seinem Mantel und sah mich nicht. Rasch sagte er zu einem Vorübergehenden: Unsere Freunde sind verhaftet; wenn es nicht mehr Zeit ist, sie zu retten, wollen wir wenigstens auf unsre Sicherheit bedacht sein.«
Alle sahen einander an. Maria fühlte ihr Herz brechen, es schien ihr, als hätte sie das Todesurteil vernommen.
Der Zeuge sagte zuletzt, dass er den Angeklagten um zwei Uhr morgens an der Tür eines Hauses gelassen hatte, dessen Verdächtigung hinlänglich bewiesen sei.
Die letzte Behauptung war noch nicht ausgesprochen, als aus dem Hintergrund des Saales eine weibliche Stimme rief: »Lüge!«
Man wollte Stillschweigen gebieten. Aller Augen hatten sich nach der Gegend gerichtet, woher die Stimme kam. Der Angeklagte verlangte, dass man diesen neuen Zeugen befragen solle.
Da sah man ein junges Mädchen, bleich und zitternd, sich nähern, aber auch recht erhoben und beherrscht durch den festen Entschluss, welcher das Ergebnis des Augenblicks war. Als sie sich aber der Menge gegenüber sah, alle Blicke auf sich gerichtet, da wankten ihre Füße, ihre Augen umflorten sich. Sie stützte sich auf einen Stuhl, um nicht zu fallen.
Gewaltsam sich sammelnd, wendeten ihre Blicke sich bittend auf Raimund, als wollte sie ihn fragen: »Was werden Sie denken.« Und dann auf die junge Frau, die mit Erstaunen sie anblickte. Maria hätte ihr so gern gesagt: »Zürnen Sie mir nicht; beneiden Sie mich nicht um mein erlogenes Glück!«
Und ihr Blick war so beredt, dass ihre glückliche Nebenbuhlerin sie hatte verstehen sollen.
Raimund wurde durch den Anblick Maries so sehr überrascht, dass er glaubte, zu träumen. Marie, gekränkt von ihm, seinem Leben fremd geworden, erschien nun wie ein schützender Engel, den Streich abzuwenden, der ihn bedrohte. Er betrachtete sie mit Rührung, Erinnerungen drängten sich in seinem Geist und er litt, indem er bedachte, dass die Zukunft ihm nicht mehr gestatten würde, die verkannte Vergangenheit zu vergüten.
»Was wissen Sie von dem Angeklagten?«, fragte der Präsident.
»Herrn Dervaux kann der Zeuge nicht gesehen haben«, sagte sie und vermochte kaum, diese Worte hervorzubringen. »Ich habe ihn gesehen und ich weiß, wo er bis zum Morgen war.«
»So sagen Sie es. Die bloße Behauptung genügt nicht.«
»Bei mir«, sagte sie so leise, dass man sie im Saal eher erraten musste als verstehen konnte.
»Und welchen Beweis haben Sie?«, fragte der Präsident.
»Glauben Sie, dass Ihre einzige Stimme die fünf Zeugen Lügen strafen könne, die vor Ihnen gesprochen haben?«
»Welcher Beweis, großer Gott! Ist das Geständnis, welches ich ablege, noch nicht genug?«, fragte sie, ihr brennendes Gesicht verbergend.
»Es bedarf eines Beweises«, wiederholte der Mann des Gesetzes, mit seiner amtlichen Gleichgültigkeit die Worte betonend, damit sie besser verstanden würden.
»Ich habe keinen.«
»So entfernen Sie sich.« Maria schwankte aus dem Saal.
»Haben Sie nichts zu entgegnen«, fragte der Präsident den Angeklagten.
»Nichts«, erwiderte dieser kalt.
Zum ersten Mal fühlte er, dass er nicht allein mit diesem sonderbaren Ereignis beschäftigt sei, und hielt es für seine Pflicht, die durch einen Blick zu enttäuschen, die bei dem Vorgegangenen leiden musste. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen. Sie hatte es in die Hand gestützt und weinte heftig. Ein neuer Schmerz hatte sich zu dem der Besorgnis gesellt, voll Bitterkeit traten ihr die Tränen in die Augen.
Ach! Es war ein Augenblick der Entzauberung für die arme Frau, die den Heißgeliebten nun treulos glaubte.
Nach Vernehmung des letzten Zeugen, dessen Aussage den anderen gleichkam, verließen die Freunde Raimunds voll Kummer und Besorgnis den Saal.
In sein Gefängnis zurückgekehrt, konnte Raimund zum ersten Mal seine Gedanken über den Auftritt sammeln, der soeben stattgefunden hatte. Er bemühte sich, seine Erinnerungen herbeizurufen. Er dachte der Zeit, wo er in Maries Nähe lebte; er erinnerte sich ihrer Freundschaft, als seine Mutter die Waise wie ihre Tochter erzog; ihre geschwisterliche Zuneigung, welche mit fünfzehn Jahren eine andere Richtung nahm, leichtfertig und frivol bei ihm, aber tief und zärtlich in der Seele jenes Mädchens, in der er auch abwesend lebte.
Nun enthüllte sich ihm zum ersten Mal das Geheimnis der Aufmerksamkeit, mit welcher Marie ihn stets beobachtete. Er verstand die Tiefe des langen Blickes ihrer schwarzen, sanften Augen. Er las zum ersten Mal in dem Mädchenherzen, welches er bisher nicht verstanden hatte. Das unschuldige Kind hatte in den Schmeicheleien eines jungen Menschen wahre Liebe geahnt, hatte einige Aufmerksamkeiten der Freundschaft mit leidenschaftlicher Liebe vergolten. In einem stummen Gefühl liegt eine solche Beredsamkeit, dass der, welcher dasselbe einflößt, ohne allen Zweifel daran glaubt. Von diesem Augenblick an wurde Marie eine längst verlorene Freundin für Raimund. Es empörte ihn, die innige Neigung verkannt zu haben, als die Zukunft ihm noch lachende Hoffnungen bot. Wie verschieden zeigte sich Marie gegen die anderen Frauen, die er geliebt hatte, sie, die ohne irgendetwas für sich selbst zu erwarten, nicht vor einem Geständnis zurückbebte, durch das sie mit Verachtung bedeckt wurde. Er fühlte, was das tugendhafte Mädchen Herzzerreißendes empfunden haben musste, als sie für ihn die Achtung der Welt opferte, die ihr so teuer war.
Sein Gedächtnis stellte ihm Marie dar, die so fromm, so bescheiden war, wie sie bleich und niedergedrückt durch die Schmach, die Entehrung dem Verlust dessen vorzog, von dem sie nicht einmal verstanden wurde, und den sie retten wollte, um ihn einer anderen zurückzugeben.
In einer solchen Liebe liegt etwas zu Wahres, um nicht geteilt zu werden. Er fühlte nun, dass es Frauen gibt, deren Herz voll Heiligkeit der Liebe er nie erkannt hatte.
Marie gehörte ihm an für immer, denn er hatte sie erkauft durch die Verachtung aller.
Mit großen Schritten ging er in seinem Gefängnis umher; der Unglückliche vergaß, dass der Tod, der Tod durch Henkershand, ihm ganz nahe war. Doch nun dachte er daran, denn er fasste seinen Kopf mit beiden Händen, stieß einen schmerzlichen Seufzer aus und sank wieder auf seinen Stuhl.
Der Schließer trat ein. Der Gefangene sagte zu ihm: »Bernard ich habe etwas zu bitten. Ich wünsche heute jemand zu sehen. Ist es möglich?«
»Heute noch, ja.«
»Heute noch«, wiederholte Raimund mit bitterem Lächeln, »dann – enger Gewahrsam, dann – das Schafott. Wohl es sei, das Schafott«, rief er noch einmal, die Hände gewaltsam ballend, »aber mein Blut wird auf sie fallen, und mein Tod nicht ohne Nutzen sein. Bernard lassen, Sie dieses Billett an seine Adresse bringen und führen Sie die Person zu mir.«
Als Raimund allein war, fragte er sich, ob Marie kommen würde und verfiel in tiefes Nachdenken; drei leise Schläge an der Tür weckten ihn daraus. Dies Zeichen war zwischen ihm und einem teuren Wesen verabredet und hatte ihn stets mit Freude erfüllt. Heute aber ertönte es ihm wie ein Vorwurf. Wie wenig Zeit bedarf es, um die Übereinstimmung unter Liebenden zu stören. Ein Augenblick, und Zweifel und Misstrauen werfen Kälte zwischen die innigsten Verhältnisse. Das Herz, in welchem Zweifel sich erheben, erblickt überall nur Zweifel. Raimund öffnete, aber es geschah nun nicht so rasch wie sonst. Indem er zur Tür ging, dachte er der nächsten Vergangenheit, und sein Blick senkte sich beim Anblick der Jungfrau, die zu ihm eintrat. Es war Valentine, Mariens glückliche Nebenbuhlerin, die er allein bis jetzt geliebt hatte.
Sie hatte rot geweinte Augen, ihre Wangen waren bleich. Sie setzte sich nieder, verbarg das Gesicht in beide Hände und weinte.
Raimund näherte sich ihr und sagte leise: »Valentine, kommen Sie so zu mir?«
Sie erhob das Haupt. Der ganze Stolz einer verletzten Frau war in ihrem Gesicht zu lesen. Ohne zu antworten, sah sie Raimund an. Er verstand, was sie aussprach und wollte ihre Hand ergreifen, aber sie zog sie zurück.
»Raimund«, sagte sie endlich, und der Anstrengung ungeachtet, konnte sie ihren Unwillen nicht ganz verbergen, »Sie sind unglücklich und ich komme nicht hierher, Ihnen Vorwürfe zu machen. Ich will Ihnen Lebewohl sagen. Raimund! Dachten Sie nicht daran, was ich leiden musste, da unsere Liebe durch einen fremden Mund Lügen gestraft wurde! Und ich, die ich Sie gestern noch mit der ganzen Innigkeit zärtlicher Leidenschaft liebte! Ich Verblendete, dass ich mich so hintergehen ließ.«
»Valentine«, sprach Raimund, »ich habe mir kein Unrecht vorzuwerfen. Ich wünsche den Argwohn zu zerstören, den Sie gefasst haben. Das junge Mädchen, das mich retten wollte, denn nur von dieser können Sie sprechen, ließ sich von einem Gefühl hinreißen, welches mir so unbekannt war, dass ich es bis gestern nicht verstanden habe. Wenn ich Ihnen mein Ehrenwort als Mann gebe, wenn ich Ihnen auf das, was uns das Teuerste ist, schwöre, dass Marie mir ganz fremd ist, dann müssen Sie mir glauben.«
»Es ist nicht möglich!«
»Es ist wahr.«
Valentine warf auf Raimund wieder einen jener Blicke, welche sich mit dem Blitzen eines Gewitters vergleichen ließen. Sie war eifersüchtig, doch nicht von jener Eifersucht, welche durch Schmerz tötet, sondern von der, die durch Hass und Rache ausartet.
»Sprechen Sie kein Wort. Ich müsste Sie hassen wegen ihrer Falschheit und würde ihr doch nicht verzeihen?«
Raimund antwortete nicht. Er hatte in der Nähe seines Kerkers ein Geräusch gehört und wendete sich ab, seine Unruhe zu verbergen.
Valentines Herz schien nun in Zärtlichkeit aufzuwallen. Sie vergaß einen Augenblick, dass alles Raimund anzuklagen schien, und machte sich den Vorwurf, die Tage noch zu vergiften, die vielleicht schon gezählt waren. Dieser Gedanke beherrschte alle anderen, und sie wollte dem Unwillen Schweigen gebieten.
Zögernd und verlegen näherte sie sich Raimund, legte ihren Kopf auf seine Schulter und sah ihn mit jener studierten Sanftmut an, welche eine Frau in ihrer Gewalt hat, wenn Sie Unrecht vergüten will.
»Ich bin vielleicht ungerecht gewesen«, sagte sie sanft lächelnd, »wollen Sie es vergessen?« Ihre Augen hatten dabei den Ausdruck der Bitte.
Raimund war gerührt. »Ob ich es vergessen will?«, fragte er. »Ach, ich hätte dich selbst darum gebeten, wünschtest du es nicht. Glaubst du denn, dass ich mit einem Fuß im Grab ein anderes Gefühl hegen könnte als das unserer Liebe, meine arme Freundin? Dieser Tag ist der der Trennung. Und wenn wir uns anderswo wiedersehen! Bewahre diese Hoffnung, sie ist ein Trost!«
Er nahm die Hände Valentins und küsste sie, während eine Träne in seinem Auge glänzte. In diesem Augenblick fühlte Raimund sein Blut bei dem Schall von Schritten auf dem Gang heftiger wallen. Das Geräusch der Schlüssel bestätigte seine Vermutungen der Ankunft Bernards; Raimund ging ihm entgegen.
»Mein Herr«, sagte der Schließer gleichgültig, »hier ist die Antwort.« Er wollte sich wieder entfernen, als er ein Zeichen Raimunds bemerkte.
Marie stand hinter ihm, den Kopf gesenkt und bebend am ganzen Körper.
»Führen Sie das Mädchen hinweg«, sagte er, so schnell er konnte, »und sorgen Sie einen Augenblick für sie.«
Aber diese kurze Unterhaltung hatte gereicht, den ganzen Verdacht in der Seele Valentines wieder zu erwecken. Das Gesicht durch die heftigste Aufregung entstellt, stürzte sie zur Tür.
»Kommen Sie doch herein!«, sagte sie, indem sie den Arm des Mädchens erfasste. »Kommen Sie herein!«
Marie vermochte nur einen erschreckten und bittenden Blick auf Raimund zu werfen.
»Herr Dervaux«, flüsterte sie, »was wollen Sie von mir?«
Bei diesen Worten fühlte er, dass er dem jungen Mädchen Schutz schuldig sei, das vertrauensvoll auf seinen Ruf herbeieilte. Ihre Hand losmachend von der Valentines, stellte er sich zwischen beide.
Marie wollte fort; sie war so ergriffen, dass ihre Stimme kaum gehört wurde. Sie ging zur Tür.
»Nein, nein, so kommen Sie nicht fort«, rief Valentine, sie zurückhaltend. »Da wir hier einmal zusammenkommen sind, muss sich mein Herz des Hasses entledigen, von dem es erfüllt ist.«
»Aber Madame«, stammelte Marie, »Herr Dervaux muss Ihnen gesagt haben, …«
»Ich will nicht hören. Ich will Ihnen sagen, dass ich Sie hasse, dass ich auch ihn seit gestern hasse; dass Sie nicht einen Tag des Glückes genießen werden, dass ich Sie trennen will, dass Sie ihm nicht angehören dürfen, nein, nein, nimmer.«
»Valentine«, sagte Raimund, »ich kann es nicht länger dulden, dass eine so edelherzige Großmut, wie die, welche Mademoiselle jene Lügen eingab, durch die ich gerettet werden konnte, für sie in meiner Gegenwart ein Grund der Erniedrigung sein soll.«
»Nun gut, so schicken Sie sie fort und sehen Sie sie nie mehr wieder. Versprechen Sie mir dies.«
»Es ist nicht möglich.«
»Gut – diese Weigerung sagt alles.«
Sie stieß Raimund zurück, der sich ihr genähert hatte.
»Nein«, sagte sie heftig, »wir sehen uns nicht wieder, und soll es zu unserem beiderseitigen Unglück sein!«
Hastig verließ sie den Kerker. Raimund wollte sie zurückhalten. Er sprang zur Tür und rief sie mit sanfter Stimme. Sie antwortete nicht und verschwand.
Als er sich wieder umwendete, erblickte er Marie auf dem hölzernen Schemmel neben seiner aus dem Boden liegenden Matratze. Sie weinte wie ein Kind.
»Wie können Sie mir diesen Austritt verzeihen?«, sagte er, ihre Hände mit der Vertraulichkeit eines alten Freundes ergreifend. »Wie kann ich selbst mich darüber trösten, Sie dem ausgesetzt zu haben? Und doch wünschte ich so sehr einen Augenblick des Alleinseins mit Ihnen, einen einzigen Augenblick!«
»Ich wusste wohl, wie viel Schmach und Verachtung ich auf mich laden würde«, erwiderte Marie. »Aber die erste Probe war grausam und ohne den Mut, den Sie mir gaben, würden jene Worte mich niedergeschmettert haben.«
»Vergessen Sie das, Marie, und lassen Sie mich einige Worte von dem sagen, was ich Ihnen nach diesem Sturm schuldig bin. Hören Sie wenigstens den Ausdruck meiner Dankbarkeit an. Sein Sie so gut gegen mich, Marie, versüßen Sie meinen Todeskampf, Marie«, fuhr er fort, indem er sich zu ihren Füßen auf die Matratze setzte. Seine zitternde Stimme machte das Mädchen bebend. »Marie, wer hat Sie bewogen, mich retten zu wollen?«
»Wer mich betrogen hat? Großer Gott!«, sagte sie. Die Ungerechtigkeit, die in dieser Frage lag, gab ihrer Zärtlichkeit die ganze Kraft wieder. »Die Furcht und die Gefahr, welche Ihr Leben bedrohte!« Leise fuhr sie dann fort, und als wollte sie dadurch das Gefühl verbergen, welches sie verraten hatte: »Herr Dervaux, ich liebte Ihre Mutter so sehr!«
Aber er hatte diese der Verstellung unfähige Seele durchschaut. Weshalb täuschen, da die Zukunft durch den morgigen Tag begrenzt wurde?
Eine Erinnerung machte die Lippen des jungen Mannes erblassen; seine feuchten Augen ruhten mit Wohlgefallen auf Marie. »Ich danke dir«, sagte er, »ich verstehe dich und kann mich meiner Schuld entledigen. Für deine Liebe, meine ganze Liebe; deine Großmut vergelten, kann ich nicht. Für dein Mitleid genügt meine Dankbarkeit nicht. Du liebst mich! Sage nicht nein, Marie. Möchtest du das neue Leben zerstören, dessen ich mich seit gestern erfreue? Meine Gedanken waren unablässig nur mit dir beschäftigt. Ich sah dich, wie du mich zu dir gezogen hast, mich zu retten … dein Entschluss … die Tränen, welche deine Stimme erstickten … deine Blässe, welche mir deine Leiden verriet. Glaubst du, dass ich das alles je vergessen könnte? Niemals! Ich schwöre dir, dass mein ganzes Leben … Mein Leben? Ha! Es wird so lang … sein … Ha! Wut! Wut!«
Er knirschte mit den Zähnen und schlug mit der geballten Faust an die Wand.
»Verzeihung«, rief er, »ich erschrecke dich, Verzeihung! Aber entsetzlich ist der Todeskampf eines Menschen in voller Lebenskraft, und besonders, wenn ein neues, so verführerisches Lebensband sich zeigt.«
»Ein neues Band«, sagte Marie leise, »und das andere erfüllte Sie nicht mit Bedauern?«
»Das andere, o, aus Barmherzigkeit, sprechen Sie nicht mehr davon! Ich wollte, dass Sie nur ein Wort sagten, welches ich erwartete. Ich wollte Ihnen die Gefühle meines Herzens mitteilen, und Sie stoßen sie zurück. Mein Herz, mein ganzes Herz wollte ich Ihnen eröffnen. Beunruhigen Sie sich nicht, Marie, ich habe das Recht, so zu Ihnen zu sprechen. Meine Liebe bin ich Ihnen schuldig. Sie haben mir erlaubt, an die Ihre zu glauben.«
»Sie liebten sie … jene … seit langer Zeit; bei mir ist es nur Dankbarkeit, nichts weiter.«
»Sie und du! Nein, du kannst mein Herz nicht verstehen, das sich selbst nicht versteht! Sie, ja ich … liebe sie, weil sie hübsch ist. Wäre sie es nicht gewesen, gäbe es kein Band zwischen uns. Aber du, ich weiß noch nicht, ob du hübsch bist, Marie. Du hast mir eine Liebe gezeigt, von der nur du allein mir einen Begriff geben konntest. Dich, dich liebe ich mit Entzücken und achte dich so hoch, dass ich deine Hand nicht zu berühren wage!«
Marie erwiderte nichts, sie hatte ihr Haupt an das Raimunds herabsinken lassen. Ihr Herz pochte, gewaltig drückte sie beide Hände darauf.
»Du liebst mich also?«, fragte Raimund.
Sie antwortete nicht.
»Ja, du liebst mich, da du mich so in deiner Nähe duldest, da du die Arme nicht zurückstößt, die dich umschlingen. Du liebst mich, sprich es aus!«
Marie stand auf, ohne zu sprechen. Der Kerker wurde finster. Sie war ängstlich durch all das, was sie umgab, die Mauern traten ihrem Schritt auf jedem Punkt entgegen. Sie zitterte.
»Herr Dervaux«, sagte sie endlich im bittenden Ton, ohne zu wissen weshalb, denn sie fürchtete nur ihre eigene Aufregung, »Herr Dervaux!«
»Herr!« sagte er und stampfte mit dem Fuß, »Herr! Sie sind also ebenso falsch wie eine andere Frau. So haben Sie nur Mitleid gehabt? Mitleid! Bedurfte ich dessen? Glauben Sie denn, mich durch Ihr Geständnis zu retten? Nein, Sie werden es nicht, ich weiß es!«
»Sie wissen es?«, sagte sie seufzend, niedergedonnert durch dieses Wort.
»Was kümmert es Sie, wenn ich Ihnen weiter nichts bin als ein Unglücklicher?«
Sie erhob die tränenvollen Augen, aber antwortete nicht.
»Verzeihung«, rief er, »Verzeihung noch einmal, ich rase! Was willst du? Ich sterbe, bin erst dreißig Jahr alt und hatte eine Zukunft vor mir, so reich an Ruhm, so süß an Liebe! Sprich offen, mit der Einfachheit, die ich von dir erwarte. Kind, was fürchtest du? Sei nicht schüchtern; du sprichst mit einem Sterbenden. Komm zu mir, noch näher. Sieh, wir haben nur einen Stuhl, und ich bin erschöpft. Lass mich dich auf meine Knie setzen. Bleibe so!«
Und indem er sprach, richtete Raimund auf Marie einen jener ungewissen Blicke, von denen das Herz einer Frau mit Entzücken erfüllt wird. Er umschloss sie mit beiden Armen, als wollte er sie auf ewig an sich fesseln.
Sein Kopf neigte sich herab auf die Brust Mariens, und der ihre stützte sich an dem Raimunds. »Marie«, sagte er mit leiser Stimme, als scheute er sich, die Furcht des jungen Mädchens zu erwecken, »du liebst mich also?«
Sie erwiderte nichts, aber der Arm, der auf Raimunds Schulter ruhte, schlang sich um seinen Hals und drückte ihn sanft.
»Sag es mir«, bat er, »ich bedarf deines Geständnisses.«
»Ach!«, erwiderte sie schüchtern, »ich habe Sie stets geliebt. Anfangs wie man einen Bruder liebt, und dann weit mehr. Vor zwei Jahren erwähnten Sie meiner bei Ihren Plänen für die Zukunft. Damals beschäftigten Sie sich mehr mit mir als mit jeder anderen; da erkannte ich, was wahre Liebe sei, und fühlte, dass ich für einige Augenblicke, die Sie mir schenkten, Ihnen ein ganzes Leben geben möchte. Ach, Raimund, es ist nicht Zeit zu Vorwürfen, aber in meinem Herzen lebte zu viel wahre Zärtlichkeit, um ein Gefühl darin aufkommen zu lassen, das Sie nicht erwidern konnten. Ich hieß meine Leiden schweigen, solange ich Ihnen unnütz war, aber gestern – gestern war ich da – ich, Ihre Freundin früherer Tage, Ihrer Kindheit. Als die Menschen Ihr Leben streitig machten, und niemand Sie verteidigte, wie hätte ich da unsere alte Freundschaft vergessen können, die Sie einst so innig erwiderten? Es war unmöglich!«
»Du hast mir alles gegeben – und ich kann dir nichts zurückgeben, als eine Liebe von wenigen Stunden, als die Dankbarkeit eines Sterbenden!«
»Sprechen Sie nicht so, Sie werden leben, ich bin überzeugt davon. Man sagt es oder man wird Sie vielmehr retten.«
Zum ersten Mal entsprang aus diesem Schmerz die Hingebung, die solange unterdrückt war. Tränen benetzten das Gesicht des Mädchens und schweigend duldete sie Raimunds Küsse. Schritte ertönten, Bernard kam zu melden, dass die zwei Stunden verflossen wären.
»Noch einen Augenblick, einen Augenblick«, sagte Raimund, »und Sie mögen sie zurückführen.
Marie sagte nichts.
»Eine halbe Viertelstunde noch«, sagte Bernard, indem er ging.
«Wirst du wiederkommen?«, fragte Raimund.
Sie dachte nach. Dann, wie von einem plötzlichen Entschluss ergriffen, sagte sie: »Nein, verlangen Sie es nicht; man darf mich hier nicht wiedersehen.«
Raimund lächelte bitter. »Ja, ich habe zu viel verlangt«, sagte er, »ich bin unbescheiden.«
Die Reizbarkeit kommt stets zum Unglück, es zu vergrößern, aber Marie stellte sich, als bemerke sie es nicht.
»Sahen Sie barmherzige Schwestern?«, fragte sie.
»Ja, Eine bringt das Essen in das Gefängnis.
»Allein?«
»Ja.«
»Um welche Stunde?«
»Um sechs Uhr.«
Sie warf sich in die Arme Raimunds. Noch einmal mischten ihre Tränen und ihre Seufzer sich in der glühendsten Aufregung.
Bernard trat ein. »Herr Dervaux«, sagte er, »die Türen werden geschlossen; Mademoiselle, Sie müssen sich entfernen.«
Es war dunkel geworden, Marie riss sich aus den Armen Raimunds und verbarg in der Dunkelheit des Ganges ihr Gesicht vor dem Licht, das aus der Lampe des Gefangenenwärters auf sie fiel.
Am folgenden Tag wurde das Urteil gesprochen. Es verdammte Raimund Dervaux,
des Hochverrats angeklagt und überwiesen, zum Tode.
Er empfing das Urteil mit Ruhe. Die Sache der Freiheit hat ihre Märtyrer, wie die Religion die ihren. Der Tod ist groß und edel für den, welcher ihn mit kaltem Mut entgegentritt.
Zwei Tage darauf hatte die Uhr des Gefängnisses eben Dreiviertel auf sechs geschlagen, als die barmherzige Schwester erschien, dem Gefangenen die Suppe zu bringen.
»Sie kommen früh, Schwester«, sagte Bernhard.
»Ich habe um 6 Uhr zu tun«, erwiderte sie.
»Sie sind es nicht, die gewöhnlich kommen.«
Ohne darauf zu antworten, verteilte die barmherzige Schwester die Suppe an die, welche sich ihr Essen selbst holen durften.
»Haben Sie Verurteilte?«, fragte die Schwester mit zitternder Stimme.
»Einen.«
»Hat er einen Priester gehabt?«
»Er hat seinen verlangt.«
»Wenn ich mit ihm redete?«
»Gehen Sie zu ihm, aber ich glaube nicht, dass Ihnen die Bekehrung gelingen wird.«
Die Schwester nahm eine kleine Lampe, welche ihr als Führerin dienen sollte. Sie hatte den Schlüssel selbst genommen, und ihr Schritt allein tönte an der Tür.
Leise trat sie ein, schlich zu dem Lager, aus welchem Raimund angekleidet ruhte. Als sie ihn wach fand, setzte sie die Lampe außerhalb der Tür nieder.
»Sie müssen«, sagte sie schnell zu dem Gefangenen, »dies Kleid anziehen, welches ich Ihnen bringe. Lassen Sie sich eine Mütze aufsetzen und werfen Sie sich diese Kapuze über. Die Schließer werden Sie nicht fragen, und Sie auf jeden Fall nicht antworten.«
Raimund erkannte die Stimme.
»Sie sind es wieder, Marie?«
»Ja; aber lassen Sie uns keine Zeit verlieren. Der Tag bricht an und Sie könnten erkannt werden. Sie müssen Ihre Lampe auslöschen; das Gemach des Schließers ist dunkel, er wird Sie nicht erkennen.«
»Sie hier lassen? Ich weiß nicht, welcher Strafe ausgesetzt, mich um den Preis ihrer Freiheit retten! Haben Sie das bedacht? Sie sagen, dass Sie mich lieben, und können das von mir fordern?«
»Die Zögerung verdirbt alles! Wie kann die Rede von mir sein, da es auf Ihr Leben ankommt?« Sie weinte und rang die Hände. »Meine Kleidung«, erwiderte sie, »wird mich gegen die ersten Verfolgungen schützen, und dann glauben Sie nicht, dass jeder Tag der Verhaftung mir ein Tag der Freude sein wird, wenn ich Sie frei und glücklich weiß, wenn ich nichts mehr für Sie zu fürchten habe?«
Sie warf sich nieder auf die Knie vor ihm, ihr in Tränen gebadetes Gesicht glühte fieberhaft.
»Raimund«, sagte sie, »es ist nur noch für mein eigenes Glück, weshalb ich Sie bitte! Aus Mitleid für mich, retten Sie sich! Wenn Sie mich nicht vergessen, wenn die Unglückliche, die Ihnen alles geopfert hat, Ihrer Liebe nicht unwert scheint, dann finden wir uns wieder.«
»Gut! So leben Sie wohl, bis zu unser nahen Vereinigung, Marie, leben Sie wohl für wenige Tage.«
Er schloss sie in seine Arme und bedeckte ihr tränenbenetztes Gesicht mit Küssen. Und sie, die eine jungfräuliche Liebe geschworen hatte, sie empfing die glühenden Liebkosungen Raimunds und erwiderte sie ohne Unruhe, ohne Reue. In diesem Augenblicke lag so etwas Ernsthaftes, Feierliches, dass das unschuldige Mädchen sich keinen Vorwurf machen konnte. Sie hatte beide Arme um Raimund geschlungen und drückte ihn krampfhaft an sich. »Verlass mich, verlass mich denn«, rief sie. »Es muss sein. Der Tag bricht an und man wird dich erkennen.«
Sie zog den Kopfputz tief herab in die Augen des Gefangenen, sagte ihm Lebewohl und drückte ihm die Hand. Indem sie ihm einen langen Kuss gab, sah sie ihn hinausschreiten in die Gänge. Mit angehaltenem Atem lauschte sie, keiner Träne fähig, seinem Schritt.
Wie schlug ihr Herz, als sie den Schließer fragen hörte: »Nun Schwester, zeigt der Sünder Reue?«
Raimund schüttelte den Kopf, indem er das Tuch vor sein Gesicht hielt und weiterging.
»Der Almosenier der Anstalt wird ihn in den letzten Augenblicken sehen«, sagte der Mann, indem er seine Dose mit solcher Gleichgültigkeit in der Hand drehte, als spräche er von einem gewöhnlichen Kranken. Da es noch früh war und der Schließer noch nicht recht ausgeschlafen hatte, zog er die Mütze tief über die Ohren, um sich gegen die kühle Morgenlust zu schützen.
»Sie weinen, Schwester«, fügte er hinzu, als er sah, dass Raimund sein Gesicht mit dem Tuch verhüllte. »Man merkt wohl, dass Sie nicht daran gewöhnt sind, zu uns zu kommen. Wollte man jedes Mal verzweifeln, wenn ein Mensch seine Seele nicht retten will? Das geht jeden selbst an. Guten Morgen, Schwester.«
Marie hörte die Tür öffnen und sich wieder schließen. Raimund war hinaus.
Hinaus! Wer kann begreifen, was sie empfand, als der Schlüssel im Schloss sich drehte und sie die Schritte Raimunds außerhalb des Gefängnisses hörte? Sie erinnerte sich, dass unter den Fenstern Posten standen. Sie bebte, denn der Tag war hell und man konnte ihn erkennen. Sie warf sich nieder auf die Knie und betete mit der Inbrunst einer Mutter für ihr sterbendes Kind.
Das Geräusch der Schritte wurde schwächer und gänzliche Stille trat ein. Marie sprang auf, die Hände gefaltet und fast vernichtet durch das Gewicht so großen Glückes.
Als Raimund aus dem Gefängnis kam, zögerte er einen Augenblick. Er musste sich schnell aus der Straße entfernen, aber wohin gehen? Zu seiner Familie? Sie war nicht hier. Zu seinen Freunden? Das wollte er nicht; er hätte zu ihnen sagen müssen: Ich liefert mich in Eure Hände, setzt für mich Eure bürgerliche Existenz, Euer Leben in Gefahr.
Was konnte dagegen einer Frau drohen? Eine Frau allein konnte ihn aufnehmen. Nach kurzem Zögern beschloss er, sein Geschick in die Hände Valentines zu legen. Ein Mietwagen brachte ihn bald zu ihr. Es war erst sechs Uhr; Valentine schlief noch, als Raimund hastig eintrat.
»Sie sind es?«, sagte sie, ihn erkennend. Und schnell alles vergessend, was sich zwischen sie gedrängt hatte, weinte sie vor Freuden, ihn befreit zu sehen.
»Ja, ich bin es«, erwiderte Raimund, »und komme, ein Asyl bei Ihnen zu suchen. Ich glaubte, dass ich noch auf Sie zählen könnte, wie sie es stets auf mich dürfen, und so bin ich denn hier, von Furcht ergriffen und von Besorgnis über die Gefahr, in die ich Sie stürze.«
»Sie müssen sich verbergen.«
»Wie? Wo?«
»Bei der Stube Julies, in ein Kabinett, dessen Eingang man leicht verbergen kann. Sie wissen wohl, dass Sie auf das gute Mädchen zählen dürfen.«
»Vor allen Dingen befreien Sie mich von diesen Kleidern. Lassen Sie sie verbrennen. Sie werden ein Beweis gegen uns sein.«
»Nein, Sie sind in dieser Kleidung hereingekommen, und die Leute müssen Sie so auch wieder gehen sehen. Julie soll diese Kleidung anziehen und in ihrer gewöhnlichen wieder zurückgehen. Verdacht ist noch nicht erweckt, und so wird man nichts merken.
So schnell als möglich wurden die Kleider gewechselt, das Kabinett in Ordnung gebracht und der Eingang jedem Auge verborgen.
Der Tag neigte sich schon zu Ende, als mehrere Männer sich bei Valentine einstellten.
»Es ist befohlen, Madame«, sagten sie, »Haussuchung bei Ihnen zu halten. Sie haben diesen Morgen einen Gefangenen aufgenommen und das Gesetz fordert ihn zurück.«
Valentine erschrak anfangs, aber das Gefühl, dass sie dreist leugnen könne, gab ihr ihre Ruhe wieder.
Sie antwortete: »Von wem sprechen Sie?«
»Raimund Dervaux, zum Tode verurteilt, ist diesen Morgen in der Kleidung einer barmherzigen Schwester aus der Conciergerie entsprungen. Ein junges Mädchen blieb an seiner Stelle zurück, und man weiß, dass er sich zu Ihnen begeben hat.«
»Es ist wahr, aber er hat sich wieder entfernt.«
»Wir werden sehen.«
»Glauben Sie, dass ich mich der Gefahr ausgesetzt haben würde, einen Mann aufzunehmen, der durch das Gesetz verfolgt wird? Ich hätte es gewünscht, aber mir fehlte der Mut dazu.«
»Wir werden Nachsuchung halten.«
»Das können Sie.«
Ermutigt durch die wiedergewonnene Selbstbeherrschung, folgte Valentine den Männern durch alle Zimmer. Sie zitterte, als sie in die Nähe des Kabinetts kamen, aber die mit einem Schrank versetzte Tür blieb unbemerkt.
Sie gingen vorüber. Ehe die Männer sich entfernten, trat einer derselben, schwarzgekleidet und mit einer Schärpe, er war der Friedensrichter, zu Valentine und sagte zu ihr: »Eine neue Nachsuchung würde ohne Zweifel nutzlos sein, Madame. Vielleicht erhält man mehr von Ihnen, wenn man Sie auf die Gefahr aufmerksam macht, welcher Sie sich aussetzen, sowie auf die Möglichkeit, dieselbe noch durch Geständnis zu entfernen.«
Sie sah ihn verächtlich an und wendete sich von ihm ab, ohne zu antworten.
Sie gingen.
Allein gelassen, konnte Valentine sich der Aufregung hingeben, die sie vor den Augen der Beobachter hatte unterdrücken müssen. Sie warf sich auf einen Stuhl und Tränen erleichterten Sie. Aber diese Tränen gehörten nicht bloß der Freude an. Ihr Herz wurde von stürmischen Leidenschaften bewegt. Glühend in selbstsüchtiger Liebe schlug es noch heftiger aus Eifersucht als aus Zärtlichkeit.
Sie hätte Raimund nicht in das Gefängnis zurückgeliefert, nein, niemals; aber der Gedanke empörte sie, ihn aus den Händen einer Nebenbuhlerin zu empfangen. Alle gehässigen Gefühle, welche durch einige Tage geschwächt, aber nicht erstickt worden waren, erwachten mir neuer Gewalt. Sie vergaß, dass sie den Ausdruck der Freude hierüber schuldig sei, und trat mit kaltem Blick, mit kurzem, abgestoßenem Ton vor ihn.
Einen Augenblick geriet sie in Verwirrung, durch die Herzlichkeit, womit Raimund ihr dankte.
Diese Verlegenheit besiegend, fragte sie: »Das Mädchen, welches an ihrer Stelle gefunden wurde, war Marie?«
»Ja.«
»Weshalb wendeten Sie sich nicht an mich?«
»Ich erwartete sie nicht, sie kam von selbst.«
»Immer sie, und nur sie«, rief Valentine. Der Unwille brach aus, den sie nicht länger verhehlen konnte.
»So verdanken Sie ihr denn alles?«
»Und auch Ihnen, die ich durch meine Gegenwart in solche Gefahr stürzte.«
»Was verdanken Sie mir? War ich es, die Ihnen entgegenkam? Die Ihre Eisentüren zu brechen verstand, Sie der Gefahr zu entreißen? Es ist sie, und immer sie.«
Ihre feuchten Augen funkelten vor Unwillen.
»Sie hätten gehandelt wie Marie, glaube ich«, sagte Raimund.
Valentine zitterte. Ihre verzerrten Lippen schienen den Worten den Durchgang zu verweigern. Regungslos stand sie da, als bekämpfe sie eine heftige Aufwallung.
Endlich, im Begriff sich zu entfernen, trat sie vor Raimund und sagte: »Und weshalb sollten Sie es nicht glauben? Ich habe Ihnen keinen Grund gegeben, an meiner Liebe zu zweifeln. Tun Sie es jetzt, so geschieht es nur deshalb, weil Sie in Ihren eigenen Augen eines Grundes bedürfen, Ihren Wankelmut zu entschuldigen. Was kümmerte Sie jetzt, was ich denke, was ich fühle, was ich für Sie tue? Von jener erhielten Sie alles; für jene freuen Sie sich Ihrer Freiheit. Es geschieht, mich zu fliehen, und, um von mir mit ihr zu leben. Ja, ich sehe es; für jene die Zukunft, die Sie mir versprochen hatten; für mich die Vergangenheit mit ihrer Reue.«
Valentine hatte mit Ruhe gesprochen. Ihre Eifersucht trug nicht jenen Charakter grausamer Wildheit, den Raimund stets in ihr fürchtete. Er wurde durch ihre Äußerungen gerührt und wollte einige Worte des Trostes an sie richten, aber was sollte er ihr sagen, da seine Neigung geteilt war und ihn so stark zu jener zog, die das größte Recht hatte, die volle Erwiderung derselben zu erwarten?
In diesem Augenblick des Kampfes ließ er seine Seele sprechen und rief seine Erinnerungen zurück.
Valentine war stolz und herrschsüchtig und blieb in seinen Augen herzlos. Alles war kalt, stumm an ihr. Sie kannte das Glück des Selbstvergessens nicht, das Glück, nur zu lieben und glücklich zu machen, wo das Herz der Führer zur Leidenschaft und zum Entzücken ist. Nie hatte sie jene weiblichen Worte vernehmen lassen, welche den Mann unterwerfen und ihn zugleich mit Entzücken erfüllen. Herrschen und Beherrschen war ihr Verlangen.
Einige Wochen waren verflossen. Manche verdächtigen Gesichtern, die anfangs das Haus umgaben, hatten aufgehört, sich in dessen Nähe zu zeigen. Raimund dachte daran, abzureisen.
»Und weshalb?«, fragte Valentine, »was fürchten Sie hier, wo Sie in Sicherheit sind?«
»Da mein Leben gerettet wurde, soll es unserer Sache dienen, ich muss fort.«
»Sie müssen?«, wiederholte Valentine ironisch, »es ist wahr. Sein Sie großmütig, Sie sind wenigstens der die Freiheit schuldig, welche Ihnen die Ihre wiedergegeben hat.«
»Und wenn es wäre«, erwiderte Raimund, gereizt durch die ausdauernde Feindschaft Valentines, »so entledigte ich mich dadurch nur meiner Pflicht.«
Bei diesen Worten funkelte die Rache in ihrem Blicke. »Raimund«, rief sie, »bedenken Sie, dass Sie noch mir angehören!«
Ihre bleichen, verzerrten Lippen verrieten die heftigste Aufregung. Ihr Auge sprühte Feuer und hastig verließ sie das Gemach. Mehrere Tage wendete Valentine an, den Eindruck zu verwischen, den der Ausbruch ihrer Heftigkeit gemacht hatte. Sie sprach von ihren Plänen und versuchte zu erraten, ob sie geteilt wurden. Die Kälte, mit welcher Raimund dieselbe aufnahm, warf sie in die Besorgnisse zurück, die zu beseitigen sie bemüht war.
Als sie sich überzeugt hatte, dass Raimund fest auf seine Abreise beharrte, beschloss sie, ihn nicht zu verlassen und ihn über die Grenzen Frankreichs zu begleiten.
Als sie hiervon sprach, widersetzte er sich ihrem Plan unbedingt. Valentine wurde gewiss beobachtet. Er konnte wohl allein, ohne bemerkt zu werden, sich entfernen, aber sie, mit allen Reiseanstalten — das ging durchaus nicht an.
»Ich würde Sie nur einer gewissen Gefahr aussetzen«, sagte er.
»Sagen Sie vielmehr, dass ich Ihnen zur Last bin; dass Sie fürchten, mich an Sie zu fesseln, weil Sie davor zurückbeben, eine Verpflichtung gegen mich einzugehen.«
»Valentine«, erwiderte Raimund mit ernstem Ton, »meine Ruhe in diesem Augenblick beweist vielleicht am meisten, wie sehr ich Ihre Besorgnisse erkenne. Ich werde Ihnen nicht mehr widerstehen, da Sie meine Weigerung nicht verstehen. Wir werden reisen, und man wird mich verhaften, weil man Sie bewacht. Aber was tut das, mein Leben hat bereits ein Ziel erreicht, und dieses kann nicht verlängert werden. Verfügen Sie über mich.«
Bei diesen Worten war Valentine uneins mit sich, ob sie Raimund die Freiheit lassen solle oder nicht. Aber die Gefühle jener Eifersucht, welche jeden Edelmut tötete, leiteten ihr Benehmen. Sie sah Raimund sich für immer von ihr entfernen und erblickte jene Marie an seiner Seite, die das Phantom aller ihrer Besorgnisse geworden war.
Zwischen der Ungewissheit schwankend, Raimund nicht zu retten oder ihn ihrer Nebenbuhlerin auszuliefern, sagte sich das leidenschaftliche Weib mit kaltem Herzen: »Lieber will ich ihn und mich allen Gefahren aussetzen als der Gewissheit, sie in seinem Besitz zu sehen.«
Alles wurde angeordnet. Es war elf Uhr des Abends und Pferde bereit, um Mitternacht abzureisen. Raimund sollte das Haus kurz vor Valentine verlassen und dann in einiger Entfernung einsteigen. Da klopften Gendarmen in Begleitung des Friedensrichters an die Tür und forderten Einlass im Namen des Königs.
Bei diesem Lärmen richtete Raimund auf Valentine einen Blick, welcher deutlich die Frage enthielt: »Hatte ich recht?«
»Das Kabinett ist offen«, sagte er, »und keine Zeit, den Eingang wieder zu verdecken. Die Nachforschungen werden streng sein, wie soll ich mich verbergen?«
»Auf dem Boden«, sagte Valentine, »rasch, ehe sie kommen! Sie finden ein kleines Fenster. Es geht auf das Dach. Ach, ich habe Sie in das Verderben gestürzt.«
»Das ist eine Aussicht, ohne Hoffnung auf Erfolg. Das Dach Ihres Hauses stößt mit keinem anderen zusammen. Überdies ist das Haus gewiss von allen Seiten umzingelt. Leben Sie wohl, machen Sie sich keinen Vorwurf, doch hoffen Sie auch nichts. Meine Flucht ist unmöglich.«
Er ging zum Boden hinauf.
Es ist nicht mehr die Conciergerie, das kalte, finstere Gefängnis, dessen bloßer Name beben macht, der vom Tod und Schafott spricht; wo der Verbrecher ehrwürdig wird, weil er die letzte Strafe empfängt und seine Verdammung Mitleid gebietet. Unglücklicher, der nicht zu bereuen vermag, während die Gesellschaft, die das Recht zu haben wähnt, über sein Leben zu verfügen, ihn verurteilt und ihm nicht die Zeit zu seiner Besserung lässt.
***
Es ist St. Lazarus, das wir nun sehen, dort, wo die Herzen von Schmutz und Erz sind. Dort finden wir einen Haufen Weiber, mit frecher Stirn, keckem Blick, lauten und gemeinen Reden.
»Ich«, sagte eine, in der begonnenen Erzählung fortfahrend, »ich habe falsche Unterschriften gefertigt.«
Ein allgemeines Gelächter folgte dieser Äußerung.
»Und die da?«, fragten mehrere Stimmen, auf eine Gefangene deutend, die am Fenster saß.
Niemand wusste etwas von ihr.
»Und Sie, Mamsell, weshalb sagen Sie nichts? Wagen Sie es nicht, kommen Sie her, setzen Sie sich neben mich. Ich bin die Älteste, wir wollen Sie zerstreuen.«
Marie, denn sie war es, machte eine Bewegung, welche sie nicht unterdrücken wollte oder konnte. Sie bebte und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.
»Es ist eine kleine Närrin«, sagten die Weiber, »man muss sie lassen.«
Bei dieser Äußerung atmete das Mädchen freier; die Verachtung dieser Geschöpfe war ihr weniger demütigend als deren Teilnahme. Sie bebte bei dem frechen Gelächter, bei den lärmenden Stimmen. Sie zog ihrem widerlichen Anblick den der eisernen Gitter vor und wendete sich ab.
Es ertönte eine Glocke. Die Gruppe der Frauen löste sich langsam auf. Die Stunde der Unterhaltung war vorüber, eine Frau trat ein und teilte Arbeit aus.
»Vorwärts, vorwärts!«, sagte sie rau, »an die Arbeit, die Zeit vergeht!«
Einige wollten die Stimme dagegen erheben. Strenge, harte Verweise brachten sie zur Ruhe. Die anderen gehorchten aus Furcht. Maschinenmäßig nahm Maria ein Hemd von grober Leinwand und begann zu nähen.
Von dem groben Stoff, der sich kaum handhaben ließ, dem starken Faden, der in die Finger schnitt, bemerkte sie nichts, so versunken war sie in ihre Gedanken, so gefühllos gegen die Einzelheiten ihres Lebens. Nur von Zeit zu Zeit hoben schmerzliche Seufzer ihren Busen, sie richtete die von Tränen geschwollenen Augen gen Himmel und eine sanftere Regung war dann auf ihrem Gesicht zu lesen. Die Erinnerungen gewährten ihr Trost, ihr Blick sprach nicht mehr Verzweiflung aus.
Ein bejahrter Mann, von strengem Wesen, ein Priester, trat ein. Er setzte sich in die Mitte des Kreises. Aller Augen suchten sich; die Frauen lachten und gähnten, aber der Geistliche schien es nicht zu bemerken. Er sprach zu ihnen eine unbekannte Sprache und wurde nicht gehört.
Was nützen Ermahnungen bei Menschen, welche die Reue nicht kennen.
»Und wenn ich beichte«, sagte mit rauer Stimme ein Frau, welche nur mühsam ihr Gelächter unterdrückte, »wenn ich bereue, werden Sie mich dann von hier entlassen?«
»Ich bin hier nicht Gebieter«, entgegnete der Geistliche, »und kann es auch nicht versprechen.«
»Nun so lassen Sie uns zufrieden. Sind sie denn hierhergekommen, um Betschwestern zu finden?«
Ein allgemeines freches Gelächter bewies die Billigung, welche diese Äußerung fand. Die Aufseherin zog heftig die Schelle und die Ruhe war wieder hergestellt.
Der Priester hatte mit gekreuzten Armen das Ende des Tumultes abgewartet, wie ein Mensch, der, durch Gewitter überrascht, auf einem trockenem Zufluchtsort auf das Vorübergehen des Regens hofft, um seinen Weg fortsetzen zu können. Er betrachtete alle Gesichter und unterdrückte nur mühsam den Unwillen, den er empfand.
Das Verbrechen ist entsetzlich bei den Frauen. Hier nun, wo das Verbrechen die widerlichste Gestalt angenommen hatte, empfand der bejahrte Priester, der Banditen und Mörder zur Reue ermahnte und Mitleid mit ihnen hegte, nur Abscheu. Er litt durch den Anblick so vielen Lasters und wünschte ein Wort der Reue zu vernehmen. Er wendete sich an ein junges Mädchen, das kaum sechzehn Jahre alt sein konnte.
»So jung, mein Kind, sollten Sie nicht das Verlangen fühlen, zu Ihren Pflichten zurückzukehren?«
Sie warf lachend den Kopf in die Höhe. »Meine Pflichten? Was will der Mensch damit sagen! Habe ich denn Pflichten? Ich bin meine eigene Herrin!«
Er sah sie mit einem Blick des Mitleids an und dann um sich her. Seine Augen begegneten denen Maries, und hier glaubte er noch Scham zu erkennen. Sie errötete und wendete sich ab. Der Blick des Rechtschaffenen an diesem Ort drückte sie nieder.
»Und Sie?«, fragte der Priester, sich ihr nähernd.
»Ach mein Herr, glauben Sie nicht«, fiel sie ein. Ohne dass sie ihre Tränen zurückzuhalten vermochte, stürzten sie ihr über die Wangen. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen.
»Mein Kind«, sagte der Greis mit väterlichem Ton, »die Reue über Ihre Vergehungen …«
»Ach, mein Herr, noch einmal aus Barmherzigkeit, verwechseln Sie mich nicht.« Ohne zu reden, schweiften ihre Augen über den Kreis der Frauen hin, die sie beobachteten. »Reue kann ich nicht hegen, Vergebungen ließ ich mir nicht zu Schulden kommen.«
»Aber Ihre Anwesenheit hier?«
»Was ich getan habe, mein Herr, würde ich gleich noch einmal tun«, erwiderte sie ruhig. »Meine Pflichten habe ich nicht vergessen; mein Herz ist so rein, wie am Tage meiner Einsegnung.«
Dieser unschuldige Vergleich, diese Jugenderinnerung, rührte den Priester. Er entfernte sich von den Übrigen, um freier mit ihr sprechen zu können.
Marie erwartete keine neue Frage, sondern fuhr fort: »Ich konnte den Freund retten, den ich wie meinen Bruder liebte. Ich rettete ihn vom Tode. Vom Tode! «, wiederholte sie, als stände das Blutgerüst vor ihr. »Jetzt ist er frei.« Der Ausdruck inniger Freude überzog ihr Gesicht, dann aber wurde sie wieder nachdenkend. Ihre Hände, welche sie auf die Brust gedrückt hatte, fielen herab, bei dem Ausdruck der Entmutigung.
»Ja, frei, ich aber für lange Zeit hier! Für lange Zeit von ihm getrennt! Doch was tut das? Werden wir uns doch einst wiedersehen, und konnte ich ihn doch der Rache seiner Feinde entziehen!«
»Aber fürchten Sie nicht den Schmerz Ihrer Mutter?«
»Ich habe keine Mutter mehr.«
»Und wenn der Mensch ein Verbrechen begangen hätte?«
»Ein Verbrecher?«, rief sie voll Abscheu, »Er! Raimund? Aber es ist wahr, Sie kennen ihn nicht und mögen wohl glauben, nein, mein Herr, Raimund ist dessen würdig, was ich für ihn tat. Gegen den Staat, gegen den König hat er sich vergangen, aber was kümmert mich das?«
»Raimund Dervaux?«, sagte der Priester, indem er die Hand an die Stirn legte, als müsste er sich besinnen. »Wegen eines Staatsverbrechens verurteilt? Also sind Sie es, die als barmherzige Schwester zu ihm in das Gefängnis gekommen ist und ihn befreit hat?«
»Ja mein Herr, ich war so glücklich, ihn zu retten. Er sterben! Sterben auf dem Blutgerüst? Nein, er ist groß und edel, und man wird es einst noch erfahren!«
In diesem Augenblick tönte die kreischende Stimme eines öffentlichen Ausrufers herauf an das vergitterte Fenster. Alle schwiegen.
Der Ausrufer schrie: »Raimund Dervaux, alt 30 Jahr, entsprungen aus dem Gefängnis am 20. April und wieder ergriffen am darauffolgenden 5. Mai, wurde heute Morgen hingerichtet!«
Marie tat einen herzzerreißenden Schrei und sank zusammen. Nach drei Tagen wurde sie begraben.
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