Als E-Book erhältlich

Archive

Neue Gespenster – 24. Erzählung

Samuel Christoph Wagener
Neue Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit
Erster Teil

Vierundzwanzigste Erzählung

Die Schwangere in Tübingen

Die Gattin eines Professors in Tübingen war sehr zu hysterischen Zufällen geneigt und erschrak im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft so sehr, dass sie die heftigsten Konvulsionen bekam und nach vier Stunden tot war.

Zwei berühmte Ärzte, Camerer und Mauchart, und noch drei andere konnten nicht anders, als ihren Tod für gewiss halten. Da war auch nicht die geringste Bewegung und keine Spur vom Pulsschlag oder vom Atemholen. Die stärksten Erweckungsmittel, die man anwendete, blieben ohne allen Erfolg. Nachdem man so fünf Stunden lang mit vergeblichen Versuchen zugebracht hatte, wollten die Ärzte sie als unwiederbringlich verloren verlassen. Nun hatte Camerer noch den Einfall, die Blasenpflaster, die man tags zuvor an beide Fußsohlen gelegt hatte, abzunehmen und zugleich die Gesichtszüge auf das Genaueste zu beobachten; und siehe, als man die Oberhaut vom großen Zeh abzog, bemerkte man einen Zug des Mundes, der so schwach war, dass er nur diesen aufmerksamen Männern nicht entgehen konnte. Für sie war er ein hinreichender Grund, diese Person nicht begraben zu lassen, sondern ihre Versuche zur Wiederbelebung derselben zu erneuern. Man fing an, die empfindlichsten Teile zu reizen; man gebrauchte die eindringendsten Mittel, selbst das glühende Eisen. Es war fast kein Teil, den man nicht durch Stechen, Brennen und andere Reizungen aufs Stärkste zugesetzt hätte. Alles umsonst, sie blieb tot, und doch wagte man nicht, im Vertrauen auf die obige kleine Lebensspur, sie zu begraben.

Sie lag ganze sechs Tage lang mit allen Zeichen des Todes, eine kleine Wärme in der Gegend des Herzens ausgenommen. Nun schlug sie plötzlich die Augen auf und fing an, wieder zu leben, wusste aber von alldem, was in der Zeit mit ihr vorgegangen war, nichts. Nachdem sie sich mit einiger Nahrung erquickt hatte, wurde sie von einem toten Kind entbunden und erholte sich bald darauf völlig wieder.

Hier waren also ein kleiner Zug des Mundes und ein Überrest von Wärme in der Herzgrube hinlängliche Beweise des noch vorhandenen Lebens. Wie wichtig sollte uns also der kleinste Umstand bei einer Leiche und wie sorgfältig ihre Beobachtung sein! Aber was tun wir? Wir überlassen dieses ganze, so wichtige Geschäft der dümmsten, vorurteilvollsten Menschenklasse, den Totenweibern, die weder Sinn für solche Bemerkungen noch einen Begriff von der Möglichkeit des Wiedererwachens haben, die also, selbst wenn sie feine Lebensspuren bemerken, sie nicht achten und schief auslegen.1

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Show 1 footnote

  1. Dem Zustand dieser vor Schrecken in den Scheintod gefallenen Frau Professorin ist der Zustand jener Personen des Hexenzeitalters vollkommen ähnlich, welche in dem Augenblick, wo sie ersäuft oder der Wasserprobe übergeben werden sollten, vor Entsetzen in Ohnmacht fielen und nun, ohne zu ertrinken, Viertelstunden lang im Wasser zubrachten , dafür aber auch, eben weil sie auf eine der Unwissenheit unbegreifliche Art im Wasser am Leben blieben, als Hexen dem Scheiterhaufen übergeben wurden, wo keine Ohnmacht sie ferner vor dem Meuchelmord der Dummheit und des Pfaffentums schützen konnte.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert