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Die Blume der Prärie – Der Sturm

Gabriel Ferry
Die Blume der Prärie
oder die deutschen Kolonisten an den Ufern des Colorado
Grimme und Leipzig, Druck und Verlag des Verlags-Comptoirs, 1852

Band 2
Erstes Kapitel

Der Sturm

Der übrige Teil der Jagdgesellschaft war inzwischen verschwunden.

Durch einen jener unberechenbaren Zufälle, die bei ähnlichen Gelegenheiten so oft ihr launisches Spiel treiben, waren die beiden Mädchen Tarta­ruga gefolgt und nun, so weit das Auge das hohe, wallende Gras übersehen konnte, allein mit ihm in

der einsamen Prärie.

Nur aus weiter Ferne tönte das Gebrüll der großen Herde herüber und nur selten schlug der kurze Knall einer Rifle von der Seite der Jagd her an ihr lauschendes Ohr.

Die Mittagsstunde war längst vorüber.

Eine drückende Schwüle lastete auf der Ge­gend, eine tiefe, ahnungsvolle Stille erfüllte die ganze Natur.

Kein Lufthauch bewegte die hohen Halme, kein Vogel durchfurchte die Luft und selbst die Geier zogen mit unruhigem Geschrei zu den Ge­birgen hinüber.

Die Sonne hatte ihren Glanz verloren und schien matt und bleifarbig durch die dunstige Atmosphäre. Ein leichter, lichtgrauer, wallender Dunst­schleier verhüllte den tiefblauen Himmel, der am Morgen, wie azurner Samt die Erde überwölbt hatte.

Eine unnennbare Angst hatte sich der beiden Mädchen bemächtigt.

Es war nicht Furcht, nicht die Folge der auf­regenden Szenen, deren Zeugen sie gewesen, waren. Es war nicht jungfräuliches Bangen, mit dem heroi­schen Häuptling allein in der menschenlosen Wüste zu sein. Es war die tiefe, unbeschreibliche, ahnungsvolle Depression, welche das Herz beim Heranna­hen der großen und furchtbaren Naturszenen jener Gegenden mit unwillkürlichem Grausen erfüllt.

Tartaruga, hingerissen von glühender Jagdlust, hatte die Veränderung der Atmosphäre, die dort so plötzlich hereinzubrechen pflegt, nicht be­merkt.

Erst, als er sich den Mädchen näherte, das blutige Messer in der Hand, stolz und triumphierend wie ein Heros der alten Zeit, in ihren Augen den Ausdruck der Bewunderung zu lesen, den süßesten Lohn ritterlichen Mutes, bemerkte er die Veränderung.

Sein kundiges Auge überflog den Horizont.

Eine graue Kugel wälzte sich, wachsend wie eine Lawine, mit unglaublicher Schnelligkeit vom westlichen Horizont herauf.

Der triumphierende Ausdruck wich aus den Zügen des Häuptlings. Einen Augenblick hing sein Blick ängstlich beobachtend an dem heraufzie­henden Phänomen … dann eilte er, ohne ein Wort zu sprechen, zu seinem Pferd, das, wohlgeschult, nachdem es sich wieder aufgerichtet hatte, ruhig an seiner Stelle geblieben war, schwang sich hinauf und nä­herte sich den Schwestern.

»Die Aguas!«, sagte er fast flüsternd, mit der Hand zum westlichen Horizont deutend. »Wir müssen eilen, einen sicheren Zufluchtsort unter dem Schutz der Hügel zu suchen…. Es ist meine Schuld! … Verzeihung!«

Die erbleichenden Mädchen schauten ihm fragend ins Gesicht.

»Und wird das Unwetter so fürchterlich werden, Señor Tartaruga?«, fragte Louise, dem Häuptling vertrauensvoll anblickend.

»Fürchterlich? Wenn Manitu zürnt, bebt die Erde in ihren Achsen! Die Aguas auf dieser Seite der Guadeloupgebirge dröhnen wie Weltuntergang!«

Plötzlich machte ein kurzer, kaum eine Sekunde dauernder Windstoß die Luft erzittern.

Die Pferde wurden unruhig und hoben sich bäumend und schäumten schnaubend in die Gebisse.

»Vorwärts!«, sagte Tartaruga, den Zügel von Louises Pferd ergreifend, als plötzlich ein Reiter in wütendem Lauf an sie herankam.

Es war Horst!

»Ich danke Euch, Horst!«, rief der Häuptling. »Nehmt die Zügel der Dame und folgt mir!«

Mit diesen eiligen Worten ließ Tartaruga seinem Pferd die Zügel und sprengte in wütendem Lauf den Hügeln zu, die sie am Morgen so heiter verlassen hatten.

Besser beritten als Horst und Anna waren sie bald den Folgenden aus den Augen verschwunden.

»O, meine Schwester!«, rief sich ängstlich um­schauend Louise. »Lasst uns warten, Tartaruga … o meine Schwester!«

»Sie werden uns folgen,« antwortete der Häuptling. »Horst ist ein Mann!«

»Ich gehe nicht weiter … meine Schwester!«

In diesem Augenblick machte ein zweiter Wind­stoß, länger, gewaltiger, mit einem Geräusch wie von tausend Kanonen, die Pferde wanken.

»Beugt Euch nieder … nieder zum Sattel!«, rief Tartaruga, die Pferde von Neuem zur Eile treibend, die vom Instinkt getrieben, mit aller An­strengung ihrer Kräfte über die Ebene flogen.

Sie hatten fast das Ufer des Flusses erreicht, als die Windstöße sich in kurzen Zwischenräumen wiederholten und der erste Donner sich von fern vernehmen ließ.

»Vorwärts! Vorwärts!«, rief der Häuptling in namenloser Angst.

Aber der Zelter Louises, noch nicht an solche Anstrengungen gewöhnt, begann zu ermüden, wäh­rend die Reiterin selbst sich nur mit dem letzten Aufgebot ihrer Kräfte im Sattel hielt.

Die Sprünge des Pferdes wurden kürzer und kürzer, sein Schnaufen wurde röchelnd, während einzelne Bluttropfen den weißen Schaum färbten, der in dicken Flocken von der goldenen Stange zur Erde flog.

»Halt!«, rief der Häuptling, die Zügel anzie­hend und zur Erde springend.

Die Pferde standen. Ihre Knie zitterten, ihre Flanken hoben sich stürmisch unter den unglei­chen, heftigen Atemzügen.

Das letzte Mittel der Indianer in solchen kri­tischen Fällen, das siedende Blut ihrer Rosse zu beruhigen und ihnen das Atmen zu erleichtern, ist ein Aderlass.

Tartaruga zog seinen Dolch, öffnete eine Hals­ader des prächtigen Zelters, ließ einige Minuten das Blut zur Erde strömen und schloss die Wunde dann wieder mit einer Nadel, die mit einem Haar aus der Mähne umwickelt wird.

Das Pferd erholte sich sichtbar und von Neuem begann der verzweifelte Lauf. Sie durchritten den Fluss. Der Dolch des Häuptlings stachelte die Tiere zur Anstrengung ihrer letzten Kräfte auf. Als das Wetter eben in seiner ganzen Furchtbarkeit los­brach, hielten sie am Eingang einer Felsenhöhle, hinreichend geräumig, ihnen und ihren Rossen sicheren Schutz zu gewähren.

 

***

 

Hast du jemals den Gedanken eines begin­nenden Weltuntergangs gedacht, lieber Leser?

Wenn die Häupter der Gebirge wie Baum­wipfel tanzen, wenn die Blitze in Feuerströmen zur Erde schießen, wenn der Sturm die Fluten gen Himmel peitscht und die tausendjährigen Riesen des Urwaldes wie Rohrstäbe bricht, wenn das Heu­len der Windbraut und das Krachen des Donners die letzten Reste des wirbelnden Verstandes übertönen – so etwa ist es, wenn die Aguas über die zitternde, ächzende Prärie ziehen und der Sturm seine Brüder weckt, die in den Schluchten der Guadeloupgebirge schlafen!

Es liegt etwas unbeschreiblich Erhabenes in diesem Kampf der Elemente! Eine glühende, er­stickende Luft liegt bleischwer über der Erde. Büf­fel und wilde Pferde drängen sich schnaufend zu­sammen, in dichten Scharen eilt das Wild aus den unsicheren Wäldern, wenn der Sturm mit Le­gionen Armen die tausendjährigen Mahagonis packt und spielend aus der Umarmung undurchdringlicher Schlingpflanzengewebe reißt. Den mächtigen Kopf zur Erde gesenkt, flieht der Jaguar in ängstlichen Sprüngen an seinen zitternden Feinden vorüber – die sterbliche Welt demütigt sich vor dem Zorn der ewigen Elemente!

 

***

 

Es war fast Nacht geworden.

Die Tiefe der geräumigen Höhle war in un­durchdringliche Finsternis gehüllt.

Louise hielt zitternd am Eingang ihres Zu­fluchtsortes und schaute betäubt in den chaotischen Wirbel.

»Manitu zürnt!«, sagte Tartaruga, in den tiefen Gutturaltönen der Sprache seines Volkes, »aber sein Zorn ist weise. Ohne diese Stürme, die allein die undurchdringliche Tiefe dieser Wälder zu durchdringen und zu reinigen vermögen, würde kein menschliches Wesen in diesen prächtigen Ge­genden atmen und leben können!«

»Zittere nicht, weiße Blume«, fuhr er fort, Louise mit zärtlichem Mitleid betrachtend, die sich kaum noch im Sattel zu halten vermochte, »diese Felsen sind fest wie die Säulen des Himmels und werden nur im letzten Sturm zerbrechen, und wenn jetzt dieser letzte Sturm gekommen wäre, dann«, fügte er flüsternd hinzu, während seine glühenden Blicke sich langsam von ihr wandten, »dann sterbe ich mit dir.«

»Meine Seele zittert nicht, Tartaruga, aber die Kräfte beginnen meinen schwachen Körper zu verlassen.«

Sie hatte kaum die letzten Worte gesprochen, als der letzte rosige Schimmer ihre Wangen verließ, ihre Augen sich schlossen und ihr Köpfchen langsam auf ihren Busen herabsank.

Der Häuptling empfing sie in seinen Armen und drückte sie mit dem unnennbaren Entzücken an seine Brust, das wie ein elektrischer Schauer bei der ersten Berührung eines geliebten Gegenstandes unsere Nerven erschüttert.

Minuten vergingen und der rote Häuptling hielt das weiße, bewusstlose Mädchen wie ein Kind in seinen Armen. Seine Brust hob sich, seine Augen glühten, in seiner Seele brannte der Kampf zwischen der wilden Natur des Indianers und dem erhabenen Moralprinzip, das er zur Herrschaft in seinem Volk bringen wollte. Zwei Mal senkten sich seine Lippen auf den Mund der Geliebten, aber er berührte ihn nicht diesen süßen, verlocken­den Mund … mit heroischer Tugend richtete er sich auf … der Kampf war vorüber und ein reines und erhabenes Lächeln überflog wie ein Sonnen­strahl des Triumphes sein ernstes Gesicht.

Die Höhle war nicht ganz ohne Hilfsmittel.

Oft der Zufluchtsort einzelner Jäger oder gan­zer Jagdgesellschaften, oft zum Aufbewahren des Wildes nach großen Jagdzügen benutzt, waren Holz, Sitzblöcke und Fackelholz sowie ein Feuerplatz unter einer natürlichen Esse vorhanden.

Der Häuptling, seiner wirklichen Pflichten eingedenk, trug das immer noch ohnmächtige Mädchen zu einem dieser Blöcke, lehnte sie an die Stämme, die zum Verschließen des Höhleneingangs gebraucht wurden, und beeilte sich, eine Fackel anzuzünden und die dicke, stickige Luft durch ein tüchtiges Feuer zu reinigen.

Die Fackel und die lodernden Zedernscheite ver­mochten den weiten gewölbten Raum nur spärlich zu erleuchten und das matte und unheimliche Licht erhöhte den grausigen Eindruck der Szene, wäh­rend draußen der Kampf der Elemente in unge­schwächter Kraft fortdauerte.

Wieder stand der Häuptling in tiefem Sin­nen vor der reizenden Gestalt. Wieder glühten seine Augen, wieder hob sich seine Brust, wieder stürmte es in seiner Seele: Lashitou, der schwarze Engel der Indianer, erhob sich gegen Gabriel, den glänzenden Boten des Gottes der Christenheit.

Die roten Männer sind selbst unter jenem glücklichen Himmelsstrich weniger sinnlich als alle übrigen Rassen. Nie findet man bei ihnen die forcierten Ausschweifungen der Zivilisation; weder die üppige und rohe Sinnlichkeit der Orientalen noch der polierte Zynismus des modernen jungen Europas hat ihre angeborene Ritterlichkeit beschmutzen und den harten Stoizismus ihrer Erziehung überwälti­gen können.

Ihre ehelichen Verhältnisse, obwohl die Viel­weiberei gestattet ist und von den Häuptlingen und Reicheren auch gewöhnlich getrieben wird, sind patriarchalisch, rein und sittlich und der Ehebruch gehört in der Tat zu den Ausnahmen.

Nichtsdestoweniger sind sie leidenschaftlich, sobald sie lieben und ihr chevaleresker Charakter mag dann wohl ein schwacher Damm gegen die auflodernde Glut ihrer Sinnlichkeit sein.

So erhaben Tartaruga über seine Landsleute war, so strömte das Blut des roten Mannes in seinen Adern. Seine Fibern zuckten, das Blut strömte siedend zu seinem Herzen, als er nun vor ihr stand, welche das Schicksal in seine Hand ge­geben hatte.

Und schön war sie, die Tochter des weißen Pflanzers, als sie besinnungslos vor den Augen des Häuptlings saß.

Das Haupt zurückgesunken, von den langen, schwarzen aufgelösten Locken umwallt, die vollen Lippen noch leicht gerötet, der schneeweiße Busen halb entblößt, die weiten Gewänder hinauf­geschoben bis über das runde, verführerische Knie – und draußen Blitz, Donner, der stür­zende Regen und die tosende Windsbraut.

Ein leiser Seufzer weckte den Häuptling aus seinen glühenden Träumen.

Langsam und matt zogen sich die Lider über ihre großen, dunklen Augen zurück, verwundert blickte sie sich um und ordnete mit jungfräulichem Instinkt fast noch bewusstlos die indiskreten Ge­wänder.

Tartaruga war zum Eingang der Höhle ge­treten.

Er ließ seine Hände vom Regen benetzen und kühlte sein glühendes Gesicht mit dem erfrischenden Nass.

Ein angstvoller Aufschrei ließ ihn zusammenschaudern. Er blickte zurück zu ihr, dem Abgott sei­ner Seele. Das Blut erstarrte in seinen Adern und der kühne und ruhige Häuptling stand starr vor Entsetzen an seiner Stelle.

Auf dem feinen, weißen Sand, der den Bo­den der Höhle bedeckte, kroch geräuschlos wie ein Schatten in kurzen, trägen Windungen eins jener gliedlosen Ungeheuer heran, deren giftiger Biss in wenigen Sekunden die Seele vom Körper trennt.

Es war eine schwarze Mokassinschlange mit hellgelbem Hals von der größten und gefährlich­sten Art.

Von Zeit zu Zeit unterbrach sie die trägen Windungen und blickte, züngelnd sich emporrich­tend, wie verwundernd in die lodernden Flammen.

Bei dem Aufschrei Louises richtete sie sich pfeilschnell empor und ihre großen glänzenden Augen suchten ihr Opfer.

Es war ein furchtbarer Moment.

Louises Augen schlossen sich von Neuem.

Nur einen Augenblick zögerte überlegend der Häuptling.

Der Gebrauch der Waffen war unmöglich. Die schwarze Schlange wiegte sich unschlüssig auf dem spiralförmigen Schweif.

Mit einem Sprunge stand der Häuptling vor der bewusstlosen Geliebten … es blieb ihm nur der furchtbare Kampf mit der unbewehrten Hand.

Überrascht von dem neuen Gegner, bog sich die Schlange zusammenrollend zurück … aber im Nu erhob sie sich wieder, ihre wiegenden Bewe­gungen wurden schneller und schneller, zischend zog sie sich noch einmal zum Sprung bis fast an den Boden zurück …

Diesen Moment benutzte der Häuptling.

Mit einem gewandten Sprung stürzte er sich auf sie und packte sie mit dem sicheren Blick, den die Gewöhnung an den Kampf mit Gefahren ver­leiht, mit der rechten Hand dicht unter dem gefährlichen Kopf.

Wie der Blitz wand sich die Schlange um den linken Arm Tartarugas und drückte ihn mit gewaltiger Muskelkraft dicht an seinen Leib.

Es war ein furchtbarer Kampf.

Die ungeheure Muskelkraft der Schlangen ist hinreichend bekannt.

Tartarugas Rechte hielt wie ein eiserner Schraubstock den Kopf der Schlange in der Höhe seines Gesichts etwa eine Elle von sich entfernt. Aber seine Muskeln fingen an zu erschlaffen und immer näher kam ihm das verhängnisvolle Haupt.

In dem Augenblick, wo die Schlange ihre Windungen etwas löste, um das Ende des Schweifes um den Hals ihres Feindes zu schlingen, erwachte Louise.

Der Anblick der furchtbaren Gefahr des Mannes, für den in ihrem Herzen bereits ein schnell emporwachsendes Gefühl sich regte, die Ahnung des Zusammenhangs brachte sie schnell zur Besinnung. Mit dem starken und kühnen Mut ihres kräftigen Charakters näherte sie sich dem Kämpfenden

»Was soll ich tun, Tartaruga?«, fragte sie mit atemloser Angst, das entstellte Gesicht des Häuptlings betrachtend, der stöhnend seine letzten Kräfte zusammenzuraffen schien.

»Mein Messer! Mein Messer!«, rief fast er­stickend der Häuptling.

Louise schaute sich angstvoll danach um.

»An … meiner … Seite!«, stöhnte der Häupt­ling.

Der Kopf der Schlange war kaum noch eine Handbreit von seinem Antlitz entfernt.

Louise bückte sich und zog das Messer aus der ledernen Scheide.

Das schwarze Ungetüm schien die drohende Gefahr zu ahnen. Blitzschnell löste sie den Ring vom Hals Tartarugas und versuchte, nur seinen linken Arm in einer kurzen Schlinge festhaltend, den Hals des jungen Mädchens zu umschlingen.

Aber es gelang ihr nicht ganz. Sie vermochte nur den linken Arm Louises zu erfassen, während das haarscharfe Messer des Häuptlings, kräftig von ihrer Hand geführt, die feuchte, glatte Haut der Feindin durchdrang.

Schon der erste Schnitt befreite das mutige Mädchen.

Das konvulsivische Zucken des verwundeten Tieres hatte den Kopf desselben dem Antlitz des Häuptlings bis auf Zollweite nahe gebracht.

Mit klarem Blick erkannte sie die Gefahr. Unter der Hand des Häuptlings durchschnitt sie mit einem kräftigen Schnitt den Hals der Schlange, deren Windungen sich lösen, bis sie ohnmächtig zuckend in der erstarrten Hand des Häuptlings herabhing.

Mit dem letzten Aufwand seiner Kräfte nahm Tartaruga den Tomahawk aus seinem Gürtel, legte den Kopf der Schlange auf einen der Holz­klötze und zerschmetterte ihn.

Die herkulischen Kräfte des Häuptlings waren erschöpft. Kalter Schweiß perlte in dicken Tro­pfen von seiner Stirn, seine Glieder zitterten. Er war gezwungen, sich auf denselben Block niederzu­lassen, der ihm noch eben zum Zerschmettern des Schlangenkopfes gedient hatte. Unwillkürlich schlossen sich seine Augen zu einem kurzen Moment der erquickenden Ruhe, welche die Natur auf über­wältigende Anstrengungen folgen zu lassen pflegt.

Wie der Häuptling vor ihr gestanden hatte, stand nun das junge Mädchen vor dem ohnmächti­gen Mann.

Träumte sie sich, wie er, in eine Zukunft der innigsten Vereinigung, träumte sie sich als Gattin in die bescheidene Wohnung des großen Häupt­lings, als erziehende Mutter ihrer roten Schwe­stern, als weise Mitbeherrscherin einer neuen, be­ginnenden Zivilisation?

Die Ereignisse des Tages flogen blitzschnell an ihrer Seele vorüber: der fröhliche Ausritt, die aufregenden Jagdszenen, der letzte furchtbare Kampf und das Wüten der Elemente, die noch im majestätischen Grollen verharrten. Nur vorübergehend dachte sie an Vater und Schwester, dann konzentrierten sich ihre Gedanken auf ihn, der regungslos vor ihr saß.

Der goldene Reif mit der Feder war im Kampf von seiner Stirn gefallen, die langen Locken hingen wild um das edle, kühne Antlitz des Häupt­lings, seine kräftigen Arme hingen schlaff an seiner Seite herunter, während die Brust unter dem blutbefleckten Gewand sich unter mühsamen und schweren Atemzügen senkte und hob.

Mit inniger, angstvoller Teilnahme betrach­tete das junge Mädchen dieses schöne Bild der über­wältigten Kraft.

»Tartaruga!«, flüsterte sie, ihm näher tretend. Der Häuptling bewegte sich nicht.

»Tartaruga!«, rief sie lauter, sich angstvoll über ihn beugend, während sie ihre weiße Hand zitternd ausstreckte und die wirren Locken aus seinem Antlitz zurückstrich.

Der Ton ihrer Stimme, die Berührung dieser weichen, warmen Hand würden die Seele Tartarugas vom Eintritt in die dunkle Pforte des Jenseits zurückgerufen haben.

Er öffnete langsam die großen, dunklen Augen. Ein sanftes, seliges Lächeln verdrängte allmählich den starren Ausdruck der Ohnmacht aus seinen Zügen, während er, immer noch der Wirklichkeit entrückt, Louise als eine jener erhabenen Visionen anschaute, die im indianischen Mythos ihre Rollen wie im christlichen spielen.

»Hat dich Manitu gesendet, die Seele des jungen Adlers in das Paradies seiner Väter zu führen?«, fragte er leise und sichtbar verwundert.

»Besinnt Euch, Tartaruga! … Ihr seid nicht tot und ich bin kein Engel des Herrn … Hört Ihr den Sturm nicht?«

Die Besinnung des Häuptlings kehrte allge­mach zurück.

Sein Ohr vernahm die heulende Stimme des Sturmes, er sah die lodernde Flamme magisch die dunklen Wände der Höhle beleuchten und den schwarzen Körper der Schlange auf dem weißen Sand am Boden … Der zerrissene Faden der Erinnerung knüpfte sich an die Data der letzten Ereignisse wieder an … Er hob seine Hand an die Stirn, um die letzten Wolken der Ohnmacht zu verscheuchen und ergriff dann, die Hand wieder herabsinken lassend, unwillkürlich die seiner Ge­fährtin, die errötend neben ihm stand.

Mit dem Instinkt edler und reiner Frauencha­raktere fasste Louise das Eigentümliche ihrer Lage.

Die romantische Situation übte ihren Einfluss, ohne die Klarheit ihres Blickes zu umschleiern. Sie liebte den Häuptling, sie fühlte, dass das an­erzogene und natürliche Vorurteil sie nicht abhal­ten würde, seine Gattin, die Teilnehmerin seiner großen Pläne zu werden. Aber ihre Liebe war noch zu neu, sie war mit sich selbst noch zu wenig darüber zu Rate gegangen und dann: ihre Eltern! Würden sie jemals ihre Einwilligung zu einer Verbindung geben, die so sehr mit ihren Hoffnungen, mit dem traulichen Gemälde eines heiteren und fröhlichen Zusammenlebens kontrastierte?

Wohl war Tartaruga ein großer und erhabener Charakter, wohl war er an Bildung und Geist den Alltagsmenschen ihrer Rasse weit überlegen, die sie kennen gelernt hatte, aber … Hinter dem fantastischen Bild ihrer Liebe erhob sich drohend und warnend der Finger des Vorurteils.

Unter dem Einfluss dieser Überlegungen und jener jungfräulichen Scheu, deren Schranken nur erst der Strom überschwänglicher Liebe hinwegzureißen vermag, fürchtete Louise die Erklärungen des leidenschaftlichen Häuptlings, fürchtete sie umso mehr, als Tartaruga noch eben seiner Liebe die Verpflichtung der Dankbarkeit hinzugefügt hatte.

Tartaruga hatte ihre Hand ergriffen. Sie wagte nicht, sie ihm zu entziehen. Die Augen zur Erde gesenkt, erglühend wie der Kelch der Passiflora, stand sie da, ein holdes Bild der Scham und Verwirrung, ängstlich und schüchtern einen Ausweg suchend, wie der Vogel, den der Zufall durch das offene Fenster eines Zimmers geführt hatte.

Der Häuptling drückte sanft ihre Hand.

»Lariwama, der Engel Manitus, hat sich in die süße Blume der Prärien verwandelt«, flüsterte der Häuptling, seine Augen auf das erglühende Gesicht des jungen Mädchens heftend. »Er küsste im Traum die Stirn des roten Häuptlings und sang die süßen Worte in sein Ohr: Ich will dich glücklich machen, Liebling Manitus!«

Louise schwieg.

Tartaruga, hingerissen von ihrem Anblick, unterstützt von der romantischen Situation, welche der Zufall herbeigeführt hatte, vermochte er die Leidenschaft nicht mehr zurückzuhalten, die seine ganze Seele erfüllte.

»Hat die Tochter des weißen Häuptlings keinen Blick für den Freund zu ihren Füßen?«, rief Tartaruga mit leidenschaftlicher Glut, ihre Hand an seine Lippen pressend.

Louise blickte ihn mit teilnehmender Zärtlichkeit an, aber sie fand keine Worte. Diese ungeheure Demütigung des indianischen Stolzes erfüllte sie fast mit Schrecken.

»Die Blumen der Wüste wenden sehnsüchtig ihr Antlitz zur Königin des Himmels und sie lächeln noch, wenn der glühende Strahl sie versengt.

… Hat die Königin meiner Seele keinen erquicken­den Strahl für das schmachtende Herz Tartarugas?«

Diese Worte wurden in einem Ton gesprochen, der tief zum Herzen des jungen Mädchens drang. Wie von einer magnetischen Kraft ange­zogen, beugte sie sich nieder und berührte mit ihren Lippen leicht die Stirn des knieenden Häuptlings.

»Erhebt Euch, Tartaruga«, sagte sie dann mit dem sanftesten Ton ihrer Silberstimme, »ziemt es dem fürstlichen Häuptling, zu den Füßen eines schwachen Mädchens zu knien?«

»Eure Fürsten beten zum toten Bild der Madonna, weshalb soll der rote Häuptling nicht zu den Füßen seiner lebenden Göttin knien?«, ant­wortete Tartaruga sich erhebend.

»Ich liebe dich«, fuhr er fort, seine Hände wie im Gebet auf der Brust zusammenfaltend, wäh­rend seine Augen mit dem innigsten Ausdruck einer mit fast religiöser Verehrung gemischten Zärtlich­keit auf ihrem Antlitz ruhten. »Ich liebe dich wie die Blume das Licht, wie der Sterbende die lachende Erde, wenn sie im Morgenlicht vor seinem bre­chenden Auge liegt. Mein Herz sehnt sich nach dir, wie das verschmachtende Wild nach der rieselnden Quelle, meine Seele …«

»O, Tartaruga …«

»Höre mich an, Tochter eines anderen Volkes! Ich kenne das Vorurteil, welches die Herzen der meisten mit Verachtung gegen ihre roten Brüder und Schwestern erfüllt. Sie sind roh und unwissend, das strahlende Licht der Bildung hat nie die tiefe Nacht ihres einfachen wilden Lebens erhellt … aber sie sind dennoch eine edle und große Nation. Die Schätze, die unter den wilden Wäldern der Gebirge schlummern, sind sie deshalb weniger kostbar, verdienen sie nicht zum Licht des Tages gefördert zu werden, um Tausende mit ihrem Glanz und ihrem Wert zu beglücken? Wohlan! Das Schicksal hat mich zur Höhe der Bildung deines eigenen Volkes emporgehoben … Ich will der Messias des meinen werden! … Und als Erlöser der übrig gebliebenen Urbewohner, denen einst dieser Weltteil gehörte, flehe ich eine Tochter der weißen Eroberer an, mir ihre helfende Hand zu reichen, der Engel des Messias meiner Landsleute zu werden.«

Groß und schön, ein wahrer Fürst seiner Rede, stand der Häuptling im düsteren Licht des verglimmenden Feuers vor dem zitternden Mädchen.

Aber Louise war ebenfalls eine erhabene Natur. Sie fühlte sich hingerissen von ihrem Herzen, emporgehoben von dem edlen Beruf, der ihrer harrte, aber sie vergaß darüber die Pflichten nicht, welche der Freiheit ihres Willens Fesseln anlegten.

»Hört auch mich, Tartaruga! Ich schulde Euch Dank!«

»Dank?«, fragte fast bitter der Häuptling.

»Habt Ihr nicht jetzt erst mein Leben …«

»Jeder andere hätte dasselbe getan. Gewöhnt an das Leben der Gefahr, gewöhnt, oft das Leben einer Laune wegen einzusetzen, verdient die Rettung eines Lebens aus der Gefahr keinen Dank!«

»Hört mich an, Tartaruga!«

Der Häuptling schwieg. Aber seine markige Gestalt zitterte, er atmete mühsam, als hätte Leben oder Tod an ihrem Wort gehangen.

»Ich schulde Euch Dank, Tartaruga, den höchsten, innigsten Dank … nach unseren Begriffen«, fügte sie lächelnd hinzu. »Aber«, fuhr sie fort und tiefes, glühendes Rot überflog ihre Wangen, »ich ehre Euch, ja … ich … liebe Euch, Tartaruga!«

Ein seliges, stolzes Lächeln verschönte die edlen Züge des Häuptlings.

»Aber«, fuhr sie fort, ihm ihre Hand sanft entziehend, die er von Neuem ergriffen und an seine Lippen gedrückt hatte, »aber meine Liebe ist noch jung … ein zarter Keim, der kaum die ersten Blätter getrieben hat … lässt sie wachsen und stark werden! … Außerdem gehöre ich nicht ganz mir selbst an … Ihr werdet die Pflichten der Tochter ehren, die mit Zärtlichkeit gepflegt am Herzen der Eltern aufwuchs … Wartet! … Die Zeit wird kommen! Ich werde Euch rufen und bis dahin … nehmt diesen Kuss zum Dank und als Zeichen meiner Treue!«

Und von Neuem errötend, bot sie ihm die Lippen, die er getäuscht und doch glücklich mit den seinen berührte.

Die Wut des Sturmes hatte sich inzwischen gelegt, nur in weiter Ferne zuckten noch Flammenstreifen durch die finstere Nachtluft, aber der Regen floss noch immer in Strömen zur Erde.

Louise, unruhig über das Schicksal der ihren, trieb zur Heimkehr und nachdem Tartaruga sie in Decken gehüllt, die zufällig in der Höhle zurückgelassen waren, bestiegen sie die Pferde und erreichten nach einem kurzen, wenn auch beschwerlichen Ritt das indianische Dorf.

Die Jagdgesellschaft war bereits wieder versammelt, und Vater und Schwester hatten mit ängstlicher Sehnsucht der Rückkehr Louises geharrt.

Horst und Ännchen hatten eine ähnliche Zuflucht gefunden und wenn man dem heiteren Lächeln glauben durfte, mit dem die liebliche Blondine von Zeit zu Zeit den glücklichen Horst anlächelte, wenn man von allen den kleinen zärtlichen Vertraulichkeiten, die sonst nicht zwischen ihnen stattgefunden haben, einen Schluss ziehen durfte, so hatte der majestätische Deus es machina des Sturmes auch bei ihnen seine Rolle gespielt.

Auch Tartaruga war mit Ungeduld erwartet worden. Einer seiner Boten war mit wichtigen Nachrichten zurückgekehrt und der Häuptling hatte kaum seinen Hunger gestillt und den verzehrenden Durst gelöscht, als er sich bereits wieder erhob, und Horst, dem Trapper und dem Hausierer win­kend das Zimmer verließ.

An der Tür des kleinen Gemachs, in das sie nun eintraten und das dem ausschließlichen Ge­brauch des Häuptlings geweiht war, stand gebeugt von der Anstrengung einer langen und eiligen Reise ein alter Indianer, auf seine Büchse gestützt.

Beim Erscheinen des Häuptlings richtete er sich auf und folgte den Voranschreitenden nicht ohne ein ängstliches Umsichblicken in das gefürchtete und geheimnisvolle Zimmer und erwartete die An­rede seines Gebieters.

»Die Ohren des großen Häuptlings sind offen, die Worte der eilenden Wolke zu vernehmen«, begann Tartaruga, mit wahrhaft fürstlicher Würde, sich auf einen Sessel niederlassend, eine Anstands­form, an welche er seine Leute nur mit Mühe zu gewöhnen vermocht hatte.

»Die eilende Wolke«, antwortete der Gefragte, »warf ihren Schatten auf die Fährte des Räubers. Die Augen des Comanchen haben das Antlitz des spanischen Schurken gesehen.«

»Wo?«, fragte lakonisch Tartaruga.

»Buruzema folgte dem Lauf des Colorado, als er die Spur von zwei beschlagenen Pferden entdeckte. Er folgte ihr bis hinauf zu einem verlassenen Haus unter hohen Pecanbäumen …«

»Ein verlassenes Schloss Eures Freundes, Job Jenkins«, bemerkte lächelnd der Trapper.

»Weiter!«, sagte ungeduldig der Häuptling.

»Sie aßen ihr Hirschfleisch lustig wie hungrige Wölfe und ritten dann nach Osten bis an die Salzlecke hinauf.«

»Dachte mir es, dachte mir es«, bemerkte ruhig der Jäger.

»Und wie viel waren ihrer?«, fragte der Hausierer.

»Achtzehn!«, antwortete der Indianer, »wohl bewaffnet und gut beritten.«

»Es ist gut«, sagte Tartaruga und gab dem Indianer ein Zeichen, das Zimmer zu verlassen, um mit seinen Freunden über die Schritte der nächsten Zukunft zu beraten.

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