Die Plauderstube – Der Verstorbene als Bräutigam – Kapitel 1
Der Verstorbene als Bräutigam
Nach dem Französischen des Adrien Paul
7. August 1859
1.
Zwei junge Leute reisten vor einiger Zeit zusammen von Marseille nach Paris.
Obwohl sie Landsleute waren, kannten sie sich doch keineswegs einander und der große Autor, der für die Liebesbühne arbeitet, der bald Tragödien, bald Komödien verfertigte, wie es ihm gerade in den Kram passt, der Zufall hatte es diesmal so gefügt, dass sich die beiden jungen Leute, welche sich in ihrem Leben noch nicht gesehen hatten, in einem Eisenbahnwagen zum ersten Mal gegenüber befinden sollten.
Da sich die beiden Leute gegenseitig nicht abstoßend vorkamen, so ist es auch nicht zu verwundern, dass sie bald in ein Gespräch miteinander gerieten.
In der ersten halben Stunde unterhielten sie sich vom Regen und vom Sonnenschein, vom Wetter im Allgemeinen, vom elektrischen Telegrafen, von der neuen Primadonna, von der fabelhaften Schnelligkeit des Reisens, von Diesem und Jenem, von dem so auf Reisen zu reden pflegt, meist zu dem einzigen Zweck, um die Zunge nicht einschlafen zu lassen.
Dieses bunte Allerlei wird denn auch gar manchmal das Vorspiel zu einem eingehenderen und zusammenhängenden Gespräch und geht diesem voraus, wie die ungeordneten und durcheinander schwirrenden Töne der Künstler der stimmenden Musiker der Ouvertüre zu einer Oper vorausgehen.
Nach Verlauf einer guten halben Stunde boten sich die jungen Leute schon gegenseitig Zigarren an, durch welches Medium ihre unsteten Gedanken plötzlich über Meere schweiften, phantasievolle Ausflüge nach Manila und nach Havanna machten, um sich jedoch bald wieder durch die Wirklichkeit in Gestalt ihrer schlechten Zigarren in das Land der Tabakregie zurückversetzt zu sehen und nun eben diese, alle Poesie des Rauchens vernichtende Regie den kräftigsten und tiefgefühltesten Verwünschungen preiszugeben.
Auf der Station zu Macon aßen sie eine Kleinigkeit zum Zeitvertreib und tranken auch einen Schluck Wein dazu, teilten sich ihre Beobachtungen über das hübsche Füßchen dieser oder das niedliche Gesichtchen jener Reisenden mit, und ihre Vertraulichkeit sah sich durch diesen Austausch nur gefördert.
Die jungen Leutchen gefielen sich so gut. Sie schlossen sich dermaßen a einander, dass sie, noch ehe sie die Hälfte ihres Weges zurückgelegt hatten, sich schon, sozusagen, ihn ganzes Herz geöffnet hatten. Jeder konnte in dem Inneren des anderen lesen wie in einem offenen Buch: Das kommt vor, solange man noch jung ist, denn die Jugend ist mitteilsam.
»Ich«, sprach Julius von Cerisy, »ich gehe nach Paris, um mir eine hübsche Mitgift zu holen in der Gestalt der einzigen Tochter eines alten Freundes meines Vaters.«
»Ich«, erwiderte ihm darauf Eduard Pernier, »ich beabsichtige eigentlich nur eine kleine Luftveränderung, mit der Hoffnung im Hintergrund, dadurch vielleicht auch eine kleine oder noch lieber große Veränderung meiner Lebensstellung herbeizuführen. Da ich in Marseille nichts hatte und nichts war, so schmeichle ich mir mit der Hoffnung, dass ich in Paris wenigstens ebenso viel, wenn nicht mehr finden werde, und so steuere ich denn mit philosophischer Gelassenheit nach dem modernen Babylon, obwohl die Segel meines Lebensschiffleins von nichts anderem als von bangem Zweifel und drückender Unwissenheit geschwellt sind.«
»Mein zukünftiger Schwiegervater«, entgegnete ihm nun Julius, »hat gewiss einflussreiche Freunde und Bekannte, und wenn ich Ihnen in irgendetwas nützlich werden kann … «
»So sollen Sie an mir keinen Undankbaren finden … Es ist gewiss eine Neigungsheirat, zu der Sie so freudig eilen?«
»Das hoffe ich.«
»Wie, Sie hoffen es nur?«
»Allerdings!«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Das ist doch eine äußerst einfache Sache. Mein Vater hat zu mir gesagt: Fräulein Louise von Vieuville ist jetzt achtzehn Jahre alt, sie ist hübsch, von sanftem Charakter gut erzogen und noch obendrein die einzige Tochter.«
»Wahrhaftig, das sind lauter gute Eigenschaften«, unterbrach ihn Eduard.
»Ihr Vater«, fuhr der meine fort, »ist ein alter Jugendfreund von mir. Seit zwanzig Jahren tragen wir uns mit der Hoffnung, die Bande unserer alten Freundschaft nur noch fester zu schließen, indem wir eines Tages alle zusammen nur eine Familie ausmachen. Als ich einen Sohn bekommen habe, hat er sich eine Tochter gewünscht, nur um dieses Zweckes willen, und sein Wunsch ist ihm in Erfüllung gegangen. Von dir hängt es nun ab, ob unsere sorgsam aufgebauten Luftschlösser zu Tage treten oder ob sie in Trümmer gehen sollen.«
»Und Sie haben so ohne Weiteres Ja gesagt?«, fragte Eduard.
»Und warum auch nicht?«, erwiderte Julius.
»Also verheiraten Sie sich nach Art der Prinzen, nachdem die diplomatischen Verhandlungen soweit gediehen sind?«
»Finden Sie diese Art nicht ganz praktisch?«
»Praktisch vielleicht, aber nicht nach meinem Geschmack. Wenn ich je einmal meine persönliche Freiheit, mein Glück, mein Alles aufs Spiel setzen sollte, so müsste ich die Karten selbst in der Hand halten und das Spiel nach meinem Kopf lenken.«
»Wenn ich von einer Neigung gefesselt gewesen wäre, ja! Aber mein Herz ist frei wie der Vogel in her Luft. Und dann, welcher Bräutigam kennt jemals seine Zukünftige? Und ich möchte hinzufügen: Welche Zukünftige kennt jemals ihren Bräutigam?«
»Und doch … «
»Tun wir doch einmal die Augen auf«, fiel ihm Julius ins Wort, »und sehen wir, wie die Dinge gewöhnlich zugehen. Eine Familie zieht ihre Erkundigungen ein über einen jungen Mann, auf den eine freundliche Nachbarin oder eine geschäftige Base aufmerksam gemacht wurde, oder den die Mama auf einem Ball aufgegabelt hat. Vielleicht ist er auch auf einer Wasserpartie ins Garn gegangen oder auf einer Landpartie gefischt worden. Das tut nichts zur Sache. Gut! Wenn der Kandidat keine offenbaren groben Fehler hat, wenn er gut tanzt, sich hübsch trägt, sich anständig benimmt, den gewöhnlichen sehr laxen Begriffen von einer guten Erziehung entspricht und wenn die Hauptsache, der Geldpunkt, keine Schwierigkeiten darbietet, so kriegt er eben die Erlaubnis, einmal sein Glück bei der Einzigen zu probieren. Ist es so?«
»Ja, beinahe oder in vielen Fällen wenigstens.«
»Was tut dann der junge Mann?«, fuhr Julius fort. »Er zieht seine besten Rasiermesser ab, pflanzt die untadeligsten Halskragen und die unwiderstehlichsten Binden auf, wird zärtlich, aufmerksam und besorgt, spielt die entzückendsten Variationen über das ewige immer wiederkehrende Thema der Liebe und versteckt seine Klauen unter rosigen und wohlgeschliffenen Nägeln. Mit Einem Wort, er verbirgt die Fehler, die er hat und schmückt sich für den Augenblick mit guten Eigenschaften, die er nie besessen hat.«
Eduard nickte und lächelte dabei.
»Gehen wir nun zu dem jungen Fräulein über«, fuhr Julius fort. »Ihre Mutter hat ihr aufs Strengste anempfohlen, über ihre Zunge zu wachen und beständig auf sich Acht zu geben. sie hat das Töchterlein mit den genauesten Auseinandersetzungen über die Gefahr belehrt, ihren wahren Charakter zu zeigen. Sie hat ihr eingeprägt, dass um ihre Lippen beständig ein freundliches Lächeln spielen muss, wie bei einer Tänzerin, welche eben eine Pirouette beendet hat, und dass sie auf ihrem Gesicht nie zeigt, was in ihrem Herzen vorgeht. Sie ist, ich meine nämlich die Zukünftige, schon vom frühsten Morgen an von Kopf bis zu Fuß eingeschnürt und beringt, reizend, frisiert und geschmückt, wenn auch hier und da mit fremden Federn, bebändert und betüllt, — kurz zum Entzücken. Sogar ihre sehr engen Stiefelchen mit hohen Absätzen, wenn sie beim Gehen knarren wie ein Wagenrad mit Hemmschuhen, tönen in den Ohren des Liebenden wie eine himmlische Musik … Sie lachen?«
»Ja«, entgegnete Eduard, »über die realistische Ausmalung des Gemäldes.«
»Keine Ausmalung, nur unverfälschte Wahrheit! Setzt man Ihnen etwas Gebackenes vor, so hat sie es gebacken. Diesen hübschen Alkibiadeskopf, niemand als sie, hat ihn gezeichnet. Dieses perlengestickte Arbeitstischchen ist das Werk ihrer Feenhände. Hören Sie den Flügel im Nebenzimmer? Sie phantasiert! Sie geht vom Weißgerät in die Speisekammer, von ihren Blumen zu ihrem Vöglein, von der Stickerei zum Strickstrumpf. Sie ist überall, sie ist fleißig, arbeitsam, sparsam … Sie Auserwählter unter Tausenden, dass Sie diesen einzigen Edelstein unter den Kieseln, dies duftende Veilchen unter den Disteln gefunden haben!«
»Hören Sie einmal«, warf Eduard ein, »Sie müssen Witwer von wenigstens zwei bis drei Frauen sein?«
»Gott bewahre mich vor solchem Geschick! Nein! Aber ich bin ein bisschen Advokat und da bekommt man so Allerlei zu hören und zu sehen, was zur Ernüchterung der Seele beiträgt.«
»Desto schlimmer für Sie, denn in den Illusionen ruht unser Glück.«
»Was nun gar die Geistes- und Herzenseigenschaften anbelangt«, fuhr Julius, ohne sich in seinem Redestrome stören zu lassen, fort, »so versteht es sich ganz von selbst, dass bloß diese Zukünftige alle besitzt. Sie ist bescheiden in ihrer Toilette, hegt eine große Geringschätzung für Schmucksachen und Kaschmirshawls und begreift gar nicht, wie eine Frau darin ihr höchstes Glück sehen kann. Der Lärm betäubt sie, der Ball hat für sie etwas Beengendes und das Theater langweilt sie … Ihr Königreich ist ihr stiller, häuslicher Kreis. Das wahre Glück besteht nur in der Vereinigung zweier Seelen, die füreinander geschaffen sind. Die ihre ist für die Ihre geschaffen, wohlverstanden und umgekehrt! Ein Herz und eine Hütte: Philemon und Baucis, Romeo und Julia, Petrarca und Laura, Hero und Leander und was weiß ich! Kurz, lieber Freund, sie ist der zur Frau geworbene Engel. Es ist der Engel, der in höchsteigener Person ganz express für Sie vom Himmel heruntergestiegen ist, und das ist hoch eine große Aufmerksamkeit von ihm, nicht wahr?«
»Ich sollte denken, ja!«, sprach Eduard.
»Mit einem Wort, man maskiert sich Leib und Seele und freut sich ob der Stelzen, auf denen man herumspaziert, als ob man nicht einmal heruntersteigen müsse! Das dauert so einige Wochen, auch einige Monate, unter der beschwichtigenden Obhut der Mama. Man drückt sich die Hände, singt mit Gefühl am Piano, flüstert in den Fensternischen, geht gern über spärlich beleuchtete Gänge, richtet eine kleine Feldpost von Briefen ein, in denen man sich nichts schreibt, was man sich nicht viel besser sagen könnte, und wäre es auch nur durch die Blumensprache, welche ebenfalls kultiviert wird, worauf dann endlich das verhängnisvolle Ja ertönt, die Gatten, wohl oder übel durch die Heirat zusammengehörig, ihre Masken abwerfen, ihre hässlichen Seiten alle nach und nach entdecken, nun aber aus ihren selbstgeschmiedeten Banden nicht mehr loskommen können, denn …«
»Es ist zu spät!«, setzte Eduard hinzu.
»So ist es. Und Sie glauben, dass solche Leute, nachdem sie eine Zeit lang gegenseitig paradiert und kokettiert, sich besser kennen, als Fräulein von Vieuville und ich uns kennen, die wir uns nie gesehen haben?«
Nun erzählte her mitteilsame Julius seinem neuen schweigsameren Freund so
viel Einzelheiten über seine Zukünftige und deren Familie, dass Eduard Bernier bald ebenso viel wusste wie der Bräutigam selbst.
Die Reise ging heiter zu Ende, ebenso wie die vielen Geschichten, die noch von Julius zum Besten gegeben wurden.
»Wo steigen Sie ab?«, fragte er endlich seinen Gefährten.
»Das weiß ich wahrhaftig selbst nicht«, entgegnete Eduard. »Meine Absicht war, mit geschlossenen Augen mich dem Zufall zu überlassen und mich vom erstbesten Kutscher irgendwo hinfahren zu lassen.«
»Der Zufall, der bin ich«, erwiderte Julius lachend, »und ich installiere Sie vermöge der mir zukommenden Kraft und Gewalt in das Hotel Richelieu auf dem Favart-Platz … Das Geringste, was Sie an mir tun können, ist, dass Sie meiner Heirat beiwohnen.«
»Angenommen.«
»Sonderbar geht es im Leben zu, nicht wahr?«, fragte Julius. »Gestern kannten wir uns noch gar nicht, und heute … Man hat wohl recht, wenn man sagt, dass es keinen Ort gibt, wo mehr Dinge vorgehen als in der Welt!«
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