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Die Plauderstube – Der Pfarrer und sein Schützling

Der Pfarrer und sein Schützling

»Ist Euch«, fragte der Pfarrer von St. Madeleine den alten Küster, »jener sonderbare Mann näher bekannt, der täglich, wenn ich die Messe lese, im Hintergrund der Kirche sich einfindet und regungslos, den schwermutvollen Blick gegen den Boden gesenkt, bis zum Schluss des Gottesdienstes ausharrt?«

»Nein, würdiger Heer Abbé«, entgegnete der Sakristan, »doch besinne ich mich, ihn schon vor 20 Jahren das erste Mal eintreten gesehen zu haben. Und seit jener Zeit hat sich in seinem Wesen und Gebaren nichts geändert.«

»Er scheint arm und von tiefem Kummer befangen zu sein.«

»Unserem Kirchensprengel gehört er nicht an, doch habe ich nie eine ihm ungünstige Nachrede vernommen.«

»Weiß nicht«, fuhr der Geistliche fort, »ich fühle für den Mann ein eigentümliches Interesse. Er ist ein verschlossenes Buch, dessen Inhalt zu erfahren mich reizt.« Alle Bemühungen des Abbé, dem geheimnisvollen Fremden in die Seele zu schauen, blieben jedoch fruchtlos.

Nur auf die Frage, ob Unglück ihn betroffen habe, äußerte er womöglich finsterer als gewöhnlich blickend: »Jawohl, ich bin unglücklich, pausenlos unglücklich.«

Der Pfarrer gab es auf, tiefer in den seltsamen Mann zu dringen, reichte demselben jedoch ein Almosen, das dankend angenommen wurde.

Fort und fort zur selben Stunde, an derselben Stätte fand der rätselhafte Beter sich ein, oft wiederholte der Abbé seine mildtätigen Spenden.

Eines Tages blieb die dem Alten gleichsam vorbehaltene Stelle im Gotteshaus leer. Dem Pfarrer fiel solches sogleich auf. Als jedoch auch der zweite und dritte Tag den Schützling nicht wies, bat der besorgte Seelenhirt alles auf, die Unterkunft des Vermissten auszuforschen. Zweifelsohne hielt ihn ein Siechtum vom Kirchgang zurück. Nach vieler Umfrage wurde endlich die gewünschte Kenntnis erlangt.

In einem abgelegenen Viertel im obersten Stockwerk eines verwahrlosten Gebäudes lag auf ärmlichen Strohbett der alte Robert.

Beim Eintreten des Geistlichen fuhr er wie entsetzt zusammen.

»Und es gelang Ihnen, mich aufzufinden und Sie kümmern sich um den, der sich selbst aus der Welt verstoßen will, in die er nicht taugt?«

»Hat Ihnen die Welt eine so arge Kränkung zugefügt?«

»Nein … die Welt … nein … ich habe mich an ihr versündigt.«

»Sie scheinen schwer zu leiden: Öffnen Sie sich mir … vielleicht, dass Rettung, Milderung …«

»Der Tod, denke ich, wird bald die Rechnung abschließen.«

»Haben Sie nie erfahren, dass durch Mitteilung der Schmerz seinen Stachel einbüßt, dass die Teilnahme eines Freundes das Widerwärtige leicht erträglich macht.«

»Sie mögen recht haben, würdiger Herr. Ich weiß nicht, wodurch ich es verdiene, dass … «

»Sie sind unglücklich und mein Beruf ist es, die Unglücklichen zu trösten.«

»Ja, ich fühle ein Herz zu Ihnen … wie … nein, es ist kein Trost möglich.«

»Nur wo der Glaube an den Arzt verloren gegangen ist und jede Arznei vom Misstrauen zurückgewiesen wird, muss die Heilung scheitern. Lassen Sie Ihren Arzt mich sein, schenken Sie mir Ihr Vertrauen.«

»Mit dem Leib geht es zu Grabe, der macht mir keine Sorge mehr, es ist gut, wenn die Maschine bricht … und die Seele … nun die ist auch verloren.«

»Nicht der Verzweiflung verfallen, lieber Freund. Es waltet über uns eine unendliche Milde.«

»Und Sie halten in der Tat dafür, dass kein Verbrechen so grässlich, so entsetzlich … dessen Sühnung … «

»Ich glaube fest, dass auch die schwerste Schuld durch Reue … «

»Tilgbar, nein, was ich verübt, zieht die Waagschale zu tief hinab. Jawohl habe ich es bereut. Meine Tränen sind geflossen in glühenden Strömen, bis sie zuletzt versiegt sind.«

»Sie machen mich schaudern; und doch: Öffnen Sie sich mir, vielleicht, dass mein Rat, meine Tat manch eine traurige Folge Ihrer Verirrung noch zu beseitigen vermag.«

»Ja, Sie sollen es wissen, ob ich gleich die Überzeugung hege, dass mein Bekenntnis den Einzigen, der in der letzten Stunde liebreich sich mir genaht, mir rauben muss.

»Ja, würdiger Herr, was sie hier, schon an Kunstwerken und Schätzen, die zu meiner Armut so wenig passen, dieser goldene Becher, diese mit Flor verhängten Bilder, jene silbernen Leuchter, das sind die Dämonen gewesen, die mich ins Verderben rissen, die ich nun mir stets vor Augen stelle, um Schuld und Reue nicht im Gedächtnis verdämmern zu lassen. Schnödes Gold und schnöde Prunksachen haben mich verblendet. Mein Vater war Amtsschreiber. Unsere Herrschaft entdeckte in mir, als ich noch Knabe war, besondere Fähigkeiten und Talente. Sie ließ mich studieren, ich wurde gleich einem eigenen Kind gehalten, zuletzt mit der Stelle eines Sekretärs betraut und des vollen Vertrauens gewürdigt. Da brach die Revolution herein. Auch meine Wohltäter verfielen der Proskription. Sie flüchteten. Niemand wusste um ihr Asyl als … ich … und ich versteckte vom Preis, der auf ihren Häuptern stand … ich wurde ihr Verräter. Durch Vermittlung eines Freundes wäre ihnen eine zweite Flucht gelungen, ich hinderte sie und überlieferte Vater, Mutter und drei Söhne dem blutigen Konvent. Ich war zugegen, als sie auf der Guillotine verbluteten. Ein einziger Spross, damals beiläufig zwölf Jahre alt, wurde verschont.

»Entsetzlich«, hob nach einer Pause tief ergriffen der Priester an, »entsetzlich! Doch die Gnade dessen, der über uns waltet, ist schrankenlos und unerschöpflich.«

»Einige tausend Livre und diese Schätze fielen mir als Blutgeld zu, doch wurde ich im Genuss des Gewonnenen niemals froh; wo ich ging und weilte, sah ich die blutigen Häupter meiner Wohltäter mir zu Füßen auf und nieder rollen. Ich suchte mich in sinnlichen Freuden zu betäuben; der Versuch misslang. Ich übergab mich der glühendsten peinigenden Reue, ich wandte meine Gedanken nach den Sternen, ich verlegte mich auf strengste Kasteiung und Gebet; ach! Einem so verworfenen Sünder konnte kein Hoffnungsstrahl der Verzeihung dämmern. Ich rang, so lange meine Kräfte es gestatteten, nach Gelderwerb, nicht um die Früchte des Erworbenen zu genießen, nein, um dem letzten Sprossen des durch mich untergegangenen Hauses einen kleinen Teil der riesengroßen Schuld in Geld abzuzahlen. Auch was Sie mir gespendet haben, würdiger Herr, ist jener Summe zugeschlagen worden. Ach! Alle meine Bestrebungen, den unglücklichen Erben der Geopferten aufzufinden, blieben erfolglos. Dort liegt im Schrank links mein Testament, kraft dessen all mein Eigentum dem Verschollenen, sobald er aufgefunden sein wird, übergeben werden soll. Würdiger Herr, der Sie so warmen Anteil an dem Sünder nehmen, das ist meine dringendste Bitte: Unterziehen Sie sich der Mühe, den Erben zu erforschen!«

»Verlassen Sie sich unbedingt auf mich.«

»Dort«, fuhr der Alte, sich mit aller Anstrengung erhebend, fort, »dort, die mit schwarzem Flor verhängten Bilder, sind die Porträts seines Vaters, seiner Mutter, betrachten Sie.«

»Gott!«, rief der Abbé, in einen Stuhl zurücksinkend und mit beiden Händen sich die Augen verhüllend, »meine Eltern!«

Momente grauenhafter Stille traten ein. Hörbar glitten des Priesters Tränen zur Erde, hörbar schlug der Puls des Kranken.

»Gott ist gnädig!«, begann endlich sich erhebend der Abbé. »Er hat in Euer zerknirschtes Herz geschaut und Euch verzeihen, so wie ich Euch verzeihe. Was Ihr mir zugedacht habt, soll an die Armen verteilt werden, auf dass deren Dankgebete zum Frommen Eurer Seele aufsteigen, zum Lenker der Welt.«

Der Alte wollte noch sprechen, die Kraft versagte. Er sank zurück, dumpfes Röcheln, ein letztes Zucken, das Auge schloss sich, während über die bleichen Züge ein Lächeln der Verklärung schwebte. Dem Toten zu Häupten aber stand, die Hände zum Segensspruch erhoben, der Priester.

Ende

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