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Hexengeschichten – Furia infernalis – Kapitel 6

Ludwig Bechstein
Hexengeschichten
Halle, C. E. Pfeffer. 1854

Furia infernalis
Kapitel 6

Agaphonikas Herz klopfte so freudenvoll, wie lange nicht. Sie war so selig in der Liebe zu ihrem Bruder, so glücklich, gern hätte sie auch andere glücklich gemacht.

Sie gab ihrer Barynka, welche sie auskleidete, eine ganze Handvoll Schmuck zum Geschenk und sagte ihr: »Gehe hin, liebe Barynka, rufe mir die alte Naenka her, ich will auch ihr etwas schenken, weil mein Brüderchen wiedergekommen und so schön und herrlich geworden ist!«

Barynka ging unter Dankesbezeugungen und sandte der Herrin die alte Mataphka zu. Diese kam und fand Agaphonika in allerhand Kleiderstoffen kramen.

»Habe einen Freudentag erlebt, Altmütterchen!«, sprach Agaphonika. »Möchte dich auch erfreuen! Was schenke ich dir, alte Naenka? Was erfreut dich am meisten? Bitte, sage es mir! Schmuck wirst du dir schwerlich wünschen, aber vielleicht ein Kleid … oder … eine recht frohe Botschaft?«

»Herrin, die alte Mataphka hat, was sie braucht. Dank Euch für den guten Willen, Agaphonika Polycarpovna. Und mir eine gute Botschaft, die könnte ja nur vom Himmel kommen.«

»»An den du nicht glaubst, Mataphka,« fiel Agaphonika ein, »und doch ist unser Gott groß und mächtig, kann die Toten erwecken und lebendig machen.«

Mataphka schüttelte heftig ihr Haupt und murrte: »Verzeiht Herrin, das kann er niemals.«

»Würdest du an den Gott der Christen glauben, Mataphka, wenn dein Kolynka wieder vor dich träte und spräche: Mütterchen, siehe, da bin ich, ich lebe!«

Mataphkas Gestalt hob sich kerzengerade, ihre Augen rollten. »Mein Sohn, mein Kolynka!«, stieß sie keuchend hervor. »Ja, ich würde glauben, oh, ganz gewiss, ich würde sehr glauben, Agaphonika Polycarpovna, aber das ist ja nicht möglich … nicht möglich!«

»Unserem Gott ist nichts unmöglich!«, entgegnete Agaphonika mit fester Zuversicht.

»Höre zu, Mütterchen, und schaue nicht so wild, so entsetzlich drein. Unser Kolynka ist damals nicht gestorben. Er war nicht tot. Theophiliy Nikodemonow hat ihn gerettet, dessen Mutter heilte ihn, aber er wollte nicht in unser Haus zurück, er floh. Und dem entflohenen Leibeigenen wäre die Abgabe als Rekrut gewiss gewesen, das weißt du wohl, darum durfte er nicht wiederkommen, darum musste es ein fest bewahrtes Geheimnis bleiben, dass er lebe. Zu meinem Bruder flüchtete er, ihm dient er. Sein Scholewak, den er mitgebracht hat … ist … doch muss es noch immer geheim bleiben … dein Sohn, dein Kolynka!«

Mit sprachlosem Erstaunen und unter immer heftiger werdenden Zittern hörte die Alte diese Mitteilung. Fast zersprang ihr das Herz vor Weh und Wonne, endlich rief sie tief atmend und schreiend aus: »Mein Sohn! Mein Kolynka! Und solange mir entzogen und vorenthalten! Wo ist er? Ach, wo ist er?«

»Er ruht im Vorzimmer seines Herrn, heute darfst du ihn nicht stören, morgen wird er an deinem Herzen liegen. Nun, Mütterchen, gab ich dir nicht ein gutes Geschenk? Danke mir und gehe zu Ruhe.«

»Ich danke Euch, Herrin! Ich danke Euch, Agaphonika Polycarpovna!«, sprach Mataphka mit seltsamen Ton. »Ich danke Euch für dies graue Haar, Euer so gut bewahrtes Geheimnis hat es grau gemacht; für diese runzlige Haut, das Geheimnis hat sie gewelkt; für meine zitternden Glieder; der nagende Schmerz um meinen Sohn machte sie erzittern und das tiefe Geheimnis. Hätte ich den Sohn lebend gewusst, wenn auch fern von mir, so konnte ich beten, wenn auch nicht zum Gott der Christen. Es gibt nur einen Gott und Mahomed ist sein Prophet! Weil ich nicht beten konnte, so habe ich geflucht, und meine Flüche haben mein Gebein verdorrt und meine Schritte wankend gemacht. Oh, ich danke Euch … Euer Geheimnis hat mir ja den Sohn geschaut und erhalten, mir aber raubte es mehr, als je irgendeines Gottes Hand mir wieder zu geben vermag.«

Agaphonika litt Pein bei dieser Rede des Tatarenweibes. Sie verhüllte sich und deutete mit der Hand, die Sprecherin möge sich entfernen. Unverweilt gehorchte diese, und Agaphonika suchte im Inneren beunruhigt die Ruhe und seufzte: »Ach, wo gibt es noch eine reine und ungetrübte Freude?«

Mataphka hielt ein Lämpchen in der Hand und schlich durch des Hauses Gänge, die Diener alle hatten schon ihre Ruhestätten gesucht. Sie wusste die Tür des Vorzimmers, darin Nikolay schlief, sie konnte nicht eine Nacht lang das Geheimnis in ihrer Brust bewahren, und auf den nächsten Morgen harren – sie wollte den Sohn, den lang entbehrten Sohn, sie hatte keine Gedanken mehr als nur den Sohn, den Sohn.

»Ob er schon schläft, mein Herzchen? O, mein goldener Liebling!« Die Alte legte lauschend ihr Ohr an die Tür, sie vernahm nichts; es war tiefstill in dem Zimmer. Sie stellte ihre Lampe auf den Estrich des Ganges zur Seite und lugte durch das Schlüsselloch. Es war finster da drinnen, gegen die Gewohnheit, denn ins Zimmer des Dieners gehört ein Nachtlicht. Sie scharrte leise mit den Nägeln an der Tür. Nichts regte sich. Nun klopfte sie leise erst, dann stärker und noch etwas stärker. »Alles still drinnen – alles still.« Das war genau um dieselbe Zeit, in welcher Theophiliy Nikodemonow noch einmal das Vorzimmer, darin erwachen sollte und wollte, um nachzusehen, ob alles im Haus in Ordnung, verließ. Da sah er auf dem Gang den Lampenschimmer, schlich durchs Dunkel näher, fand die Alte.

»Heda, Mataphka! Was gibt es hier zu suchen und zu lauschen?«, rief er, doch nicht laut, der Alten zu und fasste sie nicht eben sanft an.

»Will zu ihm, will zu meinem Nikolchen. Lass mich, Väterchen, drücke mich nicht so hart. Das Fleisch ist von den Knochen, der Druck tut weh!«

»Bist verrückt, alte Mataphka! Sehr verrückt! Mondsüchtig! Welche Narrheit! Wo soll dein Kolynka herkommen?«

»Ha, stelle dich nicht dumm, Väterchen! Ich weiß alles, du weißt alles! Er ist da, das Goldsöhnchen, der Liebling, freust dich auch, bist gut, sehr gut, hast ihn gerettet, oh, ich will dir tausendmal die Hände küssen, aber rufe ihn heraus, rufe ihn heraus, ich will ihn sehen, ich muss ihn sehen.«

»Schweig, törichtes Weib! Schreie mir etwa die Schläfer wach! Morgen ist auch noch ein Tag, alte Nachteule! Gleich in deine Ispa! Marsch fort oder ich haue dich! Hier schläft er ja gar nicht, der Nikolay, du Hexendrache!«

»Hier nicht und wo denn? Um deines, um seines Lebens Willen, wo denn, Mann?«, rief mit unterdrücktem Angstgeschrei die Alte, und alle Fiebern spannten sich. Sie raffte die Lampe vom Boden auf, ihr graues Haar umflog sie, ihre Augen rollten.

»Dort!«, flüsterte der Haushofmeister und deutete zur Tür jenes Vorgemaches ganz am Ende des Ganges.

»Dort!«, wollte die Alte aufkreischen, aber der Haushofmeister schlug ihr die rechte Hand auf den Mund, krallte ihr mit der linken an die Gurgel und flüsterte: »Satansweib, gib nur noch einen Laut von dir und ich erwürge dich auf der Stelle.«

Mataphka schüttelte sich mächtig. Der Haushofmeister ließ ab von ihr, doch sie sank vor ihm zusammen. Fast fürchtete Theophiliy, er habe sie schon erwürgt.

Sie begann aber zu wimmern: »Hab Erbarmen! Ruf ihn heraus … heraus … er ist des Todes drinnen, des sicheren Todes!« Dabei schleppte sich die Alte in keuchender Angst auf den Knien näher hin zu jener Tür, immer näher hin.

Den Haushofmeister überlief es kalt. Er wollte gern Lärm und Unruhe verhüten, die Alte begütigen und zugleich auch wieder auf seinen Wächterposten zurück, denn ihm graute vor den Schrecken dieser Nacht.

Er hoffte mit begütigenden Worten besser als mit heftigen auf die Alte, welche halb wahnsinnig schien, einwirken zu können, und flüsterte: »Wenn du dich ganz still verhalten willst, so will ich dich mit hereinnehmen, dass du ihm nahe bist. Rufen kann ich ihn nicht, denn er ruht im Gemach seines Herrn. Was kann ihm da widerfahren? Die Kerzen brennen hell, beide sind bewaffnet.«

»Oh! Oh! Oh!«, wimmerte leise die Alte. »setz ihnen eiserne Schlafhauben auf, hörst du, guter Theophiliy! O, nur einen rette! Rette Nikolay!«

Redet das Weib im Fieber oder schwatzt die Hölle aus ihr?, fragte sich Theophil, dem das Gebaren der Alten jetzt mächtig aufzufallen begann. Wenn sie doch beim Teufel wäre, statt hier, zu dem alle solche Hexen gehören!

Während dies alles auf dem Gang vorging, waren Basiliy und Nikolay noch wach, und der Gebieter plauderte mit dem Diener.

»Ich konnte heute deinetwegen noch nicht mit meinem Herrn Vater reden, Nikolay, morgen aber soll es geschehen. Er wird dich mir gewiss schenken, wenn ich um dich bitte, dann kannst du deiner alten Mutter dich zu erkennen geben, und die Dienerschaft soll ein Fest haben, wobei sie meine Heimkehr und deine Wiederauferstehung von den Toten zugleich feiern kann.«

»Euer Hochwohlgeboren sind sehr gnädig!«, erwiderte Nikolay, gähnte aber gleich darauf.

»Ah, du bist schläfrig Junge, verdenke es dir auch nicht … die Reise, die Mahlzeiten, schlafe immerhin. Ich wünschte, ich könnte es auch, bin aber zu aufgeregt. Bin ohne Furcht und doch auch nicht ohne Unruhe … bin gespannt, wie die Hähne meiner Pistolen … wäre doch besser, sie in Ruhe zu setzen … es könnte eine Fantasie mich ergreifen, ein böser Traum. Ich griffe in der Schlaftrunkenheit danach und erschösse am Ende dich. Habe einmal so eine Geschichte gelesen. Setze die Pistolenhähne in Ruhe, Kolynka! Hörst du nicht? Der arme Kerl schläft schon und gibt zuletzt wohl gar ein Gratiskonzert für mich – nun denn, so tun wir es selbst.«

Basiliy richtete sich im Bett empor und setzte die Hähne der Pistolen in Ruhe, einen nach dem anderen und legte sie leise wieder auf den Nachttisch. Er sah nach der Taschenuhr, die ebenfalls auf dem Nachttisch lag. Sie zeigte Mitternacht. »Nun denn, da wäre ja die Geisterstunde eigentlich schon vorüber. Oder ist es nicht so? Weiß ich doch wahrhaftig nicht, welches eigentlich die richtige Geisterstunde ist, von elf bis zwölf oder von zwölf bis ein Uhr? Meinetwegen – die Geister haben viele Zeit, tun nichts, brauchen nicht zu exerzieren, können sich ihre Mußestunden nach Belieben wählen.«

Bald nach diesem Selbstgespräch war auch Basiliy Polycarpowitsch vom Schlummer übermannt.

Leise trat Theophiliy Nikodemonow in das Vorgemach. Die Kerzen brannten alle noch, wenn auch etwas düster. Die Tür zum Zimmer des jungen Gebieters stand halb offen. Ohne das geringste Geräusch zu erregen, trat Theophiliy wieder heraus auf den Gang zu der Alten und sagte: »Es ist alles drinnen gut und ruhig. Lass mich nun auch ruhen und gehe schlafen.«

»Nein! Lass mich hinein … hinein!«, drängte Mataphka flüsternd: »Du sollst erfahren, weshalb ich hinein muss … muss … keine Minute zögere, jede Minute kann den Tod bringen.«

»Sage es und ich lasse dich ein, eher nicht, aber einen vernünftigen Grund lass mich hören!«

»Vernünftig!«, höhnte Mataphka. »Habe ich doch einmal deinen Popen sprechen hören, es stehe geschrieben in Eurem heiligen Buch: Niemand lasse sich betrügen mit vernünftigen Reden! Höre zu!«

Leise und hastig flüsterte die Alte auf dem Gang. Mit bangem, immer starkem Klopfen des Herzens lauschte Theophil.

Leise tickte im Schlafzimmer Basiliys Taschenuhr, nichts war sonst darin noch hörbar als die Atemzüge der Schlummernden.

Aber nun regte sich etwas unter dem Boden des auf den kurzen Löwenfüßen stehenden Schrankes, aber es regte sich unhörbar.

Unter dem Schrank hervor glitt eine dunkle Unform; rasch wie eine Maus, schwarz wie ein Schatten. Nun stand es, als lausche es, nun glitt es wieder über den gebohnerten Boden des Zimmers, rasch, unhörbar, wie die Wasserspinne über die Spiegel unbewegter glatter Flut gleitet, dann hielt es wieder.

Dem Bett näherte es, darinnen Basiliy ruht. Husch ist es an dem vorderen Pfosten zu Häupten hinan … still … wieder ein Husch … über die Kopfkissen glitt es nun.

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