John Sinclair Classics Band 50
Jason Dark (Helmut Rellergerd)
John Sinclair Classics
Band 50
Die Rache des Kreuzritters
Grusel, Heftroman, Bastei, Köln, 30.07.2019, 66 Seiten, 1,90 Euro, Titelbild: Ballestar
Dieser Roman erschien erstmals am 25.10.1977 als Gespenster-Krimi Band 215.
Kurzinhalt:
Ein romantischer Burgurlaub soll es für die beiden befreundeten Pärchen werden. Doch schon die Anfahrt im strömenden Regen durch das Waldgebiet wird zum Abenteuer. Ob sie die richtige Abzweigung verpasst haben? Der Weg wird immer schmaler … Da taucht plötzlich ein Reiter in Ritterrüstung zwischen den Bäumen auf. Noch sind die vier überzeugt, dass er zur Inszenierung der Burg gehört.
Doch in der nächsten Sekunde schwingt der Ritter sein Schwert, und unter dem Helm wird ein Totenschädel sichtbar …
Leseprobe
»Also, ich an Ihrer Stelle würde meine Ferien nicht in dieser Burg verbringen«, sagte der Wirt mit warnender Stimme und stellte dabei die beiden Weinpokale auf den runden Holztisch.
Paulette Plura lächelte. »Und warum nicht?«, fragte sie.
Der Wirt krauste die Stirn. Er blieb neben dem Tisch stehen, sah sich um, ob auch niemand zuhörte, und erwiderte dann flüsternd: »Auf Burg Rochas spukt es.«
»Davon haben wir gehört«, meinte Paulette.
»Dann wissen Sie ja, dass der Kreuzritter umgeht.«
»Ist doch alles Quatsch, was die Leute erzählen.« Zum ersten Mal mischte sich Michael Kramer in das Gespräch ein. Kramer war Paulettes Freund. Sie lebten schon einige Zeit zusammen, ohne sich jedoch entschließen zu können, zum Traualtar zu gehen. »Kreuzritter, Spuk, Geister, wenn ich das schon höre! Wir werden auf der Burg einige Urlaubstage verbringen und uns prächtig erholen. Außerdem treffen wir uns hier noch mit Freunden. Und zu viert werden wir gegen den komischen Kreuzritter doch wohl ankommen. Oder meinen Sie nicht?«
Der Wirt hob nur die Schultern. Sein Gesicht hatte sich verschlossen. Schweigend machte er kehrt und ging zum Tresen zurück.
Draußen lachte ein strahlender Junitag. Die Sonne hatte einen Strahlenkranz über die bewaldeten Berge der Vogesen gelegt. Dazu kam der azurblaue Himmel, den kein Wölkchen trübte, und eine Luft, die wie Seide »schmeckte«.
Paulette Plura und Michael Kramer waren Studenten. Sie studierte Innenarchitektur, er Anglistik. Paulette wollte später mal in die Werbung oder bei einer Zeitschrift als Redakteurin
anfangen. Aber so genau hatte sie sich noch nicht festgelegt. Sie war überhaupt sehr sprunghaft. Heute himmelhoch jauchzend – morgen wieder zu Tode betrübt. Total unausgeglichen, fühlte sich oft gestresst und hoffte nun, zusammen mit ihrem Freund einen ruhigen Urlaub zu verbringen.
Paulette warf einen Blick auf die Uhr.
»Wenn die anderen doch endlich kämen«, sagte sie.
»Wir waren für fünfzehn Uhr verabredet. Vergiss das nicht«, erwiderte Michael Kramer und nahm einen Schluck von dem Gewürztraminer. Dabei verdrehte er die Augen und ließ den Wein über die Zunge rinnen. »Herrlich. Ein Göttertrank.«
Paulette lächelte nur. Sie hatte im Augenblick andere Sorgen. Ihr Kopftuch saß nicht. Sie hielt sich einen Spiegel vors Gesicht und begann, das helle Tuch mit den blauen Punkten zurechtzuzupfen.
Paulette Plura war keine Schönheit im landläufigen Sinne. Sie war überdurchschnittlich groß, hatte lange Beine und ein schmales, ziemlich blasses Gesicht. Das Haar trug sie sehr kurz geschnitten, was bewirkte, dass ihr Gesicht noch länger erschien. Sie war sechsundzwanzig Jahre alt und stand kurz vor dem Ende ihres Studiums.
»Du trinkst ja gar nichts«, meinte Michael.
»Keinen Durst.«
Der junge Mann sah seine Freundin skeptisch an. »So plötzlich? Vorhin hättest du noch die ganze Kneipe leertrinken können … willst du was anderes?«
»Nein.«
»Okay, Prinzessin.«
»Blödmann.« Demonstrativ blickte Paulette aus dem Fenster. Die Fenster des Gasthauses waren unterteilt. Jeweils vier Butzenscheiben bildeten ein großes Rechteck. Sie passten zu dem alten Haus, das schon unter Denkmalschutz stand.
Hier schien der Gast förmlich mit der Geschichte zu leben. Die alten Bilder an den Wänden, die dicken Holzbänke und Tische. Die Balken, rußgeschwärzt und wurmstichig, die die Decke stützten. Der alte Kanonenofen in der Ecke und der Tresen, auf dem schmiedeeiserne Lampen standen und am Abend ihr warmes gelbes Licht verbreiteten.
Paulette Plura und Michael Kramer waren die einzigen Gäste. Der Wirt hatte sich hinter die Theke zurückgezogen und las in einer Zeitung.
Es war sehr still geworden. Auch von draußen war kaum ein Geräusch zu vernehmen. Das Wirtshaus lag in einer schmalen Seitenstraße, etwas versetzt, und war von zwei mächtigen Platanen flankiert. Das grüne Blattwerk filterte das Sonnenlicht und schuf wohltuenden Schatten. Zwei Bänke standen unter den Bäumen. Sie luden zum Sitzen und Träumen ein.
Dieses Stückchen Erde war wirklich noch die so oft zitierte heile Welt. Die moderne Zeit war zwar nicht spurlos vorübergegangen, doch sie hatte den kleinen Ort auch nicht verschlungen. Fünfzehn Kilometer waren es bis zur deutschen Grenze, etwa noch mal so viel bis nach Straßburg, der historischen Stadt am Rhein.
Michael Kramer hatte sein Glas geleert.
»Ich werde noch einen Pokal trinken«, sagte er. »Dieser Gewürztraminer ist wirklich eine Köstlichkeit.«
Der junge Mann wirkte richtig gelöst. Er hatte den Stress hinter sich gelassen. Auch sein Studium ging in die letzte entscheidende Phase, aber verrückt machte sich Michael deswegen nicht.
Er freute sich auf den Urlaub. Es war eigentlich der Erste, den er mit Paulette verbrachte. Aber er war skeptisch, ob sie durchhielt. Paulette war verwöhnt. Und die alte Burg ohne jeglichen Komfort.
Die Zeit verrann. Es wurde sechzehn Uhr, und die beiden anderen waren immer noch nicht da.
Paulette Plura und Michael Kramer waren auf die Freunde angewiesen. Denn sie hatten keinen Wagen. Michaels VW lief nicht mehr. Er hatte einen Tag vor dem Urlaub seinen Geist aufgegeben. Darüber war Paulette auch sauer. Es war ihr jedoch nichts anderes übrig geblieben, als sich in die Bahn und den Bus zu setzen, und sich so zum Treffpunkt fahren zu lassen.
Paulette wurde immer ungeduldiger, während Michael auf ihre Fragen und Bemerkungen nur mit einem Schulterzucken reagierte.
Der Wirt war verschwunden. Er rumorte irgendwo in der Küche herum. Hin und wieder hörte man ihn mit einer Frau sprechen.
Es kamen keine weiteren Gäste. Michael fragte sich, wie der Wirt hier klarkam, wenn er alle Jubeljahre mal etwas verkaufen konnte.
Paulette Plura zündete sich eine Zigarette an.
»Also, wenn die beiden nicht bald kommen, dann können sie mir gestohlen bleiben. Dann fahre ich wieder zurück. Ich gebe ihnen noch eine halbe Stunde.«
»Vielleicht ist etwas dazwischengekommen«, vermutete Michael.
»Sie hätten anrufen können.« Paulette ging zur Tür, zog sie auf und schaute nach draußen.
Michael blieb sitzen. Er hatte einfach keine Lust, aufzustehen.
Paulette Plura betrat den kleinen Vorplatz. Neben einer der Bänke blieb sie stehen und strich spielerisch mit dem Finger über das Holz.
Sie langweilte sich bereits jetzt. Desinteressiert schaute sie einigen Hühnern zu, die auf dem Boden nach Nahrung suchten.
Paulette ging weiter. Im Dunst der Hitze sah sie die fernen Berge der Vogesen verschwimmen. Die Burg war nicht zu sehen.
Paulette umrundete das Haus und gelangte in einen kleinen Garten. Ein schmaler Weg durchschnitt ihn. Der Wirt hatte Obst und Gemüse angebaut. Kirschen und Erdbeeren waren schon geerntet. Das Gasthaus war so ziemlich das letzte im Dorf. Hinter dem Haus begannen die sanft ansteigenden Hügel der Weinberge.
Der schmale Weg machte einen Knick und endete auf einer Wiese. Das Gras stand ziemlich hoch. Es hätte mal geschnitten werden müssen.
Paulette fiel der alte, baufällig wirkende Stall ins Auge, dessen Tür halb offen stand und schief in den Angeln hing.
Sie ging auf den Stall zu.
Plötzlich hatte sie ein beklemmendes Gefühl. Es war irgendeine Ahnung, die sie überfiel. Fast körperlich spürte sie das Unbehagen.
Paulette Plura näherte sich dem Stall. Einige Fliegen umsummten sie, Paulette verscheuchte sie mit einer heftigen Handbewegung.
Dann stand sie vor der Tür. Nur ein schmaler Lichtstreifen fiel in den Stall, der vom Dämmerlicht erfüllt wurde.
Paulette versuchte die Tür etwas aufzuziehen, doch sie klemmte, hing mit der Unterseite am Boden fest.
Paulette Plura trat noch einen Schritt vor und peilte in das Innere des Stalles.
Sie wusste selbst nicht, was sie dazu trieb, einfach hier herumzuschnüffeln. Es war sonst nicht ihre Art, aber jetzt …
Paulette schob sich durch den schmalen Eingang. Ihre Augen stellten sich auf die herrschenden Lichtverhältnisse ein, machten Umrisse aus, erkannten Gegenstände.
Plötzlich hatte Paulette Plura das Gefühl, einen Stromstoß zu bekommen, der sie von Kopf bis zum Fuß lähmte.
Was sie sah, was sich ihren Augen bot, war entsetzlich, grauenhaft, unfassbar.
Auf dem Boden des Stalles lag eine Frau. Sie war tot.
Jemand hatte ihr mit einem Schwertstreich das Leben genommen!
Urplötzlich kam der Schock!
Paulette Plura öffnete den Mund und stieß einen gellenden Schrei aus. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, die Fingernägel drangen in das Fleisch.
Paulette schrie und schrie …
Michael Kramer kam soeben von der Toilette, als er den Schrei vernahm.
Paulette! Das konnte nur Paulette sein.
Mit Riesenschritten hetzte der junge Mann durch den Gastraum, riss die Tür auf und stürmte nach draußen. Dort stoppte er. Hastig sah er sich um.
Der Schrei war verstummt. Michael konnte nicht genau sagen, aus welcher Richtung er gekommen war. Wenn ihn seine Ahnung jedoch nicht täuschte, dann war er hinter dem Haus aufgeklungen. Hier auf dem Platz konnte er von Paulette wenigstens keine Spur entdecken.
Da kam Paulette schon angerannt. Sie lief durch den Garten, das Kopftuch löste sich und flatterte zu Boden. Paulettes Gesicht war eine Grimasse aus Entsetzen und Angst. Schreiend und weinend warf sie sich Michael entgegen.
Der Student fing seine Freundin auf.
Paulette barg schluchzend den Kopf an seiner Schulter. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf, während Michael ihr beruhigend den Rücken streichelte.
»Ist ja alles gut«, murmelte er. »Komm, du brauchst keine Angst zu haben. Was ist überhaupt geschehen? Warum weinst du?«
»Die … die Tote«, flüsterte Paulette unter Tränen. »Im Schuppen. Ich … ich habe sie gesehen. Es war so schrecklich, Micha!«
Abermals wurde Paulette von einem Weinkrampf geschüttelt.
Michael Kramer drückte seine Freundin an sich.
»So«, sagte er, »jetzt putz dir erst einmal die Nase.« Dabei holte er ein Taschentuch hervor. »Und dann werden wir gemeinsam zu diesem Schuppen gehen, wo du angeblich die Leiche gesehen hast.«
Paulette schüttelte den Kopf. »Da gehe ich nicht hin!« Sie nahm das Taschentuch, schnäuzte sich die Nase und tupfte auch die Tränen aus den Augenwinkeln.
Michael legte sanft seinen Arm um Paulettes Schultern und zog das Mädchen mit. Paulette ließ es willenlos geschehen. Sie hielt den Kopf gesenkt, noch immer liefen glitzernde Tränen aus ihren Augen.
Michael empfand die Worte seiner Freundin als baren Unsinn. Sicher, vielleicht hatte sie irgendetwas gesehen – aber eine Tote? Unmöglich. Nicht hier, nicht in diesem kleinen idyllischen Ort mitten im Elsass.
Nein, die überreizten Nerven mussten dem Mädchen einen Streich gespielt haben! Eine andere Erklärung gab es für Michael Kramer einfach nicht.
Sie gingen um das Haus herum und betraten den Garten. Paulette Plura zögerte, sie wollte auf einmal nicht mehr weitergehen.
»Ich bleibe hier«, erklärte sie.
Michael Kramer blieb ebenfalls stehen. »Komm, nun stell dich nicht so an!«
Starrsinnig schüttelte Paulette den Kopf. Sie presste dabei die Lippen zusammen, und in ihren Augen nistete die Angst.
Michael Kramer war nicht blind. Er bemerkte den Zustand seiner Freundin und gab nach.
»Okay, dann gehe ich allein.« Er machte ziemlich große Schritte, aber je näher er der Hütte kam, umso langsamer ging er. Er hatte plötzlich den Verdacht, dass seine Freundin doch nicht gesponnen und dass sie tatsächlich eine Leiche gesehen hatte.
Quatsch!, sagte sich Michael Kramer und ging weiter.
Dann stand er vor der Tür.
Paulette Plura hatte sie – als sie nach draußen gerannt war – in ihrer Panik ganz auf gestoßen. Ungehindert konnte Michael Kramer in den Schuppen hineinblicken.
Der Student stand auf der Türschwelle, starrte in den Schuppen …
Er war leer!
Personen
- Jean Muller, Wirt
- Pauletta Plura, Studentin für Innenarchitektur
- Michael Kramer, Student für Anglistik, Paulettas Freund
- Rainer Schröder, Sonnyboy, Schriftsteller
- Irene Held, junge Lehrerin, Rainers Freundin
- Alexander von Rochas, Kreuzritter, Spukgestalt
- Will Mallmann, Kommissar beim BKA, Junggeselle
- Fritz Tennart, Wiener, Will Mallmanns Arbeitskollege (Fritz Tenkrat?)
- Kellnerin
- Sheila Conolly, Bills Frau
- John Sinclair, Oberinspektor bei Scotland Yard
Orte:
- Burg Rochas
- Wiesbaden
- London
Quellen:
- Jason Dark: John Sinclair Classics. Geisterjäger John Sinclair. Band 50. Bastei Verlag. Köln. 30.07.2019
- Thomas König: Geisterwaldkatalog. Band 1. BoD. Norderstedt. Mai 2000
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