Elbsagen 93
Elbsagen
Die schönsten Sagen von der Elbe und den anliegenden Landschaften und Städten
Für die Jugend ausgewählt von Prof. Dr. Oskar Ebermann
Verlag Hegel & Schade, Leipzig
96. Die Eiche am Elbufer
Nicht weit von Glückstadt steht unter dem Deich, wo sonst nur Weiden stehen, eine schöne große Eiche, wohl weit herum die einzige in der ganzen Marsch. Vor vielen Jahren stand hier nur ein Busch. Ein paar Tagelöhner ruhten sich einmal an einem heißen Tage dahinter aus, als sie an der anderen Seite einen Handelsmann, der sich auch da niedergesetzt hatte, mit seinem Gelde klimpern hörten. Da erwachte der böse Geist in ihnen und sie fielen über den armen Mann her, erschlugen ihn, nahmen ihm sein weniges Geld und warfen seinen Packen in die Elbe. Den Leichnam verscharrten sie unter dem Busch. Aber als sie noch mitten im Werke waren, war eine Schar wilder Enten schreiend über sie hingeflogen. Sterbend hatte der Unglückliche ihr Geräusch gehört und, seine Hand zum Himmel erhebend, sie zum Zeugen der Tat angerufen.
Viele Jahre blieb der Mord unentdeckt, aber an der Stelle wuchs seit der Zeit blutrotes Kraut wie sonst nirgends in der Gegend. Man nannte sie daher nur den roten Fleck. Abends, wenn die Jungen die Pferde von dem Außendeich holten, mussten sie immer schnell daran vorüberjagen und die Pferde mit Gewalt dazu zwingen; denn sie wieherten und bäumten sich und scharrten mit den Hufen, wie sie immer an Stellen tun, wo unschuldiges Blut vergossen wurde. Der eine Mörder hatte sich unterdessen verheiratet, der andere diente noch als Knecht auf einem Hof. Beide waren alt und grau geworden und wurden von allen als brave und tüchtige Leute geachtet. Da begab es sich einst, dass an einem Abend jener mit seiner Frau am Deich spazieren ging und sie unvermerkt in die Nähe des roten Flecks kamen. In demselben Augenblick kam der Knecht über den Deich, um ein Pferd zu holen. Wie er am Busch vorüberstreifte, flatterten schreiend einige Enten auf. Beide Männer fuhren vor Schreck zusammen, sahen starr einander an und gingen aneinander vorüber, ohne ein Wort zu sagen. Während der Knecht das Pferd suchte und der Mann mit seiner Frau noch eine Strecke weiterging, ließen sich die Enten wieder nieder und flogen nun abermals auf, als beide sich noch einmal in der Nähe des Busches begegneten. Wenn der Frau beider Benehmen schon anfangs wunderlich vorgekommen war, so verwunderte sie sich nun noch mehr, als sie beide bleich und zitternd sah und fluchen hörte. Doch wich ihr Mann all ihren Fragen aus. Aber seit dem Abend war sein ganzes Wesen verändert, still und schwermütig ging er umher und mied jede Gesellschaft. Die Frau klagte es endlich der Nachbarin, erzählte ihr alles, was sie gesehen hatte, und fragte sie um Rat, weil sie um die Gesundheit ihres Mannes besorgt war. Der Nachbarin aber stiegen gleich böse Vermutungen auf. Ohne ein Wort zu sagen, ging sie fort und hinterbrachte alles ihrem Mann. Der ging sofort zum Bauernvogt. Als man nun auf der Stelle bei dem Busch grub, fand man das Gerippe des Ermordeten. Die beiden Männer wurden festgenommen. Von Gewissensbissen gepeinigt gestanden sie die Tat, die sie vor vierzig Jahren vollbracht hatten. In Reue und Ergebung erlitten sie bald in Glückstadt ihre Strafe. Zum Gedächtnis pflanzte man jene Eiche.
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