Der Hexer GK 575
Robert Craven (Wolfgang Hohlbein)
Der Hexer
Die Hexe von Salem
Horror, Grusel, Heftroman, Bastei, Bergisch-Gladbach, 18. September 1984, 64 Seiten, 1,60 DM, Titelbild: Manfred Everts
Erschienen als Gespenster-Krimi Nr. 575
Sie hatten ihm das Kostbarste geraubt, was er besaß: Sein Leben. Und sie glaubten, dass sie sich seiner für immer entledigt hatten. Aber sie irrten sich. Denn er kam wieder und nahm schreckliche Rache …
Leseprobe
Andrew blieb stehen, sah sich einen Moment gehetzt um und atmete ein paarmal tief durch. Die kalte Luft schmerzte in seiner Kehle, und auf seiner Zunge breitete sich ein übler Geschmack aus. Sein Herz jagte.
Die Straße war noch immer leer. Er hatte fast zwanzig Schritte Vorsprung gehabt, als sich die Burschen von ihrer Überraschung erholt und drei von ihnen zur Verfolgung angesetzt hatten; der vierte war vermutlich immer noch damit beschäftigt, Zähne zu spucken und sich auf dem Straßenpflaster zu krümmen. Aber zwanzig Schritte waren ein Nichts. Die Gegend, in die er sich verirrt hatte, war eine der weniger vornehmen Londons. Genauer gesagt, dachte Andrew düster, war es eines jener Viertel, das man nach Dunkelwerden besser mied. Aber er hatte ja nicht hören können, verdammter Narr, der er war.
Verdammt, wenn es den Burschen nur um sein Geld gegangen wäre! Die lumpigen dreiundzwanzig Pfund, die sich im Augenblick in seiner Brieftasche befanden, hätte er ihnen gerne überlassen. Aber irgendetwas in ihrem Blick, etwas, das er in ihren Gesichtern gelesen hatte, als sie urplötzlich aus den Schatten auftauchten und ihn umringten, hatte ihm gesagt, dass sie mehr wollten. Sicher, das Geld auch, aber nicht nur. Die vier wollten Blut sehen. Es waren genau die Typen, vor denen ihn Dingman gewarnt hatte: Verrückte, die einen Menschen nur so zum Zeitvertreib zusammenschlugen. Und vielleicht töteten.
Ein leises Kollern drang in seine Gedanken. Das Geräusch riss ihn abrupt in die Wirklichkeit zurück. Andrew fuhr herum und starrte aus misstrauisch zusammengepressten Augen in die Dunkelheit zurück. Die Straße lag leer und einsam vor ihm; es fiel ihm beinahe schwer, zu glauben, dass er sich wirklich in der größten Stadt der britischen Inseln befand; einer Stadt mit mehr als einer Million Einwohner und hellen, lichterfüllten Straßen, in denen das Leben auch während der Nacht nicht aufhörte zu pulsieren. Aber dies war ein anderes London, eines, dessen Gesicht ein Außenstehender selten zu sehen bekam.
Und er wusste jetzt auch, warum.
Andrew drehte sich einmal um seine Achse, schluckte den bitteren Knoten, der sich in seiner Kehle gebildet hatte, herunter, und ging mit erzwungen langsamen Schritten weiter. Irgendwo vor ihm war Licht, aber es war nur eine Straßenlaterne, die mit ihrem Schein eine Insel trübgelber Helligkeit in der Nacht schuf. Er war mindestens eine Meile von den belebteren Gegenden der Stadt entfernt. Zu weit.
Wieder hörte er dieses leise, kollernde Geräusch. Ein eisiger Schauder jagte seinen Rücken hinab. Eine neue, körperlose Angst kroch in sein Bewusstsein. Für einen Moment wünschte er sich fast, die Schatten seiner Verfolger hinter der nächsten Straßenecke auftauchen zu sehen.
Er ging weiter, erreichte eine Straßenkreuzung und blieb einen Moment lang unschlüssig stehen. Zwei Schritte neben ihm blockierte ein halb mannshoher Stapel überquellender Abfalltonnen, Kisten und vom Regen halb aufgeweichter Kartons den Weg. Links und rechts erstreckte sich die Straße leer und schwarz wie eine Schlucht, weiter geradeaus gab es ein paar Laternen, und – er war nicht sicher, aber er glaubte es wenigstens – hinter den geschlossenen Läden eines Hauses schien gelbes Gaslicht zu leuchten. Vielleicht fand er dort Hilfe.
Andrew zögerte einen Moment, trat dann an den Abfallhaufen heran und riss mit einer entschlossenen Bewegung ein loses Brett von einer Kiste. Gegen die Klappmesser der drei Burschen eine jämmerliche Waffe. Aber wenigstens würde er nicht mehr mit leeren Händen dastehen, wenn er sich verteidigen musste.
Der Mann stand wie aus dem Boden gewachsen hinter ihm, als er sich herumdrehte.
Es war einer der drei, die ihn verfolgt hatten – und er hatte aus dem Schicksal seines Kumpanen gelernt. Das Springmesser in seiner Hand zuckte wie eine angreifende Schlange vor. Andrew drehte sich mit einer verzweifelten Bewegung zur Seite, konnte dem Hieb aber nicht mehr ganz ausweichen. Die scharfe Klinge zerschnitt seine Weste und das Hemd, ritzte seine Haut und hinterließ einen langen, blutigen Kratzer auf seinem Leib. Andrew schrie vor Schmerz und Überraschung auf, strauchelte und verlor auf dem schlüpfrigen Boden das Gleichgewicht. Er fiel, versuchte sich zur Seite zu rollen und gleichzeitig mit seiner Latte nach dem Angreifer zu schlagen, aber der Bursche war viel zu schnell für ihn.
Mit einer raschen Bewegung wich er dem Hieb aus, sprang gleich darauf wieder vor und trat ihm das Kistenbrett aus der Hand. Andrew wurde abermals zurückgeschleudert. Sein Hinterkopf prallte gegen etwas Hartes, und für einen Moment drohte er das Bewusstsein zu verlieren.
Als sich die schwarzen Schleier vor seinen Augen lichteten, stand der Bursche breitbeinig über ihm. Das Messer in seiner Hand blitzte im schwachen Widerschein der Gaslaterne, und auf seinem Gesicht lag ein hässliches Grinsen.
»So, du Dreckskerl«, sagte er. Seine Stimme bebte vor Wut. »Jetzt machen wir dich fertig.«
Andrew versuchte sich aufzurichten, wurde aber sofort zurückgestoßen. »Was … was wollen Sie von mir?« fragte er.
Der Bursche lachte hässlich. »Was ich von dir will? Nichts. Aber ich glaube, Freddy hat ein paar Wörtchen mit dir zu reden.«
Freddy musste der sein, den er niedergeschlagen hatte, dachte Andrew. Innerlich verfluchte er sich selbst. Verdammt, warum hatte er ihnen nicht seine Brieftasche gegeben und stillgehalten? Wahrscheinlich hätten sie ihn verprügelt und dann liegengelassen.
Jetzt würden sie ihn umbringen.
»Ich … ich habe Geld«, sagte er stockend. Seine Zunge huschte wie ein kleines nervöses Wesen über seine Lippen. Verzweifelt sah er sich nach einem Fluchtweg um. Aber es gab keinen. Und der Bursche war gewarnt und würde sich kein zweites Mal überrumpeln lassen. Andrew zweifelte keine Sekunde daran, dass er sein Messer zwischen den Rippen spüren würde, wenn er auch nur versuchte, aufzustehen.
»Geld?« wiederholte der Bursche. In seinen Augen blitzte es gierig auf.
Andrew nickte, griff in seine Brusttasche und zog seine Geldbörse hervor. Der Bursche riss sie ihm aus der Hand und steckte sie ein, ohne auch nur hineinzusehen. Das Lächeln auf seinen Zügen wurde breiter.
»Aber das nutzt dir auch nichts, Kleiner«, sagte er böse.
»Ich … ich habe noch mehr«, stammelte Andrew. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Sein Herz hämmerte, als wolle es zerspringen. »Im Hotel. Ich …«
»Sinnlos, Kleiner«, sagte der Bursche. »Gleich ist Freddy hier, und ich glaube, der will was ganz anderes von dir als Geld. Du –«
Er sprach den Satz nicht zu Ende.
Wie aus dem Boden gewachsen erschien eine schwarze, breitschultrige Gestalt hinter ihm. Etwas Dunkles, Schweres zischte durch die Luft, traf den Hinterkopf des Straßenräubers und ließ ihn mit einem erstickten Keuchen nach vorne kippen. Es ging alles so schnell, dass Andrew gar nicht richtig mitbekam, was überhaupt geschah.
Eine harte, schwielige Hand zerrte ihn auf die Füße. »Schnell«, sagte eine Stimme. »Wir müssen weg hier, ehe die anderen da sind.«
Verwirrt stolperte Andrew hinter seinem Retter her. Das Gesicht des Mannes war hinter einem tief in die Stirn gezogenen Hut verborgen, und das Schwarz seiner Kleidung schien selbst das bisschen Licht, das die Straße in ein Durcheinander von Grautönen und Schatten tauchte, aufzusaugen. Aber als er ihn hochgezogen hatte, hatte er gespürt, wie stark er war.
Am Ende der Straße stand eine zweispännige Kutsche. Sein Retter deutete stumm auf die offenstehende Tür, schwang sich ohne einen weiteren Laut auf den Bock und griff nach seiner Peitsche. Andrew griff mit zitternden Fingern nach der Tür, zog sich mit einer letzten Kraftanstrengung hoch und warf sich gebückt in das Fahrzeug.
Die Kutsche fuhr los, noch ehe er die Tür vollends hinter sich zugezogen hatte.
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