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Deutsche Märchen und Sagen 104

Johannes Wilhelm Wolf
Deutsche Märchen und Sagen
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1845

138. Der Spielmann zu Sankt Gallen

Auf einer großen Versammlung der Schweizer Kantone in Baden sollten an einem gewissen Tag die Abgeordneten der dreizehn eidgenössischen Orte in dem Herrenhof prächtig bewirtet werden. N. Steuchler, ein Spielmann zu St. Gallen, kam an demselben Tag in Sankt Gallen auf die Brücke am Multertor. Da fand er nebst mehreren Bürgern auch den hochberühmten Theophrastus Paracelsus auf einer Bank sitzen und redete ihn folgendermaßen an: »Nun werden die Herren Gesandten sich zu Baden im Herrenhof lustig machen, denn ich habe gehört, sie halten heute allda eine prächtige Mahlzeit. Wäre ich nun da, ich könnte mir mit meinem Spiel einen schönen Stüber verdienen.«

Darauf sprach Paracelsus: »Habt Ihr Lust, ein gutes Trinkgeld da zu gewinnen, dann geht und zieht andere Kleider an, nehmt Eure Flöte und kommt wieder her. Ich will Euch ein Pferd besorgen, auf dem ihr binnen einer halben Stunde in Baden seid.«

»Herr Theophrastus«, antwortete Steuchler, »ich weiß, dass Ihr mehr versteht denn andere Leute; ich will denn gehen und tun, wie Ihr gesagt habt.« Er ging flugs nach Hause, kleidete sich um und kam bald zurück an das Multertor, wo ihn Paracelsus erwartete.

»Geh nun«, sprach dieser zu ihm, »zu der Spießhütte, da findest du ein weißes Pferd gesattelt. Setze dich darauf und reite damit hin, aber sieh wohl zu, dass du nicht sprichst, ehe du wieder abgesessen bist, dann siehst du binnen einer halben Stunde Baden.«

Steuchler bedankte sich, ging zu der Spießhütte und fand das Pferd wirklich dort, band es los, setzte sich darauf und fuhr durch die Luft hin, kam auch in einer halben Stunde zu Baden an, welches doch sechzehn tüchtige Stunden von Sankt Gallen entlegen ist.

Gleich am Schloss ließ das Pferd sich nieder, er sprang ab und es verschwand. Zur Stunde begab er sich in den Herrenhof und spielte vor dem Gesandten von Sankt Gallen sehr künstlich auf seiner Flöte.

Als der Gesandte ihn sah, fragte er ihn barsch: »Welcher Teufel hat dich denn hierher getragen?«

Steuchler antwortete: »Ja Herr, ja Herr; der lebendige Teufel und kein anderer Heiliger.« Er erzählte alles, was ihm begegnet war, fügte aber hinzu: »Gott behüte und bewahre mich, dass ich nie wieder ein solches Pferd besteige.«

Der Gesandte merkte die Zeit an, wo er Steuchler in Baden gesehen hatte und fragte später in Sankt Gallen, wenn er noch da gesehen worden war, befand dann auch just, dass derselbe nicht mehr und nicht minder Zeit zu der Fahrt gebraucht hatte, denn eine halbe Stunde.

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