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Elbsagen 90

Elbsagen
Die schönsten Sagen von der Elbe und den anliegenden Landschaften und Städten
Für die Jugend ausgewählt von Prof. Dr. Oskar Ebermann
Verlag Hegel & Schade, Leipzig

92. Die verwünschte Linde bei Harvestehude

Auf dem Feld links an der Chaussee von Rotherbaum nach Eppendorf steht ein kleiner kugelrunder Lindenbaum, der seit Jahren nicht größer geworden, sondern an Dicke des Stammes, der Äste und Krone gerade so geblieben ist, wie er damals war, nur dass man der Rinde das hohe Alter des Baumes wohl ansehen kamt. Der Baum ist verwünscht, und das ging der Sage nach so zu.

Im Kloster Frauental zu Harvestehude hatte ein junges, schönes Mädchen von vornehmem Geschlecht zu Hamburg aus Liebesgram den Schleier genommen. Sie hatte sich mit einem jungen Edelknappen der Umgegend verlobt, der war zu Heerfahrten in die Welt gezogen, um zu versuchen, sich die goldenen Sporen zu verdienen, mit Ehre und guter Beute dann zurückzukehren und sie auf seine väterliche Burg heimzuführen als sein ehelicher Gemahl. Die Zeit war aber längst um gewesen und der Geliebte nicht gekommen. Darum wollte sie ihr Vater des Versprechens ledig achten und sie zwingen, einen anderen Mann zu heiraten. Da sie den aber nicht leiden konnte, sie auch noch immer in treuer Liebe ihrem fernen, vielleicht längst verstorbenen Geliebten anhing, so wusste sie sich nicht anders zu helfen, als dass sie ins Kloster ging.

Einige Zeit danach aber kehrte der junge Ritter heim. Da er erfuhr, was geschehen war, fasste er den Plan, seine vormalige Braut, es koste, was es wolle, aus dem Kloster zu entführen und in ferne Lande mit ihr zu flüchten. Er wusste es auch anzustellen, dass sie Kundschaft von ihm empfing und dass er sie einige Male in stiller Nachtzeit im Klostergarten sprach. Da ist er allemal durch die Alster geschwommen, über die Mauer geklettert und hat sie unter den großen Eichen, die noch bei Harvestehude stehen, erwartet. So sehr nun auch der Ritter bat und so tief die arme Nonne ihr Verhängnis beklagte, so blieb sie doch ihrem Gelübde treu und verwarf sein Vorhaben, sie zu entführen. Und zuletzt sagte sie ihm feierlich für dieses Leben Lebewohl, da sie gewillt war, ihn fürder nicht wiederzusehen, und vermahnte und tröstete ihn auf den Himmel. Nach diesem schmerzlichen Abschied zog der Ritter sogleich aus dem Land und wurde geistlicher Ordensritter, hierorts aber gänzlich verschollen.

Die grünen Eichen jedoch im stillen Klostergarten haben dazumal bei den nächtlichen Unterredungen einen Verräter verborgen gehalten. Gegen die arme Nonne ist beim geistlichen Gericht eine schwere Anklage wegen unerlaubten Liebeshandels und gebrochenen Gelübdes erhoben worden. Da sie nun nicht leugnen konnte, ihren vormaligen Verlobten zu mehreren Malen dort heimlich gesprochen zu haben, sonst aber, da der Ritter fern war, keinen Beweis für ihre Unschuld bringen konnte, so hielt man die schlimme Anschuldigung für erwiesen und verurteilte sie zum Tode und zum Begräbnis auf freiem Feld in ungeweihter Erde.

Ehe sie gerichtet wurde, hat sie darum gebeten, dass ihr Leib auf dem Klosterfeld, in dem Hügel, auf dem ein junger Lindenbaum stand, begraben werde, und hatte gesagt: »Ich verwünsche den Lindenbaum, dass er niemals größer werde, als er jetzt ist, und das soll als Zeugnis gelten für meine Unschuld, denn so gewisslich er hinfort nicht mehr höher wachsen wird, so gewisslich sterbe ich, wie ich gelebt habe, als eine reine und unschuldige Braut Christi.«

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