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Die drei Musketiere – Zwanzig Jahre danach – Kapitel XII

Alexandre Dumas
Zwanzig Jahre danach
Erstes bis drittes Bändchen
Fortsetzung der drei Musketiere
Nach dem Französischen von August Zoller
Verlag der Frankh’schen Buchhandlung. Stuttgart. 1845.

XII. Monsieur Porthos du Vallon de Bracieux de Pierrefonds

Durch die Erkundigungen, welche d’Artagnan bei Aramis einzog, hatte er, bereits damit vertraut, dass sich Porthos nach seinem Familiennamen nannte, auch erfahren, dass er sich nach seinem Gutsnamen de Bracieux hieß und wegen dieses Gutes einen Prozess mit dem Bischof von Noyon führte.

Er musste also dieses Gut in der Gegend von Noyon, das heißt an der Grenze der Picardie aufsuchen.

Sein Reiseplan war bald aufgestellt. Er gedachte sich nach Damartin zu begeben, wo zwei Straßen zusammenlaufen, von denen die eine nach Soissons, die andere nach Compiègne führt. Dort wollte er sich nach dem Gut seines Freundes erkundigen und je nachdem die Antwort ausfiel, geradeaus reiten oder den Weg links einschlagen.

Planchet, welcher in Beziehung auf seinen letzten Streich noch nicht ganz auskuriert war, erklärte, er würde d’Artagnan bis an das Ende der Welt folgen, möchte dieser geradeaus reiten oder den Weg links einschlagen. Er bat nur seinen ehemaligen Herrn, abends abzureisen, insofern die Finsternis mehr Sicherheit böte. D’Artagnan schlug ihm nun vor, seine Frau hiervon in Kenntnis zu setzen, um sie wenigstens über sein Schicksal zu beruhigen. Planchet aber antwortete mit viel Klugheit, er wäre überzeugt, seine Frau würde nicht vor Unruhe sterben, wenn sie nicht wüsste, wo er sich aufhielte, während er, bekannt mit der Zungenfessellosigkeit, von der sie zuweilen befallen würde, vor Unruhe sterben müsste, wenn sie es wüsste.

Diese Gründe erschienen d’Artagnan so gut, dass er nicht ferner darauf bestand, gegen acht Uhr abends in dem Augenblick, wo der Nebel sich in den Straßen zu verdichten anfing, das Gasthaus Zur Rehziege verließ und gefolgt von Planchet sich durch die Porte Saint-Denis aus der Hauptstadt entfernte.

Um Mitternacht befanden sich die zwei Reisenden in Damartin.

Es war zu spät, um Erkundigungen einzuziehen. Der Wirt Zum Schwan vom Kreuz lag bereits im Bett. D’Artagnan verschob also die Sache auf den anderer Tag.

Am andern Tag ließ er den Wirt kommen. Es war einer von den listigen Normannen, welche weder Ja noch Nein sagen und sich immer zu kompromittieren glauben, wenn sie unmittelbar auf die Frage antworten, die man an sie richtet. D’Artagnan glaubte jedoch zu verstehen, er müsse geradeaus reiten, und begab sich auf eine ziemlich zweideutige Auskunft wieder auf den Weg. Um neun Uhr morgens war er in Nanteuil. Hier hielt er an, um zu frühstücken. Diesmal war der Wirt ein guter, offenherziger Picarde, der, in Planchet einen Landsmann erkennend, keine Schwierigkeit machte, ihm die gewünschte Auskunft zu erteilen. Das Gut Bracieux lag einige Meilen (Solange wir in Frankreich sind, verstehen wir unter Meile immer eine lieue, französische Meile, gleich einer starken Stunde. Der Uebers.) von Villers-Cotterets entfernt.

D’Artagnan kannte Villers-Cotterets, wohin er zwei- oder dreimal dem Hof gefolgt war, denn zu jener Zeit war Villers-Cotterets eine königliche Residenz. Er ritt also zu dieser Stadt zu und stieg in einem gewöhnlichen Gasthaus, das heißt Im goldenen Delfin, ab.

Hier fielen die Mitteilungen befriedigender aus. Er erfuhr, dass das Gut Bracieux vier Meilen von dieser Stadt lag, dass er aber Porthos dort nicht suchen dürfte. Porthos lag wirklich im Streit mit dem Bischof wegen des Gutes Pierrefonds, welches an das seine grenzte. Um alle diese Gerichtshändel zu beenden, von denen er nichts verstand, hatte er Pierrefonds gekauft und hier nach diesen neuen Namen seinen alten beigefügt. Er nannte sich nun du Vallon de Bracieux de Pierrefonds und wohnte auf seinem neuen Eigentum. In Ermangelung einer anderen Illustration trachtete Porthos offenbar nach der des Marquis Carabas.

Man musste abermals bis zum anderen Morgen warten. Die Pferde hatten zehn Meilen in einem Tag zurückgelegt und waren müde. Allerdings hätte man andere nehmen können, aber man musste durch einen großen Wald reiten und Planchet liebte bekanntlich die Wälder bei Nacht nicht.

Es gab noch etwas anderes, was Planchet nicht liebte: Er ritt nicht gern mit leerem Magen aus. Als d’Artagnan erwachte, fand er auch sein Frühstück völlig bereit. Über eine solche Aufmerksamkeit durfte man sich nicht beklagen. D’Artagnan setzte sich zu Tisch. Es versteht sich von selbst, dass Planchet, indem er seine alten Funktionen wieder aufnahm, auch seine alte Demut wieder annahm und sich nicht mehr schämte, die Überreste von d’Artagnan zu speisen, wie Frau von Motteville und Frau von Fargis sich schämten, wenn sie die von Anna von Österreich verzehrten.

Man konnte also erst gegen neun Uhr abreisen. Eine Täuschung war nicht möglich; man hatte der Straße zu folgen, welche von Villers-Cotterets nach Compiègne führt, und beim Austritt aus dem Wald den Weg rechts einzuschlagen.«

Es war ein schöner Frühlingsmorgen. Die Vögel sangen in den großen Bäumen, breite Sonnenstrahlen schossen durch die Lichtungen und erschienen wie Vorhänge von Goldgaze. An anderen Stellen drang das Licht kaum durch das dicke Gewölbe der Blätter und die Füße der alten Eichen, an denen bei dem Anblick der Reisenden behände Eichhörnchen rasch hinausjagten, waren in Schatten getaucht. Aus dieser ganzen Morgennatur kam ein herzerquickender Wohlgeruch von Kräutern, Blumen und Blättern hervor. Der üblen Ausdünstungen in Paris müde, sagte sich d’Artagnan: Wenn man drei aufeinander gespießte Güternamen führe, müsse man in einem solchen Paradies sehr glücklich sein. Dann schüttelte er den Kopf und sprach: »Wenn ich Porthos wäre und d’Artagnan käme zu mir und machte mir einen Vorschlag, wie ich ihn Porthos machen will, so wüsste ich wohl, was ich d’Artagnan antworten würde.«

Planchet dachte nichts, er verdaute.

Am Saum des Waldes gewahrte d’Artagnan den Weg, den man ihm bezeichnet hatte, und am Ende des Weges die Türme eines ungeheuren feudalen Schlosses.

»Oh, oh!«, murmelte er, »es scheint mir, dieses Schloss gehörte dem älteren Zweig von Orleans. Sollte Porthos mit dem Herzog von Longueville unterhandelt haben?«

»Meiner Treue, gnädiger Monsieur«, sagte Planchet, »das sind gut gebaute Grundstücke, und wenn sie Monsieur Porthos gehören, so werde ich ihm mein Kompliment machen.«

»Pest!«, rief d’Artagnan, »nenne ihn nicht Porthos, auch nicht einmal du Vallon, sondern de Bracieux oder de Pierrefonds. Meine Botschaft ist sonst verfehlt.«

Je mehr sich d’Artagnan dem Schloss näherte, das anfangs seine Blicke auf sich gezogen hatte, desto klarer war es ihm, dass sein Freund hier nicht wohnen konnte. Obwohl fest und dem Schein nach wie gestern gebaut, waren die Türme offen und gleichsam ausgeweidet; man hätte glauben sollen, ein Riese habe sie mit Hackenstreichen geschlitzt.

Am Ende des Weges angelangt, erblickte d’Artagnan ein reizendes Tal, in dessen Hintergrund man an einem niedlichen kleinen See einige zerstreute Häuser ruhen sah, welche, niedrig und teils mit Ziegeln, teils mit Stroh bedeckt, als souveränen Gebieter ein hübsches, in der Zeit von Heinrich IV. erbautes, von Wetterfahnen überragtes Schloss anzuerkennen schienen. Diesmal zweifelte d’Artagnan nicht, dass er die Wohnung von Porthos sah.

Der Weg führte zu dem hübschen Schloss, welches im Vergleich mit seinem Ahnherrn, dem Schloss auf dem Berg, das war, als was ein Modeherrchen aus der Coterie des Monsieur Herzogs von Enghien, im Vergleich mit einem eisengeharnischten Ritter aus der Zelt von Karl VII. erschien. D’Artagnan setzte sein Pferd in Trab und folgte dem Weg; Planchet regelte den Schritt seines Kleppers nach dem seines Herrn.

Nach zehn Minuten fand sich d’Artagnan am Ende einer regelmäßig gepflanzten Allee von schönen Pappelbäumen, die zu einem eisernen Gitter ausmündete, dessen Spieße und Querbänder vergoldet waren.

Mitten in dieser Allee hielt sich ein Monsieur, welcher grün und golden anzuschauen war, wie das Gitter. Er saß auf einem dicken Ross. Zu seiner Rechten und zu seiner Linken waren zwei auf allen Nähten galonierte Bedienstete. Eine große Anzahl von Schluckern, die sich um ihn versammelt hatten, machten ehrfurchtsvolle Verbeugungen vor ihm.

»Ah«, sagte d’Artagnan zu sich selbst, »sollte dies der edle Monsieur du Vallon de Bracieux de Pierrefonds sein? Ei, mein Gott, wie er zusammengeschrumpft ist, seit er sich nicht mehr Porthos nennt.«

»Vielleicht ist er es nicht«, sprach Planchet, das beantwortend, was d’Artagnan zu sich selbst gesagt hatte. »Monsieur Porthos war beinahe sechs Fuß hoch, und dieser hat kaum fünf.«

»Man macht indessen sehr tiefe Verbeugungen vor diesem Monsieur«, versetzte d’Artagnan.

Nach diesen Worten ritt d’Artagnan auf den bedeutenden Mann und seine Bedienten zu. Je näher er kam, desto mehr schien es ihm, als erkenne er die Züge der Hauptperson.

»Jesus Christus, gnädiger Monsieur«, rief Planchet, der dieselbe ebenfalls zu erkennen glaubte.

Bei diesem Ausruf wandte sich der Mann zu Pferde langsam und mit sehr vornehmer Miene um, und die zwei Reisenden konnten die großen funkelnden Augen, das pausbäckige Gesicht und das so beredte Lächeln von Mousqueton sehen.

In der Tat, es war Mousqueton, Mousqueton speckfett, strotzend von Gesundheit, welcher, d’Artagnan erkennend, ganz das Gegenteil von dem heuchlerischen Bazin, als er d’Artagnan erkannte, von seinem Pferd herabglitt und sich, den Hut in der Hand, dem Offiziere näherte, sodass die Ehrfurchtsbezeigungen der Versammelten sich der neuen Sonne zuwandten, welche die alte verdunkelte.

»Monsieur d’Artagnan, Monsieur d’Artagnan!«, rief Mousqueton fortwährend mit seinen dicken Backen und vor Eifer von Schweiß triefend. »Ah, welche Freude für meinen gnädigen Herrn und Meister, Monsieur du Vallon de Bracieux de Pierrefonds!«

»Der gute Mousqueton! Dein Herr ist also hier!«

»Ihr seid auf seinen Besitzungen.«

»Aber wie schön, wie fett, wie blühend du aussiehst!«, sprach d’Artagnan, unermüdlich die Veränderungen auseinandersetzend, welche die Glücksumstände bei dem ehemaligen Ausgehungerten hervorgebracht hatten.

»Ah, ja, Gott sei Dank, gnädiger Monsieur, ich befinde mich ziemlich wohl«, sprach Mousqueton.

»Aber du sagst gar nichts zu deinem Freund Planchet?«

»Zu meinem Freund Planchet! Planchet, solltest du es zufällig sein?,« rief Mousqueton, die Arme geöffnet, die Augen mit Tränen gefüllt.

»Ich selbst«, erwiderte Planchet, stets behutsam »aber ich wollte sehen, ob du nicht stolz geworden wärest.«

»Stolz geworden gegen einen alten Freund? Niemals, Planchet. Du hast das nicht gedacht oder du kennst Mousqueton nicht«

»Dann ist es gut«, sagte Planchet, stieg vom Pferd und streckte ebenfalls die Arme nach Mousqueton aus. »Der ist nicht, wie der Schurke von einem Bazin, welcher mich zwei Stunden unter einem Schuppen ließ, ohne nur Miene zu machen, als kenne er mich.«

Planchet und Mousqueton umarmten sich mit einem Erguss, welcher die Umstehenden sehr rührte, indem er ihnen zugleich den Glauben beibrachte, Planchet wäre ein verkleideter Vornehmer, so sehr schlugen sie zu ihrem höchsten Wert die Stellung von Mousqueton an.

»Und nun, gnädiger Monsieur«, sagte Mousqueton, sich von der Umarmung von Planchet losmachend, der es vergebens versucht hatte, seine Hände hinter dem Rücken seines Freundes zusammenzubringen, »und nun, gnädiger Monsieur, erlaubt mir, Euch zu verlassen, denn mein Gebieter soll die Kunde von Eurer Ankunft von keinem anderen als von mir erhalten. Er würde mir nie vergeben, wenn ich einen anderen zuvorkommen ließe.«

»Dieser liebe Freund«, sagte d’Artagnan, indem er es vermied, Porthos seinen alten oder seinen neuen Namen zu geben, »er hat mich also nicht vergessen?«

»Vergessen! Er!«, rief Mousqueton, »das heißt, es ist kein Tag vergangen, an welchem wir nicht zu hören erwarteten, Ihr wäret entweder an der Stelle von Monsieur von Gassion oder an der von Monsieur von Bassompierre zum Marschall ernannt worden.«

D’Artagnan ließ über seine Lippen jenes seltene, schwermütige Lächeln schweben, welches in der tiefsten Tiefe seines Herzens die Enttäuschung seiner Jugendjahre überlebt hatte.

»Und Ihr, Bauern«, fuhr Mousqueton fort, »bleibt bei dem Monsieur Grafen d’Artagnan und erweist ihm jede Ehre, während ich den gnädigen Herrn auf seine Ankunft vorbereite.«

Und mithilfe zweier wohltätigen Seelen wieder sein kräftiges Pferd besteigend, während Planchet, flinker beschaffen, allein das seine bestieg, ließ Mousqueton auf dem Rasen einen kleinen Galopp anschlagen, welcher mehr zu Gunsten der Nieren als der Beine des Vierfüßigen sprach.

»Ah, das kündigt sich gut an«, sagte d’Artagnan. »Hier finden sich keine Geheimnisse, keine Mäntel, keine Politik. Man lacht aus vollem Hals, man weint vor Freude; ich sehe nur ellenbreite Gesichter; die Natur selbst kommt mir festtäglich vor, es ist mir, als wären die Bäume, statt mit Blüten und Blättern, mit kleinen grünen und rosafarbenen Bändern bedeckt.«

»Und mir«, sagte Planchet, »mir kommt es vor, als röche ich von hier aus den köstlichsten Bratenduft, als erblickte ich Küchenjungen, welche sich in Reih und Glied aufstellen, um uns vorüberziehen zu sehen. Ah! Gnädiger Herr, welchen Koch muss Monsieur de Pierrefonds haben, der schon so gern und viel aß, als man ihn nur Monsieur Porthos nannte.«

»Halt!«, sagte d’Artagnan, »Du machst mir bange. Wenn die Wirklichkeit dem Anschein entspricht, so bin ich verloren. Ein so glücklicher Mann von wird seine herrliche Lage nie verlassen, und ich scheitere bei ihm, wie ich bei Aramis gescheitert bin.«

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