Neue Gespenster – 5. Erzählung
Samuel Christoph Wagener
Neue Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit
Erster Teil
Fünfte Erzählung
Die vertrocknete Hand eines Missetäters
Einer meiner Kameraden, der sich durch Mut und kalte Entschlossenheit auszeichnete, hatte vor mehreren Jahren die R…sche Torwache zu K…
Der raue Novembertag floh mitunter den Freuden einer genügenden Lektüre dahin. Spät gegen die Nacht entfernten sich die ihn besuchenden Freunde. Man hatte den Abend sehr ernst zugebracht und wenig gesprochen. Versunken in sich selbst, starrte der nun sich und der Einsamkeit überlassene Kamerad hinaus in die unfreundliche Nacht. Düstere Wolken flogen über den blassen Vollmond, der Sturm peitschte Regen und Schneegestöber durch die Luft, und selten zerriss ein wohltätiger Strahl das öde Dunkel. Dies vollendete seine trübe Stimmung.
Die Mitternacht war vorüber. Ermüdet warf er sich nun in den weiten Wachstuhl und schlummerte ein. Nach ungefähr zwei Stunden wurde er durch ein leises Geräusch plötzlich aufgeschreckt. Mit Mühe ermunterte ihn vollends das Knistern des Lichtes, welches gerade verlöschen wollte. Noch einmal zuckte die rötliche Flamme an dem grauen Gewölbe des Zimmers, und dann schied sie. Ihr letzter Schein erhellte auf dem Tisch, neben dem aufgeschlagenen Buch, eine schwarze, klapperdürre Menschenhand.
Er bekämpfte den ersten Schauer und berührte die Hand. Eiskalt lag sie da, und unbeweglich, wie im Grab. Ein jäher Fieberfrost schüttelte seine Glieder. Er rief nach Licht.
Das Zimmer wurde sogleich erleuchtet, aber die schwarze Hand wollte immer noch nicht verschwinden. Endlich enträtselte sich die Erscheinung.
Die Schildwache vor dem Gewehr erblickte mit Entsetzen bei Mondlicht, in einem Winkel am Wachhaus diese Wunderhand und überlieferte sie einem Unteroffizier, welcher, um den Wachhabenden Offizier nicht zu stören, sie leise auf jenen Tisch legte. Daher das Geräusch, daher die Hand!
Wahrscheinlich hatte irgendein hungriger Rabe sie auf dem benachbarten Hochgericht erbeutet und an der Wache verloren.
Ich fühle wohl, dass der eben erzählte Vorgang, der sich im nächsten Augenblick notwendig aufklären musste, nicht in die Reihe der Täuschungen passt, denen diese Erzählungen entgegenarbeiten. Wie häufig haben nicht schon Totenköpfe, Armesündergerippe und ähnliche Kleinigkeiten, welche den Furchtsamen und Wahngläubigen überraschend zu Gesicht kamen, die abenteuerlichste Tötung veranlasst? Ort, Zeit und Umstände können auch diesen Fall mannigfaltig ändern. Und dann, verbürge ich, dass tausend befangene, kurzsichtige Beobachter nicht nur die schwarze Hand, sondern vielleicht gar noch eine ominöse Inschrift und anderes spukhafte Zubehör an derselben wahrgenommen haben wollen.
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