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Papa Denke 1. Akt

Papa Denke
Ein Drama in drei Akten um Pökelfleisch und Perversionen

1. Akt

Münsterberg

Samstag, 21. Februar 1903

Der Himmel hatte eine schmutzig-graue Farbe angenommen und hing voller Wolken.

Es regnete.

Nicht besonders stark, aber doch stetig, sodass der Ort inzwischen gänzlich mit einem glitzernden Netz aus feinen Regentropfen überzogen war.

Ida Launer hatte sich das Kopftuch tief in die Stirn gezogen und den Kragen ihrer fadenscheinigen Jacke hochgeschlagen, aber ausweichen konnte sie dem nasskalten Wind, der seit dem Morgengrauen durch die Straßen und Gassen des kleinen schlesischen Städtchens wehte, dennoch nicht.

Es wird Zeit, dass ich endlich einen Unterschlupf finde, sonst hol ich mir hier draußen noch den Tod, dachte die Landstreicherin mürrisch. Sie wusste zwar, dass sie mit den paar Pfennigen, die sie bisher erbettelt hatte, kaum über den Sonntag kam, aber ihr war kalt, sie war nass bis auf die Knochen und die Leute bei diesem Wetter eh nicht besonders freundlich und freigiebig.

Als sie in die Teichstraße einbog, musste sie zum ersten Mal niesen.

Wenn ich jetzt nicht bald irgendwo unterkomme, hole ich mir tatsächlich noch den Tod, ging es Ida durch den Kopf, während sie erneut niesen musste. In Ermanglung eines Taschentuchs wischte sich die Landstreicherin den Rotz mit dem Jackenärmel von der Nase, schüttelte sich kurz und beschleunigte dann ihre Schritte.

Zügig lief sie die Straße entlang, bis sie an einem Haus mit einer ehemals weiß verputzten Vorderfront vorbei kam, die über die Jahre hinweg inzwischen jedoch stumpf und grau wirkte. Das Gebäude, es war das Haus mit der Nummer 10, war groß, ein riesiger, langgezogener, fast rechteckiger Kasten mit annähernd zwanzig Fenstern und zwei Eingangstüren, zu denen ein schmaler Zugangsweg führte. Neben diesem Weg befand sich eine Art Vorgarten, der sich über die gesamte Vorderfront des Hauses hinweg zog. Das ganze Grundstück war von einem mannshohen Maschendrahtzaun umgeben.

Ida hatte den Zaun etwa zur Hälfte passiert, als sie aus den Augenwinkeln heraus bemerkte, dass im Obergeschoss des Hauses hinter einem der vielen Fenster ein Mann stand und sie unverwandt anstarrte.

Der Mann lächelte.

Ja, grins nur du blödes Arschloch, dachte die Landstreicherin grimmig. Wenn man mit einem vollgefressenen Wanst im Warmen und trocken ist, kann man gar leicht über unsereins lachen.

Sie wollte sich schon abwenden, als sie sah, wie ihr der Mann zuwinkte.

Neugierig blieb Ida stehen.

Der Mann wandte sich daraufhin vom Fenster ab und es dauerte nicht lange, bis sich unten im Haus eine der Eingangstüren öffnete und er hinaus auf den Zugangsweg trat. Soweit es Ida erkennen konnte, war etwa vierzig Jahre alt, von kleiner, aber kräftiger Statur, mit einem gepflegten Schnurrbart, gutmütigem Gesicht und schütterem Haar.

Jetzt bin ich mal gespannt, was der will, dachte die Landstreicherin, während er auf sie zukam. Mal sehen, vielleicht kann ich dem wenigstens ein paar Pfennige aus den Rippen leiern.

»Gottchen Frau, was machste denn bei dem Wetter auf der Straße? Bist wohl nicht aus der Gegend hier?«, sagte der Mann anstelle einer Begrüßung.

»Nein«, antwortete Ida wahrheitsgemäß. »Ich bin fremd hier, bin auf der Wanderschaft.«

»Dann hast sicher auch noch kein Quartier?«

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Weißt was, dann komm doch einfach hoch zu mir. Ich kann dir zwar keine Schlafstelle für die Nacht anbieten, das will die Vermieterin nicht, aber für eine Kammer zum Aufwärmen und eine ordentliche Brotzeit mit Fleisch und eingelegten Gürkchen reicht es allemal.«

»Das ist nett von dir. Aber du musst mir nichts zum Essen geben, mir würde es schon reichen, wenn ich bei dir am Ofen sitzen könnte und so lange bleiben, bis meine Kleider wieder trocken sind.«

»Na dann komm mal mit. Ich wohn da oben im ersten Stock.«

Ida lächelte. Dann streckte sie ihm ihre Rechte entgegen.

»Ich bin die Ida, Ida Launer.«

»Und ich bin der Karl«, sagte der Mann und ergriff ihre ausgestreckte Hand. Sein Griff war fest, aber seine Hand weich und warm.

»Weißt, ich war nämlich auch mal so ein umherziehender Wanderbursche«, sagte er, während er sich umdrehte und vorausging. »Aber jetzt hab ich Arbeit und eine Wohnung und mir geht’s einigermaßen gut. Trotzdem hab nicht vergessen wie’s so ist, auf der Straß zu leben. Drum kriegt auch jeder, der an meine Tür klopft, von mir was zum Essen und kann sich aufwärmen. Die Leut in der Nachbarschaft sagen deshalb alle Papa Denke zu mir, aber das ist mir egal. Ich mach’s gerne, weißt, bin allein und hab doch sonst niemand, mit dem ich reden kann.«

Idas Laune besserte sich mit jedem Schritt, mit dem sie Karl in dessen Wohnung folgte.

Irgendwie hatte sie das Gefühl, mit diesem Mann das große Los gezogen zu haben.

Hier waren garantiert mehr als nur ein paar Pfennige drin.

Er war, wie er erzählt hatte, anscheinend schon lange allein, deshalb würde er gewiss ein oder zwei Märker herausrücken, wenn sie ihm sein Schwänzchen polierte und danach die Beine breit machte.

Zudem sah er so schlecht ja auch nicht aus, da hatte sie schon ganz andere Kerle »drüber rutschen« lassen.

Als sie schließlich in seiner einfachen, aber warmen Kammer am Esstisch Platz genommen hatte und sah, was für eine riesige Schüssel mit Fleisch er vor ihr auftischte, fühlte sie sich fast wie im Paradies.

»Lang schon mal zu«, sagte Karl, während er Teller und Besteck verteilte. »Ich muss nur noch mal in die Küch, um Brot zu holen.«

Die Frau ließ sich nicht zweimal bitten und griff ordentlich zu, während sie hörte, wie der Mann in der Küche rumorte.

»Hast du auch Salz?«, fragte sie.

»Nein, aber das brauchst jetzt auch nicht mehr.«

Ida runzelte fragend die Stirn und drehte sich um.

Karl Denke war das Letzte, was sie auf dieser Welt erblickte.

Breitbeinig stand er hinter ihr, das Gesicht wie im Wahn verzerrt und beide Hände um den Stiel einer primitiven Spitzhacke gekrallt.

Dann kam der erste Schlag.

Idas Schädel wurde zertrümmert.

Der zweite Schlag zerschmetterte ihr Gesicht.

Blut spritzte wie roter Regen umher.

 

*

 

Karl Denke wurde am 11. Februar 1860 in Oberkunzendorf, in Oberschlesien, als der dritte Sohn einer Bauernfamilie geboren.

Er wuchs in geordneten Familienverhältnissen auf, war allerdings geistig behindert, was, wie manche Quellen vermuten, auf irgendwelche Komplikationen bei seiner Geburt zurückzuführen war.

Jedenfalls hatte er große Schwierigkeiten, sich zu artikulieren, und eine Leseschwäche, was dazu führte, dass er nicht nur von seinen Geschwistern, sondern auch von seinen Mitschülern und Lehrern verspottet und gedemütigt wurde. So zog er sich immer mehr und mehr zurück und wurde zu einem wortkargen Außenseiter mit stark autistischen Zügen.

Im Nachhinein wurde bei der Obduktion festgestellt, dass Karl Denke schizophren war.

An eine Berufswahl war daher nicht zu denken, weshalb er nach wenigen Jahren die Schule verließ und im landwirtschaftlichen Betrieb seiner Eltern aushalf. Nachdem sowohl der Vater als auch die Mutter innerhalb kürzester Zeit verstorben waren, lebte er noch eine Zeitlang bei seinen Geschwistern. Die allerdings brachten mit der Zeit immer weniger Verständnis für diesen dummen Kopf oder Idioten auf, wie sie ihn gehässig nannten.

Nachdem ihre Anstrengungen, ihn entmündigen zu lassen, um zu verhindern, dass er durch seine niedere Intelligenz von anderen um seinen Erbteil betrogen wurde, erfolglos blieben, setzten sie ihn kurzerhand vor die Tür. Daraufhin, endgültig allein, vereinsamt und nur noch auf sich gestellt, zog er um 1880 nach Münsterberg in eine Einzimmerwohnung in der Teichstraße Nummer 10.

Er verdingte sich seinen Lebensunterhalt fortan mit Körbe flechten und der Herstellung von Holzschüsseln und erwarb sich schon bald den Ruf eines arbeitssamen, zurückhaltenden Mannes, den man nie wütend, sondern stets nur gutmütig und hilfsbereit erlebte.

Wenn man ab und an über ihn spottete, und auch das nur aufgrund seiner Hilfsbereitschaft hinter vorgehaltener Hand, dann nur wegen seiner offensichtlich ungeheuren Fresssucht, die man glaubte, mit einem vollkommenen Mangel an menschlicher Zuwendung erklären zu können.

Ein schrecklicher Irrtum.

Trotzdem gingen nach Ida Launers Tod noch einmal mehr als zwei Jahrzehnte ins Land, bis die Öffentlichkeit endlich erfahren sollte, was für ein Mensch Karl Denke in Wirklichkeit war, nämlich ein Psychopath, ein Massenmörder und Kannibale.

Ludwigsburg im Oktober 2020

G. Schulz

Der 2. Akt folgt in Kürze …

Quellenhinweis:

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