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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 6
Der verschwundene Bräutigam
11. Kapitel

Gefunden

»Was soll ich tun, Mr. Holmes«, redete Edith Sommerfield den Detektiv an, als dieser auf der Straße wieder zu ihr getreten war. »Es ist ja kein Zweifel mehr, dass jener Mensch, der sich für meinen Bräutigam ausgab, ein Mörder ist. Aber bedenken Sie meine jetzige Lage. Wird er nicht morgen oder womöglich noch heute zu mir kommen und, wie er mit mir verabredet hat, mich besuchen?«

Holmes sann einen Augenblick nach.

»Für mich und das Gericht wäre es das Angenehmste, wenn Sie sich wieder zu Ihrer Wohnung zurückbegäben und den Mörder dort erwarteten. Wir könnten ihn dann in aller Ruhe in Empfang nehmen und dingfest machen. Aber ich möchte Ihnen die unvermeidlichen Aufregungen, die Ihnen vielleicht Ihre ganze Wohnung verleiden würden, ersparen.«

»Ich würde Ihnen für diese Rücksicht sehr dank­bar sein. Ich habe in den letzten Wochen so viel durchgemacht, dass ich meinen Nerven nicht viel mehr zumuten darf. Ich glaube auch nicht, dass ich jenem Menschen unbefangen genug gegenübertreten kann, ohne seinen Verdacht zu erregen.«

»Das fürchte ich auch«, versetzte der Detektiv, »doch nun lassen Sie uns wieder unseren Wagen besteigen, der dort auf uns gewartet hat.«

Während sie wortlos nebeneinandersaßen, über­dachte Sherlock Holmes noch einmal die Lage. Wenn der Mörder auch vorläufig entkommen war, so würde er doch sobald London nicht verlassen können. Dazu ge­hörte Geld, und Grübli konnte nicht viel mehr in seinem Besitz haben, wie er an Kleingeld in seinem Porte­monnaie hatte.

Sicher würde er Edith Sommerfield wieder auf­suchen, da sie sein letzter Rettungsanker war. Aber man konnte das junge Mädchen nicht ohne Schutz in ihrer Wohnung zurücklassen. Ein Mensch, der kaltblütig zwei Menschenleben hingeopfert hatte, beging auch noch einen dritten Mord. Holmes hätte die Wohnung mit Polizeibeamten besetzen lassen können, aber er fürchtete mit Recht, dass Grübli erst sehr vorsichtig die Gegend rekognoszieren und erst dann die Wohnung betreten würde, wenn jeder Argwohn bei ihm geschwunden war.

Und allzu viel Schlauheit und Überlegenheit, sodass jeder Fehler ausgeschlossen war, traute er Wilsons Beamten nicht zu.

Ja, wenn er selbst ununterbrochen in Miss Sommerfields Umgebung hätte sein können; aber er musste heute Abend die MARIE LOUSIE besichtigen und nach dem Kör­per Robert Nortons absuchen.

»Das Einfachste ist«, wandte er sich an die junge Dame, als sie wieder das Pflaster der City unter sich hatten, »Sie suchen für die nächsten Tage bei Verwandten oder Freunden Unterkunft.«

Das junge Mädchen seufzte tief auf.

»Derartige Verwandte oder Bekannte besitze ich nicht«, erwiderte sie leise.

»Ich bin überzeugt, dass Ihr Vormund, Mr. Wort­mann, Sie sehr gern aufnehmen wird.«

»Daran ist nicht zu denken«, fuhr Edith auf, »wie darf ich Walter gegenübertreten, nachdem ich ihn tödlich beleidigt habe?«

Sherlock Holmes sah sie mit seinem etwas spöttischen Lächeln an.

»Ein Liebhaber, der so feurig ist, wie Mr. Walter Wortmann sich bewiesen hat, ist leicht versöhnt, wenn Sie ihm offen und ehrlich sagen, dass Sie sich geirrt haben und jetzt den wirklichen Mörder kennen. Dann bin ich überzeugt, dass er nicht mehr lange schmollen wird, na­mentlich, wenn er erfährt, dass nichts mehr zwischen ihm und Ihnen steht.«

Ediths Augen füllten sich mit Tränen.

»Ach, Mr. Holmes«, sagte sie leise, »Sie ahnen nicht, wie schlecht ich bin. Ich bin gar nicht wert, dass Walter Wortmann mich liebt. Ich müsste jetzt doch in Verzweiflung sein, dass mein Bräutigam ermordet ist, aber es ist mir nicht möglich, einen so ungeheuren Schmerz über seinen Verlust zu empfinden. Gewiss, das Schicksal dieses Unglücklichen hat mich tief ergriffen. Jahre meines Lebens könnte ich hingeben, um ihn zum Leben zu erwecken. Der Tod meines Bruders könnte mir nicht näher gehen, wie der Robert Nortons. Aber der sinnlose Schmerz, den ich einmal bei einer Braut beobachtet habe, als ihr der Bräutigam durch den Tod entrissen wurde – nein, den empfinde ich nicht. Ich mache mir darüber die größten Vorwürfe, ich zwinge mich förmlich, unglücklich zu sein, aber – ich will mich Ihnen gegenüber nicht besser machen, als ich bin – es gelingt mir nicht.«

Sherlock Holmes ergriff ihre Hand.

»Darf ich Ihnen unverhohlen den Grund hierfür sagen?«

Unwillkürlich wollte Edith ihre Hand befreien, doch der Detektiv hielt sie fest.

»Sprechen Sie«, versetzte das Mädchen tonlos.

»Als Sie zum ersten Mal bei mir eintraten, um meine Hilfe in Anspruch zu nehmen, erkannte ich, dass Ihr Herz nicht bei der Sache war. Es war nur das Pflichtgefühl, dass Sie zu mir trieb. Und als ich Sie einige Minuten später an Walter Wortmanns Arm nach Hause gehen sah, da wusste ich genug.«

Heftig entzog Edith nun dem Detektiv die Hand.

»Das ist abscheulich«, rief sie, »wie können Sie nur so herzlos über mich urteilen. Sie haben an demselben Abend noch gehört, wie ich Walter auf seine Liebes­erklärung geantwortet habe.«

»Alles nur Worte. Ich gebe zu, dass Sie sie ehrlich gemeint hatten, aber Ihr Herz blutete mit, als Sie ihn von sich wiesen. Miss Edith, Sie glauben, ich will Ihnen Vorwürfe machen. Sie irren. Es ist nur natürlich, dass vier Jahre der Abwesenheit das Bild des Geliebten ver­wischen, dass die heißen Gefühle, wenn sie nicht genährt werden, allmählich erkalten und sich ohne unser Wollen, ja ohne unser Wissen, ein anderes Bild an Stelle des ersteren schiebt. Sie brauchen sich also keine Vorwürfe über Ihr jetziges Empfinden zu machen, ebenso wenig wie ich es tue.«

Edith weinte still vor sich hin.

»Wer weiß auch«, fuhr Holmes fort, »ob Sie das Glück an der Seite von Robert Norton genossen hätten, das Ihnen vielleicht bei einem anderen Mann blüht. Doch wenn ich nicht irre, geht dort zufällig Mr. Wortmann? Kutscher, halten Sie!«

Vergebens versuchte Edith den Detektiv zurückzuhalten. In wenigen Minuten hatte Holmes den jungen Advokaten eingeholt und ihn mit wenigen Worten über die Sachlage aufgeklärt: über Helenes Ermordung, den Mörder und den nunmehr zweifellos feststehenden Tod Robert Nor­tons.

»Wenn Sie auch einmal behauptet haben, Mr. Wortmann, dass ich ein Esel sei«, schloss Holmes seine Auseinandersetzungen, »so nehmen Sie doch von mir den Rat an: Ergreifen Sie die Hand, die Ihnen das Schicksal jetzt reicht und führen Sie Miss Sommerfield, welche ganz gebrochen dort in der Droschke sitzt, zu Ihrem Vater. Sie selbst wird Ihnen alles Nähere erzählen.«

 

»Es wäre mir angenehm, lieber Wilson, wenn du mich zur MARIE LOUISE begleiten könntest«, wandte sich Sherlock Holmes an seinen Freund nach kurzer Begrü­ßung in seinem Amtszimmer.

»Ich stehe ganz zu deiner Verfügung.«

»Ich weiß nicht, ich habe eine Ahnung, als stände uns noch eine Überraschung bevor«, meinte Sherlock Holmes, sich seine kurze Pfeife stopfend.

»Nun, ich hoffe es, nämlich die Auffindung der Leiche des unglücklichen Robert Norton.«

»Es kann das allein nicht sein; ich habe Ahnungen, die mich nie täuschen.«

»Hoffentlich sind es keine bösen Überraschungen, hie du ahnst«, versetzte Wilson lachend. »So, jetzt bin ich mit meinen Akten fertig; wir können uns auf den Weg machen.«

In einer halben Stunde waren sie an Ort und Stelle. «Gigantisch hob sich der ungeheure Bau des Hamburger Schnelldampfers vom Abendhimmel ab.

Schon strömten Passagiere von allen Seiten auf das Schiff zu, das nur wenige Stunden im Londoner Hafen verweilen wollte. Auch auf Deck war das Gewimmel schon groß.

Der Kapitän erwartete bereits die beiden Freunde.

»Ich freue mich«, wandte er sich an Holmes, der ihm seine Karte in die Kajüte geschickt hatte, »den be­rühmtesten Detektiv Englands persönlich kennenzuler­nen. Ich bin aber aus Ihren Depeschen nicht recht klug geworden.«

»Das glaube ich Ihnen sehr gern, Herr Kapitän«, erwiderte Holmes, »ich will mich kurzfassen. Sie entsinnen sich zweier Passagiere, Grübli und Norton, welche auf der letzten Fahrt Ihres Schiffes von New York nach Hamburg an Bord waren?«

»Gewiss«, lautete die Antwort, »ich entsinne mich ihrer umso lebhafter, da die beiden Herren, welche ja rechte Vettern waren, von einer verblüffenden Ähnlichkeit waren, sodass mancherlei komische Verwechselungen während der Reise vorkamen.«

»Sie entsinnen sich weiter«, fuhr Sherlock Holmes fort, »dass sich einer von ihnen auf der Höhe von London ausbooten und von einem Lotsenkutter aufnehmen ließ?«

»Soviel ich weiß, und ich glaube mich nicht zu irren, haben sich beide Herren ausbooten lassen. Ich entsinne mich, dass mein Erster Offizier sehr ärgerlich war, weil er die Fahrt unterbrechen musste und schließlich einer der beiden Herren sich noch obendrein verspätete.«

»Es ist auch nur einer ausgebootet worden«, erklärte Holmes.

»Und der andere?«, fragte erstaunt der Kapitän.

»Fehlt seit jener Nacht.«

»Sollte er etwa über Bord gefallen sein? Das ist aber bei dem ruhigen Seegang und der dichten Gale­rie des Schiffes gar nicht möglich gewesen.«

»Ich halte es ebenfalls für unmöglich.«

»Donnerwetter«, rief der Kapitän erregt, »was sagt denn der Vetter des Verschwundenen? Er muss doch Aus­kunft über ihn geben können.«

»Man hat ihn noch nicht fragen können; ganz ein­fach aus dem Grund, weil er sich für den Verschwundenen ausgibt, dessen Braut für sich in Anspruch nimmt und dessen Vermögen abgehoben hat.«

»Die Sache wird ernst, meine Herren, und welcher von beiden ist der Verschwundene?«

»Robert Norton.«

»Hm, also wäre Grübli der Betrüger.«

»Sagen Sie lieber – der Mörder«, versetze Holmes.

Der Kapitän sah den Detektiv scharf an.

»Wenn Sie, Mr. Holmes, mir das sagen, so werden Sie ja wohl die Beweise dafür haben. Ich ahne jetzt, warum Sie zu mir gekommen sind. Sie vermuten als Ort, wo der Mord geschehen ist, mein Schiff, die MARIE LOUISE?«

»So ist es, Herr Kapitän. Glauben Sie, dass der Mörder sein Opfer, selbst wenn er es vorher getötet oder betäubt hat, unbemerkt hat über Bord werfen können?«

»Das halte ich für absolut ausgeschlossen. Bedenken Sie, dass bei Nacht die elektrischen Lampen das ganze Deck erhellen und dass die Wachen patrouillieren.«

»Nun denn«, erklärte Sherlock Holmes, »so gibt es nur eine Möglichkeit, nämlich, dass die Leiche des von Grübli ermordeten Robert Norton noch hier im Schiffs­raum verborgen liegt.«

»Sie irren sich, Mr. Holmes«, erwiderte der Kapitän, »es sind ja Wochen seit der Nacht verflossen, in welcher sich die beiden Reisenden haben ausbooten lassen. Meine Leute müssten den Körper längst gefunden haben. Bedenken Sie, dass der ganze Raum, in dem die geladenen Güter lagerten, in Hamburg geräumt worden ist, dass nichts darin liegen bleibt.«

»Dann gibt es andere Verstecke, wo man einen Leich­nam unterbringen kann«, warf Sherlock Holmes hart­näckig ein.

»Nimmermehr; ich stelle Ihnen das ganze Schiff zur Verfügung; suchen Sie es ab, so viel Sie wollen, aber beeilen Sie sich, denn in zwei Stunden fahren wir ab.«

»Gut, Herr Kapitän, wir machen von Ihrer Erlaubnis Gebrauch. Kommandieren Sie uns einen Mann

zu, der uns überall hinführt und allen meinen Befehlen nachzukommen hat.«

In wenigen Minuten machten sich die Freunde in Begleitung eines intelligenten Matrosen auf die Suche. Holmes hatte es für gut befunden, ihn in das Geheim­nis einzuweihen.

»Können Sie mir die Kajüte zeigen, die die beiden Vettern hier bewohnt haben?«

»Gewiss, Herr.«

Der Zufall wollte es, dass die Kajüte, welche Grübli auf seiner Reise von New York innegehabt hatte, unbe­setzt war. Viel Mühe machte ihre Durchsuchung nicht, denn Erstens war sie nur klein, und dann hatte man sie sorgfältig wieder aufgeräumt.

Während Wilson sich mit der Durchsicht der Ecken und Winkel begnügte, zog Holmes alle Schubladen und Kästen auf.

»Was liegt dort in der Ecke?«, fragte er den Matrosen, der eine Schublade der Kommode halb herausgezogen hatte.

»Ein altes unsauberes Taschentuch«, erwiderte dieser, ein Stück vorsichtig mit den Fingern emporhebend.

»Geben Sie her«, rief der Detektiv. Er nahm ihm das Tuch aus der Hand, ging ans Fenster und unterzog es einer eingehenden Musterung.

»Es gehört Grübli«, sagte er nach einer Weile, »hier sind seine Initialen, und die übrigen Spuren, die er auf dem Tuch hinterlassen hat, dürften uns als Weg­weiser dienen können.«

Gelassen steckte er das Taschentuch ein.

»So, nun führen Sie uns überall dorthin, wo man wohl einen Körper verstecken kann. Ich will, obwohl mir der Weg zum Versteck schon zweifellos vorgeschrie­ben ist, doch keinen Winkel nicht besichtigt lassen, um mir später, wenn ich mich geirrt haben sollte, keinen Vorwurf zu machen.«

Von Stockwerk zu Stockwerk ging die Suche. Keine Ecke blieb verschont; trotz des Hereinströmens der Passagiere und des Gewühls im Zwischendeck walteten die beiden Beamten mit größter Gewissenhaftigkeit ihres Amtes.

»Nun kommen wir schon in den Maschinenraum«, meldete der Matrose, »geben Sie Acht, dass Sie nicht den Rädern und Treibriemen zu nahekommen.«

Ein reges Leben empfing sie in dem heißen Raum.

Halb nackt standen die sehnigen Gestalten der Heizer vor den Kesselfeuerungen und fachten die Glut zu immer größerer Höhe an, weil in kurzer Zeit mit Volldampf weitergefahren werden sollte.

Sinnend blieb Sherlock Holmes vor diesen Höllenschlunden stehen.

»Ist jemals wohl hier bei den Feuerungen ein Unglücksfall vorgekommen?«, fragte er einen Heizer.

»Nicht, dass ich wüsste, Herr!«

»Ich meine, ob irgendeine Person einmal in eine solche Feuerung geraten ist?«, forschte der Detektiv weiter.

»Ich habe davon nie erfahren, obwohl ich doch schon jahrelang als Heizer fahre.«

»So – hier wäre eine gute Gelegenheit, sich eines unbequemen Feindes zu entledigen«, meinte Holmes gleich­gültig, »aber sagen Sie mir, lieber Freund, wo gibt es hier den meisten Kohlenstaub?«

Der Heizer lachte.

»Nun, unter dem Maschinenraum in den Kohlen­bunkern.«

»Kommen auch Fremde dorthin, etwa, um auch diese Räume zu besichtigen?«

»Es kommt vor, wenn auch nicht oft.«

»Entsinnen Sie sich eines bestimmten Falles?«, forschte Holmes.

»Ich habe einmal auf der letzten Fahrt einen Passagier hier herumlaufen sehen, der sich alles genau besah und auch in den Kohlenbunkern gewesen sein soll.«

»War er allein oder in Begleitung?«

»Er war allein, Herr.«

In diesem Augenblick kam der Ingenieur mit meh­reren Leuten, die in London als Ergänzung des Maschinenpersonals angeworben waren, herbei und teilte sie den einzelnen Wachen zu.

»Wir sind hier fertig«, wandte sich Holmes an den Matrosen, »und wollen die Heizer hier nicht länger auf­halten. Sie können uns sogleich zum Kapitän führen.«

»Nun«, empfing dieser sie, »haben Sie dem unglück­lichen Norton entdeckt?«

»Ihn selbst noch nicht, aber wenigstens kenne ich jetzt den Aufbewahrungsort seines Leichnams.«

»Unmöglich!«

»Sie sollen sich selbst überzeugen, Herr Kapitän; doch damit Sie dies können, muss ich Sie bitten, eine Stunde länger in London zu verweilen.«

»Das kann ich nicht; mir ist Zeit und Stunde meiner Abfahrt genau vorgeschrieben.«

»Werden Sie nicht in diesem außerordentlichen Fall eine Ausnahme machen können? Sie laufen sonst Gefahr, zwei blinde Passagiere, nämlich meinen Freund Wilson und mich mit nach New York zu nehmen. Denn ich gehe nicht eher vom Schiff, bis ich die Leiche Nortons vor mir liegen sehe.«

Der Kapitän sann einen Augenblick nach.

»Gut«, sagte er dann, »ich glaube es verantworten zu können, auch hoffe ich, die eine Stunde auf der ganzen Reise wieder einholen zu können, und nun führen Sie mich zur Leiche des Ermordeten.«

»Ich danke Ihnen, Herr Kapitän, und nun bitte ich Sie um ein paar recht haltbare Handfesseln.«

Der Kapitän wich einen Schritt zurück.

»Handfesseln?,« rief er aufs Höchste überrascht, »wollten Sie hier auf meinem Schiff …«

»Ganz recht, Herr Kapitän, Sie haben es erraten. Nicht ich, sondern mein Freund, der Kriminalinspektor Wilson, wird in Ihrem Beisein eine folgenschwere Ver­haftung vornehmen.«

»Ich kann mich nicht dagegen verwahren, aber Ihrem Freund sehe ich am Gesicht an, dass er bisher noch nicht die geringste Ahnung hat, wen er verhaften soll.«

Sherlock Holmes nahm von den bestürzten Mienen der beiden Männer keine Notiz.

»Ich bitte um die Handfesseln«, sagte er kurz. »So«, fuhr er fort, als ihm der Kapitän das gewünschte Schließzeug übergeben hatte, »nun folgen Sie mir.«

Schnellen Schrittes ging er über das Deck, stieg eilig die Treppen hinunter, bis er oberhalb des Maschinenraumes stand. Nun warf er einen hastigen Blick hinunter.

»Der Mann vor der zweiten Feuerung«, raunte er Wilson zu, »aber schnell, ohne Besinnen.«

Wie der Blitz sausten die beiden Männer die letzte Treppe hinab.

»Holla, Mann«, rief Holmes. Der Angerufene blickte erstaunt auf.

»Verflucht«, schrie er im nächsten Augenblick und versuchte zu entfliehen. Aber die Arme des Beamten hielten ihn wie mit eisernen Klammern gepackt, während ihm Sherlock Holmes die Handfesseln anlegte. Eine Handfes­sel saß ihm bereits am Arm. Der Detektiv hatte aber nicht zur rechten Zeit auch den anderen ergreifen können. Wild schlug der Verbrecher um sich – da – ein Schreckensschrei – Holmes taumelte getroffen zurück.

»Haltet ihn, er ist der Mörder von Robert Norton!«, schrie er noch gellend, dann brach er bewusstlos zusammen.

»Vorwärts, Leute, ihm nach«, befahl der Kapitän, und mit wilden Sätzen ging es dem Flüchtigen nach, die Treppe hinab, einen staubigen Gang entlang.

»Er sitzt im Kohlenbunker«, rief ein Matrose, »von dort kann er nicht weiter.«

Schon drängten die Heizer zum Eingang des Bun­kers, da erdröhnte drinnen ein Schluss. Grabesruhe herrschte plötzlich.

»Er hat sich selbst gerichtet«, sagte eine Stimme. Holmes war es, der sich inzwischen erholt hatte und nachgeeilt war. »In dem Grab, in welches er sein Opfer gebettet hatte, hat er sich selbst getötet. Sehen Sie her«, wandte er sich an den Kapitän, »hier an seinem Taschentuch, das ich oben in seiner Kajüte gefunden habe, findet sich der Kohlenstaub, den er sich von Händen und Gesicht abgewischt hat. An dem Abend, an dem er sich ausbooten ließ, hat er sein Opfer in die unteren Räume des Schiffes gelockt, es erschlagen und durch die obere Luke in den Kohlenbunker gestürzt, weil er wusste, dass hier kein Mensch nachsuchen würde.«

In wenigen Augenblicken flammten elektrische Flam­men im Bunker auf – dort lag der Mörder mit durchschossener Stirn – er war tot.

Nach einer Stunde emsigen Schaufelns kam die Leiche Robert Nortons zum Vorschein. Der Schädel war ihm eingeschlagen und der Ringfinger der linken Hand abgeschnitten. Der Mörder hatte den Verlobungsring, den Norton wohl die vier Jahre ununterbrochen getragen hatte, nicht abziehen können und deshalb mit dem Finger kurzen Prozess gemacht.

 

Am nächsten Tag hatte sich eine zahlreiche Ge­sellschaft bei Sherlock Holmes zusammengefunden: Wilson, Walter Wortmann, Edith Sommerfield und Harry.

»Mr. Holmes«, redete der junge Advokat den Detektiv an, »ich bin gekommen, um Ihnen Abbitte für die Beleidigung zu leisten, welche ich Ihnen zugefügt habe. Vergeben Sie mir.«

Lachend schlug Holmes in die ihm entgegengestreckte Hand.

»Sie sind der genialste Detektiv«, fuhr Wortmann fort, »den London, ja die ganze Erde besitzt, und ohne Ihren Scharfsinn wäre das Verbrechen niemals aufgedeckt worden.«

Sherlock Holmes lachte still vor sich hin.

»Was nützt mir aller Scharfsinn, wenn ich keine Gelegenheit zu seiner Verwendung finde; hier kam er mir nur zustatten bei Lösung eines Bilderrätsels. Aber auch Glück muss ich haben, denn wie hätte ich bei allem mir zugeschriebenen Scharfsinn nur ahnen können, dass sich Grübli, um sich die Rückfahrt nach Amerika zu verschaffen, gerade auf der MARIE LOUISE als Heizer hatte engagieren lassen und mir so in die Hände fallen musste.«

»Sie haben nicht allein Glück gehabt, Mr. Holmes«, flüsterte Walter Wortmann ihm zu, »sondern auch Glück gebracht. Ich denke, in einem halben Jahr werden Sie von Neuem von uns hören – das wird aber kein Bilder­rätsel sein.«

Ende

Als nächster Band erscheint

Die Spürnase des Oberkellners