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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 6 – 10. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 6
Der verschwundene Bräutigam
10. Kapitel

Zwei Minuten zu spät

Am nächsten Morgen schritt der Detektiv in seinem Zimmer unruhig auf und ab. Hin und wieder warf er einen hastigen Blick zur Uhr.

»Hoffentlich hat sie meinen Vorstellungen Gehör ge­geben und macht keine Torheiten. Es steht alles auf dem Spiel, und ist der Ausgang nicht abzusehen, wenn sie auch nur ein Wort von unsrer Zusammenkunft ver­lauten ließe.«

Da klingelte es draußen. Holmes hörte, wie Harry öffnete. Das Rauschen von Damenkleidern drang aus dem Vorzimmer herüber.

»Sie ist es«, flüsterte er.

Die Tür tat sich auf, und Edith Sommerfield trat etwas verwirrt aussehend herein.

»Sie wünschen mich zu sprechen, Mr. Holmes«, sagte sie, »ich glaube wohl nicht irre zu gehen in der Annahme, dass es sich um unsere große Sache handelt. Wie ich mitgeteilt habe, ist mein Bräutigam gesund und munter jetzt zurückgekehrt. Ich weiß, was Sie sagen wollen«, setzte sie hastig hinzu, »nein, Sie haben sich geirrt. Er selbst hat das Geld von der Bank abgeholt und er selbst hat auch beide Briefe von New York an mich ge­schrieben. Als ich den Verlobungsring, den ich ihm selbst geschenkt hatte, an seinem Finger sah, da musste natürlich jeder Verdacht schwinden, und ich bin glücklich, dass sich alles so schön aufgeklärt hat.«

»Ihr Herr Bräutigam ist also an dem Tag, an welchem er sein Vermögen abhob, hier in London an­gekommen?«, fragte der Detektiv leichthin.

»Ja gewiss; er hatte sich dann eine Wohnung ge­mietet, konnte aber nicht so schnell zu mir kommen, weil er einen Rückfall seiner Krankheit bekam und mehrere Tage das Bett hüten musste.«

»Und nun ist auch wohl bald die Hochzeit in Sicht?«

»Wir haben noch nicht davon gesprochen, aber nach seinem letzten Brief, den Sie ja selbst gelesen haben, wird er wohl nicht länger warten wollen.«

»Was wird Mr. Walter Wortmann, der Sohn Ihres Vormundes, zu diesem merkwürdigen Ausgang der Sache sagen?«, fragte Holmes, der der Dame einen Sessel hin­geschoben hatte.

»O, der Arme, dem ich so grausam Unrecht getan habe, weiß von Roberts Rückkehr noch nichts; ich fürchte«, setzte sie tief errötend hinzu, »er wird schwer unter der Nachricht leiden.«

»Nun, vielleicht wendet sich auch für ihn noch alles zum Besten. Ich bin Ihrem Bräutigam im Übrigen noch in derselben Nacht, die auf unsere erste Begegnung folgte, im Kristallpalast begegnet.«

Edith blickte den Detektiv erstaunt an.

»Das muss doch ein Irrtum Ihrerseits sein«, er­widerte sie, »denn mein Bräutigam hat ja, wie er mir sagte, an jenem Tag hier schon krank gelegen.«

»Ein Irrtum meinerseits ist völlig ausgeschlossen«, versetzte Sherlock Holmes lächelnd, »aber lassen wir das vorläufig. Haben Sie eine Ahnung, aus welchem Grund Ihre Cousine Helene Ihre Wohnung so plötzlich ver­lassen hat?«

»Nein, nicht im Geringsten; was sie bewogen hat, mich ohne ein Wort der Aufklärung zu verlassen, ist mir rät­selhaft.«

»Und von ihren Habseligkeiten wird nichts vermisst?«

»Nicht das Geringste; nur ihre Briefe scheint sie sämtlich mitgenommen zu haben; wenigstens war die Schub­lade, in der sie dieselben, wie ich weiß, aufbewahrte, ganz leer.«

Sherlock Holmes nickte zu diesen Worten, wie zu etwas Selbstverständlichem, dann erhob er sich.

»Es ist mir gelungen, Miss Edith, die Wohnung Ihrer Cousine zu ermitteln. Vielleicht begleiten Sie mich zu ihr und beruhigen Sie sie. Ich denke mir, dass eine gegenseitige Aussprache viel zur Klärung der Sachlage dienen und die Ärmste wieder zu Ihnen zurückkehren wird.«

»O, ich wäre Ihnen sehr dankbar, Mr. Holmes, wenn Sie das vermitteln wollten. Denken Sie doch nur, sie ist ganz mittellos und seit vielen Jahren völlig von mir abhängig. Dieser Umstand hat sie wohl verbittert, obwohl ich mich stets bemüht habe, ihre gerade nicht beneidenswerte Lage so viel als möglich zu erleichtern. Im Übrigen kennt sie auch meinen Bräutigam und dessen Familie. Wenn ich nicht irre, ist sie einmal Erzieherin in einem Haus gewesen, das mit der Familie Norton im Verkehr stand.«

»Wo mag dies wohl gewesen sein?«, fragte Holmes, der sich zum Gehen fertig gemacht und Harry einen Wink gegeben hatte.

»In der Schweiz«, erwiderte Edith unbefangen.

In Sherlock Holmes’ Antlitz leuchtete es auf. Es schien, als ob eine seiner Berechnungen wieder einmal stimmte.

»Haben Sie Ihrem Bräutigam mitgeteilt, dass Sie mich heute aufsuchen würden?«, fragte er, als sie sich auf der Straße befanden.

»Nein; ich kam ja gar nicht dazu, weil ich Ihre Karte erst heute Morgen erhielt, und es überhaupt un­gewiss ist, ob mein Bräutigam mich heute besucht.«

»Es ist besser, wir nehmen eine Droschke, um schneller vorwärtszukommen«, meinte der Detektiv. »Es ist eine ziemlich entfernte Gegend, in welcher Ihre Cou­sine sich ihre neue Wohnung ausgesucht hat.«

Harry war plötzlich verschwunden, sodass Holmes und Edith allein fahren mussten. Holmes war sehr un­ruhig geworden; von Zeit zu Zeit blickte er zum Droschkenfenster hinaus, als ob er jemand auf der Fahrt anzutreffen hoffte.

»Aber was tun Sie da?«, rief Miss Sommerfield erschreckt, »Sie ziehen einen Revolver aus Ihrer Bein­kleidtasche und stecken ihn in Ihre Paletottasche. Haben Sie Furcht, bei meiner Cousine irgendeiner Gefahr zu begegnen?«

»Nicht im Geringsten«, versetzte Holmes lächelnd, »beunruhigen Sie sich nicht; es ist lediglich eine An­gewohnheit von mir, mich meines Revolvers zu ver­sichern, wenn ich in eine etwas unheimliche Gegend komme, und dass es hier etwas unheimlich ist, werden Sie selbst zugeben.«

Die junge Dame blickte zum Fenster hinaus; Holmes hatte recht. Sie befanden sich am Weichbild Londons; ungepflegte Gärten wechselten mit wüsten Plätzen; nur selten stand ein Haus an einer der noch ungepflasterten Straßen.

Edith schauderte zusammen.

»Und hier wohnt Helene? In dieser abgelegenen Gegend? Wenn ich nur ahnen könnte, was sie von mir fortgetrieben hat.«

Nun gab Holmes dem Kutscher ein Zeichen zum Halten.

»Steigen Sie aus, Miss Edith«, wandte er sich an seine Begleiterin, »es ist besser, Sie lassen Ihren Schleier herunter, damit Sie nicht zu früh erkannt werden können.«

»Aber hier ist ja noch kein Haus«, rief Edith entsetzt.

»Wir müssen den Rest des Weges gehend zurück­legen«, erwiderte Holmes, »und nun bitte, gehen Sie nicht neben mir, sondern hinter mir; lassen Sie überhaupt so wenig wie möglich von Ihrer Person sehen, wir sind im Übrigen bald zur Stelle.«

An einem Bretterzaun machte der Detektiv Halt.

»Sehen Sie dort das kleine Haus?«, fragte er das junge Mädchen, dem ganz unheimlich zumute war.

»Das mit den grünen Fensterläden?«

»Jawohl; es scheint nur von einer Partei bewohnt zu sein.«

»Und hier soll sich meine Cousine aufhalten? Das ist doch unmöglich.«

Sherlock Holmes war hinter den Zaun getreten und blickte zur Stadt zurück. Er schien noch jemand zu erwarten, doch ließ sich weder ein Wagen noch ein Fußgänger blicken.

»Aber warum gehen wir denn nicht zu Helene?«, fragte Edith etwas ungeduldig.

»Weil ich noch auf meinen treuen Harry warte«, war die Antwort.

»Ich kann wirklich nicht einsehen, was der Bursche mit unserem Besuch zu tun hat; mein Gott, ich werde allein hingehen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Sie weichen nicht von meiner Seite«, rief Holmes in strengem Ton. »Ah«, flüsterte er, als das Rollen eines Wagens, dessen Pferde in schärfstem Trab liefen, an sein Ohr schlug, »sie kommen.«

Er war unwillkürlich vorwärts gegangen, dem von ihm bezeichneten Haus zu, gefolgt von Edith, die das Benehmen des Detektivs nicht enträtseln konnte. Sie mochten noch 20 Schritte von dem Grundstück entfernt sein, als plötzlich ein furchtbarer Schrei ihnen entgegen klang.

»Was war das?«, rief Edith, welche vor Schreck ganz blass geworden war.

»Herr des Himmels«, schrie Holmes, auf das Haus zustürmend, »sollten wir doch zu spät gekommen sein!«

Ohne sich um seine Begleiterin zu kümmern, lief er vorwärts, so schnell ihn seine Füße tragen mochten. Edith folgte willenlos nach.

»Das Haus ist verschlossen«, rief der Detektiv, an der Tür rüttelnd. Da – er horchte auf. Klang es im Inneren nicht, als ob eine Tür zugeworfen wurde?

»Er ist noch drin«, zischte Holmes, indem er ein Brecheisen, das er in seinem Spazierstock verborgen trug, hervorholte und mit voller Wucht gegen eine der Tür­füllungen stieß. Wieder und wieder sauste die schwere Stange hernieder, bis das Brett in Trümmer zersprang.

Im Nu war Holmes durch die Öffnung gekrochen, den gespannten Revolver in der ausgestreckten Hand haltend; nun sprang er in dem Hausflur empor; sofort fanden seine tastenden Finger den Schlüssel, der im Schloss der Haustür steckte; in derselben Sekunde stand auch schon Edith neben ihm.

»Rühren Sie sich nicht von der Stelle«, flüsterte er ihr zu. Dann stieß er die nächste Zimmertür auf. Einen Moment stand er erwartungsvoll hinter dem Türpfosten, ob nicht eine Revolverkugel ihm entgegenflöge. Aber nichts geschah, nur ein leises, schmerzliches Stöhnen ließ sich vernehmen.

Ein Sprung – und Holmes befand sich mitten im Zimmer.

»O, der Schuft«, flüsterten seine Lippen, die vor Erregung bebten, »er hat also, wie ich ahnte, reinen Tisch gemacht.«

»Helene, Unselige«, schrie Edith auf, die mit bangem Vorgefühl hereingetreten war, »wie kommst du hierher!«

Da lag mitten im Zimmer ausgestreckt der Körper des vermissten Mädchens. Aus einer tiefen Brustwunde floss unaufhaltsam das Blut.

Edith war neben der Unglücklichen niedergesunken, die stöhnend und ächzend nach Luft rang, nun bewegte sie die Lippen, als sie Edith erkannte. Sie wollte ihr wohl noch etwas Wichtiges mitteilen, doch ihre Kräfte versagten; nur noch ein krampfhaftes Zucken ging durch den Körper, blutiger Schaum trat ihr auf die Lippen, und sie war tot.

»Kommen Sie fort von diesem Ort«, wandte sich Holmes an Miss Sommerfield, welche in fassungsloses Weinen ausgebrochen war. Schon war er im Begriff, sie fortzuführen, als mehrere Männer eilig in das Zim­mer drangen.

»Holmes, was um Himmels willen ist hier vor­gegangen?«

Es war der Polizeiinspektor Wilson mit seinen Leuten, der mit dem Wagen, den Holmes vorhin gehört hatte, herangekommen war. Harry hatte ihn herbeigerufen.

»Ein Mord, wie du siehst«, erwiderte Holmes, der noch immer Edith, die sich nicht zu fassen vermochte, im Arm hielt.

»Und der Täter?«

»Deine Leute werden ihn nicht mehr finden; er hat sich gut vorgesehen, denn dort hinten stand ein Automobil, auf dem er wohl gekommen war und auf dem er nun das Weite gesucht hat.«

»Wer aber ist die Unglückliche?«, warf Wilson ein, der nun nähergetreten war und die Leiche in Augen­schein nahm.

Holmes hatte inzwischen Miss Sommerfield zu einem Stuhl geführt, der in einer Fensternische stand.

»Beruhigen Sie sich, Miss Edith«, redete er ihr mit sanfter Stimme zu, »ich bin überzeugt, dass Ihre Tränen sofort versiegen werden, wenn Sie meine Mitteilungen gehört haben werden.«

Verständnislos wandte Edith ihm ihr tränenfeuchtes Gesicht zu.

»Sehen Sie sich die Unselige noch einmal genau an«, fuhr der Detektiv mit erhobener Stimme fort, »da liegt die Mörderin Ihres Bräutigams, des unglücklichen Robert Norton.«

Die junge Dame war vom Stuhl aufgesprungen, wie entgeistert starrte sie Sherlock Holmes an. Unwill­kürlich war sie einen Schritt vor ihm zurückgewichen. War der Mann geisteskrank geworden? Litt er an einer fixen Idee, dass er immer wieder auf die Ermordung ihres Bräutigams zurückkam, der doch lebte und den sie selbst gestern noch umarmt hatte?

Auch der Inspektor Wilson räusperte sich etwas verlegen.

»Du wirst uns nun wohl endlich vollkommene Klar­heit über deine Nachforschungen geben müssen, lieber Holmes«, sagte er, »du siehst ein, dass manches in deinen Handlungen – denke nur an den Diebstahl der Brief­tasche – einem Uneingeweihten nicht ganz einwandfrei erscheinen muss.«

»Nun denn«, erwiderte Sherlock Holmes, »so will ich dir und Miss Sommerfield den einfachen Zusammen­hang der Dinge erzählen:

Wie erinnerlich, fiel aus dem Brief, der Miss Sommerfield den Unfall ihres Bräutigams meldete, ein Blatt Zeitungspapier heraus, ein Bilderrätsel. Nach meiner Überzeugung sollte dieses Papier einer dritten Person in Miss Sommerfields Umgebung irgendeine Mitteilung machen. Es ist mir ein Leichtes gewesen, festzustellen, dass der Schlüssel von Miss Ediths Schreibtisch den Tisch­kasten ihrer Cousine Helene aufschloss. Folglich musste deren Schlüssel auch den Schreibtisch öffnen. Als ich noch dabei war, die Probe zu machen, fiel mir unter den an den Wänden hängenden Fotografien das Bild eines jungen Mannes auf, der eine ganz enorme Ähnlichkeit mit Robert Norton hatte, dessen Fotografie ich in der Tasche hatte. Dein Laien freilich wäre diese Ähnlichkeit nicht ins Auge gefallen. Da ich mich aber fast täglich mit dem Vergleich von Fotografien, namentlich der ein­zelnen Teile des Gesichts, beschäftige, war bei mir gar kein Zweifel mehr, dass die Cousine Helene diejenige war, welche die Läden zu der geheimnisvollen Sache in der Hand hatte, und für welche das Bilderrätsel bestimmt war.

Wer war der Absender des Bilderrätsels?

Ich weiß nicht, Miss Edith, ob Ihre Cousine darüber Klage geführt hat, dass ihr mehrere Löschblätter aus der Schreibmappe entwendet worden sind. Nicht? Nun, dann hat sie darauf nicht Acht gegeben. Genug, ich riss mehrere Blätter aus der Mappe, weil ich mir sagte, dass sie mit dem geheimnisvollen Absender des Bilderrätsels in Korrespondenz stehe und die Adresse sicherlich wieder­holt auf die Löschblätter gedrückt habe.

Da sich nun auf diesen die Buchstaben verkehrt ge­stellt befinden mussten, stellte ich die Löschblätter dem Spiegel gegenüber und fotografierte nun das Spiegel­bild, das mir die einzelnen Buchstaben in ihrer richtigen Lage wiedergab.«

»Und Sie haben den Namen entdeckt?«, rief Edith, die mit wachsender Spannung zugehört hatte.

Sherlock Holmes lächelte ein wenig.

»Sie überschätzen mich, wie Sie mich bis heute unter­schätzt haben. Nein, ich konnte den Namen, auf den es mir ankam, nicht entziffern, wenigstens nicht vollständig entziffern; ja, hätte ich die Auflösung des Bilderrätsels gekannt, dann hätte ich gewusst, dass es sich um keinen englischen, irischen oder französischen Namen handelte, auf die ich immer hinaus war.«

Sherlock Holmes machte eine Pause und beobachtete die Gesichtszüge seines Freundes Wilson. Er schien mit dem Eindruck, den die Erzählung seiner Kombinationen auf diesen gemacht hatte, zufrieden zu sein.

»Du hast also das Bilderrätsel, das im vorliegenden Fall den Schlüssel zu der unbekannten Verbindung des mutmaßlichen Täters bildete, entziffert?«, fragte der Polizeiinspektor mit sichtlicher Unruhe.

»Ja«, erwiderte Holmes, »ich habe es erraten. Es war für die deutsche Sprache berechnet.«

»Ha«, rief Miss Sommerfield auffahrend, »meine Cousine hatte während ihres Aufenthaltes in der Schweiz Deutsch gelernt und konnte sich auch ganz gut in dieser Sprache verständigen.«

»Und wie lautete die Lösung?«, fragte Wilson ge­spannt.

»Sie lautet: Ende gut, alles gut. Der Absender war also in diesem Augenblick sicher, dass ihm sein Vorhaben glücken, dass ihm sein Opfer nicht mehr entgehen könne. Wie ich in New York habe feststellen lassen, ist der Brief mit dem Bilderrätsel nur einige Stunden vor Abgang des Schiffes, das den Täter samt Robert Norton nach England führen sollte, auf die Post gegeben. Wahrscheinlich hat er nicht verhindern können, dass der Brief, den der wirkliche Norton absandte, eben­falls spediert wurde.«

Edith Sommerfield war wieder auf den Stuhl ge­sunken.

»Ich werde wahnsinnig«, sagte sie halblaut, sich mit beiden Händen die Schläfe pressend, »meine Cousine, für die ich wie für eine Schwester gesorgt habe, eine Ver­räterin, womöglich eine Mörderin, und der Mann, der mich gestern als mein Bräutigam umarmt hat, ebenfalls ein Mörder – nein, das ist unfassbar, das kann nicht sein. Ich habe den Verlobungsring bei ihm gesehen, ja Robert Norton selbst wiedererkannt.«

»Du deutetest vorher an, dass es dir nach Lösung des Bilderrätsels auch möglich gewesen ist, den Namen des Mannes zu entziffern, mit welchem jene Unglückliche in Korrespondenz gestanden hat?«, warf Wilson ein.

Sherlock Holmes blickte auf Edith Sommerfield, die ganz in sich zusammengesunken dasaß.

»Ganz recht; den Namen habe ich auch heraus­bekommen.«

»Um Gotteswillen«, schrie das junge Mädchen auf »doch nicht Walter – Walter Wortmann?«

Lächelnd schüttelte Holmes den Kopf.

»Nein«, erwiderte er, »ich kann Ihnen die Ver­sicherung geben, dass Walter Wortmann nichts mit der Untat zu tun hat. Ihre Vorwürfe, welche Sie ihm an jenem Abende machten, waren grundlos.«

Edith atmete sichtlich auf.

»Sie geben mir das Leben wieder«, flüsterte sie, »ich hätte es nicht ertragen.«

»Der Name, Sherlock«, drängte Wilson.

»Der Mörder des unglücklichen Norton und dieses Mädchens hier heißt: Hermann Grübli.«

»Hermann Grübli«, rief Edith aufspringend, »das ist ja der rechte Vetter Roberts.«

»Und der Geliebte Ihrer Cousine Helene«, ergänzte Holmes. »Zweifellos haben sie sich in der Schweiz kennengelernt und dort oder im Laufe ihres Briefwechsels den Plan zur Beiseiteschaffung des Robert Norton und Ab­hebung seines Vermögens ausgeheckt. Die große Ähnlichkeit der beiden Vettern hat ihnen wohl die Veran­lassung zu dem Verbrechen gegeben.«

»Aber ich begreife nicht«, versetzte das Mädchen, das sich angstvoll an den Arm des Detektivs gehängt hatte, »warum, wenn es sich wirklich so verhält, wie Sie sagen, jener Grübli noch zu mir gekommen ist und die Unglückliche dort ermordet hat? Er hatte doch das Vermögen ab­gehoben?«

»Der Grund hierzu liegt für mich und meinen Freund Wilson ganz nahe. Ich hatte nämlich durch einen sehr geschickten Taschendieb jenem Menschen die Brieftasche mit dem ganzen erbeuteten Vermögen stehlen lassen. Jetzt befand er sich in einer furchtbaren Lage; er hatte sehr wahrscheinlich seiner Mitschuldigen Versprechungen ge­macht, auf deren Erfüllung jene drang; wollte auch wohl schnell London verlassen, um womöglich wieder ins Aus­land zu gehen, und nun fehlten ihm alle Mittel hierzu. Er hat va banque gespielt; hat auf seine wirklich auffallende Ähnlichkeit mit Robert Norton und auf den Umstand gerechnet, dass Sie, Fräulein Edith, nach vierjähriger Tren­nung das Bild Ihres Bräutigams doch nicht so sehr mehr im Gedächtnis haben würden, dass Ihnen bei seinem Erscheinen Zweifel kommen würden. So wollte er denn einen Gewaltstreich ausführen, sich Ihnen als Ihren Bräutigam zu erkennen geben, Sie heiraten, um so we­nigstens in den Besitz Ihres Vermögens zu kommen. Dabei war ihm die Cousine Helene sehr im Wege. Er musste sie unter allen Umständen beiseiteschaffen. Er lockte sie unter irgendeinem Vorwand aus Ihrer Wohnung hierher und machte sie für immer stumm; ich bin zwei Minuten zu spät gekommen.«

»Lassen Sie mich ins Freie«, bat Edith, »ich kann den Anblick hier nicht länger ertragen.«

Sie ging an den beiden Männern vorüber aus dem Haus.

»Lieber Holmes«, wandte sich Wilson an den De­tektiv, »ich kann nur bedauern, dass ich von Anfang an deinem Gedankengange nicht gefolgt bin. Allerdings hätte ich auch diesen Mord nicht verhindern können, ebenso wie es dir unmöglich gewesen ist. Was ich tun kann, ist, so bald wie möglich den Haftbefehl gegen diesen Grübli zu erwirken.«

»Schau. Hier hast du die Depeschen aus New York, nach welchen Grübli und Norton zusammen mit dem­selben Schiff, und zwar der in Hamburg beheimateten MARIE LOUISE, abgefahren sind. Wie mir ein Lotse bestätigt, hat sich Grübli auf der Höhe von London aus­booten lassen.«

»Und Norton?«

»Ist in Hamburg nicht angekommen; hier die be­treffende Depesche. Die Leute auf der MARIE LOUISE haben angenommen, er sei in jener Nacht mit Grübli zusammen von dem Lotsenkutter aufgenommen worden.«

»Aber sein Verbleib?«

Sherlock Holmes zuckte die Achseln.

»Denke darüber nach, lieber Wilson«, versetzte er, »beide Personen haben dem Kapitän gegenüber geäußert, sich nach London ausbooten zu lassen. Beide müssen also an dem Tag, wo sie auf den Lotsenkutter stießen, noch auf dem Schiff gewesen sein.«

»Der Grübli wird seinen Verwandten über Bord gestoßen haben, als der Kutter anlegte«, meinte Wilson.

»Das ist nicht anzunehmen. Vergegenwärtige dir die Lage auf dem Schiff; die Matrosen hatten zwei Passagiere dem Kutter signalisiert; der Kutter legte bei. Grübli sprang am Fallreep hinab ins Boot und musste, wie sich jetzt herausstellt, damals doch schon den Verlobungsring des Norton sowie den Scheck, den er in London bei Barrow & Co. präsentierte, im Besitz ge­habt haben.«

»Es gibt dann nur eine Lösung: Grübli hat Norton auf dem Schiffe ermordet.«

»Ganz meine Meinung, mein lieber Wilson«, ver­setzte der Detektiv zustimmend.

»Sollte man auf dem Schiff aber den Ermordeten bisher nicht gefunden haben?«

»Bestimmt nicht; sonst würde die Depesche aus Ham­burg darüber etwas melden.«

»Du meinst demnach, dass der Leichnam, denn damit muss man jetzt rechnen, sich noch im Schiff befindet?«

»Ich glaube in dieser meiner Ansicht nicht fehl zu gehen.«

»Dort steht ein Kästchen«, meinte Wilson, »welches vielleicht Briefschaften enthält, die für den Mörder sehr verhängnisvoll werden könnten.«

»Du kannst ja zu deiner Beruhigung nachsehen, aber ich kann dir jetzt schon sagen, dass du die Stätte leerge­brannt finden wirst. Ein Mensch, wie dieser Grübli, der alles von Anfang an genau berechnet und vorgesehen hat, wird sicherlich nicht so schwerwiegendes Beweisma­terial in den Händen seiner Mitschuldigen lassen. Womöglich hat es sich gerade um Herausgabe der Briefe ge­handelt, als er ihr den Todesstoß versetzte.«

Wilson hatte sich überzeugt, dass das Kästchen tat­sächlich leer war.

»Du wirst guttun, die Kleidertaschen der Ermordeten zu durchsuchen«, riet Sherlock Holmes, »vielleicht wird deine Mühe dort mehr belohnt.«

Der Polizeiinspektor griff in die Tasche des Morgen­rockes, den das Mädchen bei Grüblis Besuch überge­worfen hatte. Außer einer Taschenbürste war jedoch nichts vorhanden.

Beim Betasten der Kleider hörte er jedoch vernehm­lich das Knittern von Papier. Er brauchte nicht lange zu suchen. In einer ziemlich versteckt gehaltenen Tasche eines Unterrocks fand sich ein sorgsam zusammengebundenes Päckchen.

»Es sind durchweg Bilderrätsel«, rief Wilson nach kurzer Besichtigung.

»Also eine Bestätigung meiner Behauptung, dass wir es hier mit einem außerordentlich geriebenen Schuft zu tun haben. Er wusste, wie gefährlich ein offen geführter Briefwechsel mit seiner Mitschuldigen werden konnte. Da­rum verabredete er alles Notwendige mit ihr durch Bilderrätsel. Zur Absendung des Letzten hatte er keine Zeit mehr; darum steckte er es in den an Miss Edith ge­richteten Brief. Er wusste genau, dass Helene die Brief­schaften ihrer Cousine durchstöberte und ihr auf diese Weise das Bilderrätsel in die Hände fallen musste.«

Wilson hatte inzwischen einem Beamten Auftrag zur Herbeiholung der Gerichtskommission gegeben.

»Ich habe hier nichts mehr zu tun«, wandte sich Hol­mes an seinen Freund. »Du kannst ja den Herren Bericht erstatten über unsere Feststellungen und über die Person des Täters.«

»Lebe wohl, hoffentlich teilst du mir mit, ob sich deine Mutmaßungen in Bezug auf die Leiche des unglücklichen Robert Norton bestätigt haben. Es wird dir nichts an­deres übrig bleiben, als nach Hamburg zu reisen und an Ort und Stelle die Nachforschungen vorzunehmen.«

»Du vergisst, mein Lieber, wie viel Wochen seit der Abfahrt der MARIE LOUISE von New York verflossen sind, und dass das Schiff schon wieder seine Tour von Hamburg aus aufgenommen hat.«

Wilson blickte dem Detektiv prüfend ins Gesicht.

»Es müsste mich alles täuschen, wenn du nicht schon deine Maßregeln bezüglich des Schiffes getroffen hast«, sagte er dann.

»Du irrst dich nicht; heute Abend legt die MARIE LOUISE an den Westindien-Docks an, und ich werde dem Kapitän einen Besuch abstatten.«