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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 6 – 9. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 6
Der verschwundene Bräutigam
9. Kapitel

In Todesangst

Er musste auf kurze Zeit ohnmächtig gewesen sein. Als er wieder zu sich kam und umhertastete, entdeckte er, dass er auf dem steinernen Boden des Kellerraumes lag.

Was hatte man mit ihm vor? Wollte man ihn hier verhungern lassen? War er denn wirklich schon aus der Reihe der Lebenden gestrichen? Sollte es ihm nicht vergönnt sein, die Sache, die nun so aussichtsreich für ihn geworden war, glücklich zu Ende zu führen? Hatte er irgendwelche Hoffnung, aus diesem furchtbaren Grab von dritter Hand errettet zu werden?

Sein junger Gehilfe Harry würde ihn morgen früh allerdings vermissen; aber er hatte ja keine Ahnung, wo­hin sich sein Herr begeben hatte. Der einzige Mensch, der um seinen Aufenthalt im Fliegenden Holländer wusste, war der Lotse. Aber dieser Mann ahnte nicht einmal, dass er in der berüchtigten Schenke zurückgeblieben war.

Nein, von der Außenwelt hatte der Detektiv keine Hilfe zu erwarten; er war auf sich allein angewiesen.

Mit schmerzenden Gliedern erhob er sich von dem harten Fußboden. Als ein wahres Wunder musste er es betrachten, dass er beim Sturz nicht Hals und Beine gebrochen hatte. Sein Kerker entsprach genau der Größe der darüberliegenden guten Stube. Hier an der Außenwand musste eine Klappe oder eine Tür sich be­finden; das ergab sich aus dem Luftzug, der aus einer Ritze in den Keller drang und aus einem Lichtschimmer.

Sollte es keinen Ausgang aus diesem Grab geben? Sherlock Holmes klopfte mit der Faust ringsum die Wand ab. Nur hier an der Außenwand erklang ein hohler Ton, wie von einer eisernen Tür.

»Hier ist ein Ausweg«, flüsterte der geängstigte Mann, »wenn es eine Hoffnung gibt, von diesem Ort des Schreckens zu entfliehen, dann kann ich nur hier die Hebel ansetzen?«

Holmes zwängte seine Finger in die kleinen Fugen, um sich zu überzeugen, ob er die Tür bewegen konnte. Aber sie rückte und rührte sich nicht.

»Alles vergebens«, seufzte er, »ich muss abwarten, was das Geschick über mich beschlossen hat. Denn ich kann und will nicht daran glauben, dass ich jetzt, un­mittelbar vor der Ermittlung eines Mörders, hier so elend zugrunde gehen soll. Es sollte in der Vorsehung, die mich so oft als ihr Werkzeug benutzt hat, beschlossen sein, mich schon jetzt, wo ich erst meine Lebensaufgabe halb erfüllt habe, beiseite zu legen?«

Er war im Begriff, sich auf den harten Steinboden zu setzen, als die Hand, die er ausgestreckt hatte, um einen Sitz zu suchen, entsetzt zurückfuhr.

War dort nicht Wasser, wo kurze Minuten vorher noch der trockene Stein gewesen war?

Holmes horchte. Ein leises Rieseln erklang von der Außenwand her. Das musste in der Nähe der eisernen Tür sein. Es war kein Zweifel, er tappte im Wasser, das in den Keller dringen musste.

Nun hatte er die Tür erreicht; merkwürdig, die Fugen schienen weiter geworden zu sein. Er konnte oben fast einen Finger einzwängen, und nun entdeckte er, dass gerade durch diese Fugen, und zwar am Boden des Kellers, das Wasser eindrang.

»Ich weiß genug«, murmelte er, »ertränken will man mich, wie man hier wohl Hunderte von Menschen ertränkt hat. Es ist jetzt Flutzeit, und mit jedem Steigen des von der See in die Themse drängenden Wassers steigt auch das Wasser in diesem meinen Grab. Irgendein Mörder reguliert die Klappe, und wenn dieser Raum mit Wasser sich gefüllt hat, wird die Klappe geschlossen.

Was macht es, wenn die Flut später einen Unglück­lichen an das Ufer der Themse spült, es ist eben ein Ertrunkener mehr; wer kann sagen, wie sich der Un­glücksfall zugetragen hat.«

Unruhig schritt er in seinem Käfig umher; seine Gedanken jagten sich; fieberhaft quälte sich sein Gehirn zum Ersinnen von Plänen, dem fürchterlichen Tod zu entgehen. Das Wasser reichte ihm schon weit über die Knöchel; er sah deutlich, wie die Klappe sich oben weiter geöffnet hatte, vielleicht zwei Finger breit.

Mit der Kraft der Verzweiflung packte er mit beiden Händen die obere Kante und zerrte daran, als ob er sie zerbrechen oder aus ihren Angeln reißen wollte. Doch vergebens war sein Tun; nicht einen Zoll breit wich der eiserne Deckel seines Grabes. Jetzt sah er in dem Dämmerschein, der durch den immer breiter werden­den Spalt hineindrang, wie die Klappe an eisernen Ket­ten hing, die von draußen dirigiert wurden.

Sein brennender Blick konnte sich von ihnen nicht losreißen; er sagte sich, dass nur an dieser Klappe seine Rettung hing, wenn es überhaupt noch eine Rettung für ihn gab.

Schon reichte ihm das Wasser bis zu den Knien; handbreit erst hatte sich die Klappe aufgetan. Er konnte sie bequem mit den Händen erreichen. Von Zeit zu Zeit klammerte er sich mit beiden Fäusten daran, ob es ihm gelänge, sie so weit hinunterzuziehen, dass er sich hindurch­zwängen konnte.

Aber die Kräfte eines Riesen hätten hierzu nicht ausgereicht, und so musste er in ohnmächtiger Wut und mit knirschenden Zähnen zusehen, wie das Wasser Zoll um Zoll wuchs. Da – ein Rasseln der Ketten, die Klappe hatte sich tiefer gesenkt, und in breitem Strom ergoss sich das trübe Themsewasser in den Keller. Die Zeit mochte den Mördern oben lang werden, sie wollten ihm schneller den Garaus machen.

Was hatten sie auch von einem Menschen zu fürch­ten, der höchstwahrscheinlich mit gebrochenen Gliedern im Keller angekommen und wohl schon ertrunken war. Niemals war es noch vorgekommen, dass ein Mensch aus diesem nassen Grab lebendig zum Vorschein gekommen war.

Die Klappe hatte sich wieder um einige Zoll gesenkt. Die Öffnung, durch die nun in weitem Bogen das Wasser flutete, war schmal. Selbst wenn sie noch weiter geöffnet gewesen wäre, hätte nur ein schmaler Körper es unternehmen können, hindurchzuschlüpfen.

»Ah«, murmelte Sherlock Holmes, »nur einige Zoll, dass ich auf die Kante der Klappe in Stütz springen könnte, ich wäre gerettet und wenn ich auch halb ertränkt draußen auftauchte.«

Wir wissen, dass der Detektiv eine hagere, schmale Person war, aber mit Muskeln wie von Stahl. Das systematische Trainieren des Körpers hatte ihm außer­gewöhnliche Kräfte und eine Geschmeidigkeit gegeben, wie sie nur noch Akrobaten eigen war.

Wieder rückte die eiserne Klappe nach unten. Das Wasser ging dem Unglücklichen schon bis unter die Schul­tern. Zweifelnd blickte er die Öffnung an. Ein bis zwei Minuten mochte er so abwartend gestanden haben, da durchzuckte ihn ein jäher Schreck. Hatte die Klappe nicht eine Bewegung aufwärts gemacht? Waren die Mörder daran, sie langsam zu schließen?

»Herr Gott im Fimmel«, schrie Holmes laut, »steh mir in dieser meiner schwersten Stunde des Lebens bei!«

Wie von einer Sprungfeder emporgeschnellt, von Wasser unterstützt, sprang er empor. Hätte er nicht genau den Abstand der Kante der Klappe von der Decke des Kellers abgeschätzt, so hätte er sich den Schädel bei dem gewaltigen Sprung einrennen müssen. Aber er hockte in Armstütz auf der Klappe.

was machte es ihm aus, dass er fast ertränkt von dem Wasserschwall war; hin und wieder konnte er doch Atem schöpfen. Da fühlte er ein Beben der Klappe, an der er hing. Er hatte sich nicht getäuscht, sie wurde lang­sam emporgewunden.

»Vorwärts, vorwärts«, spornte er sich an, »sonst ertrinke ich hier, oder werde zu Tode gequetscht.«

Seine langen Beine suchten an dem Mauerwerk einen Stützpunkt. Sie fanden ihn glücklich, und nun schob er seinen Oberkörper durch die Öffnung.

Noch ein Schwung, ein Drücken, ein Abstoßen mit den Beinen, und tief hinein tauchte er in die lehmige Flut, indem er Gott seine Seele befahl.

 

Harry, der Gehilfe des Detektivs, war im Vorzim­mer seines Dienstherrn sanft eingeschlafen. Vergebens hatte er auf ihn gewartet. Nun hörte er im halben Traum, wie ein Wagen vor dem Haus hielt und jemand die Treppe hinaufstürmte.

»Mr. Holmes«, rief er bestürzt dem Eintretenden entgegen, »um Gottes willen, wie sehen Sie aus?«

»Schnell, bezahle den Kutscher unten und hole mir den Doktor Watson.«

Harry stürzte davon. Nach kaum 10 Minuten befand er sich wieder in der Begleitung des Arztes an dem Lager des Detektivs.

»Was ist denn geschehen?«, rief Dr. Watson, das entstellte Gesicht des Freundes besorgt betrachtend.

»Ich bin tatsächlich eben dem Grab entstiegen«, erwiderte Holmes.

Der Arzt prüfte den Puls des Kranken.

»So«, sagte er zu Harry, »wir können wenigstens zufrieden sein, dass er sich zu Bett gelegt hat, was wir bei früheren Krankheitsfällen nicht haben erreichen kön­nen; fürs Erste, absolute Ruhe. Kein Mensch wird vorgelassen. Bei dem Fieber, das Mr. Holmes durchtobt, kann jede Aufregung seinen Tod zur Folge haben. Ich mache Sie für sein Leben verantwortlich.«

Harry sann einen Augenblick nach, dann schien ihm ein glücklicher Gedanke gekommen zu sein.

»Ich schraube die Klingel ab«, flüsterte er dem Arzt zu.

»Das ist gut, damit bin ich einverstanden.«

Am dritten Tag hatte die Riesenstatur des Detektivs über die Krankheit gesiegt. Treulich hatte Harry am Bette Wache gehalten; nur den Arzt hatte er zugelassen.

»Harry«, rief Holmes, als er fieberfrei im Bett saß, »was ist in der Zwischenzeit eingetroffen?«

Der Getreue holte flink die Post herbei. Begierig griff Holmes nach einer Depesche, welche aus New York eingetroffen war. Nur aus wenigen Worten bestand das Telegramm, aber es musste den Detektiv völlig befriedigen.

»Marie Louise«, flüsterten seine noch etwas blut­leeren Lippen, »ich werde den Namen wohl nie vergessen. Was ist noch vorgefallen?«

»Miss Edith Sommerfield ist heute Vormittag hier gewesen und hat Sie sprechen wollen«, erwiderte Harry.

»Aber«, setzte er stolz hinzu, »ich habe sie nicht angehört, obgleich sie wohl viel auf dem Kerzen hatte.«

Finster hatte Holmes zugehört.

»Du bist ein ausgemachter Esel«, rief er erzürnt. »Falls Miss Sommerfield nochmals kommt, meldest du sie sofort. Ich muss sie hören, und wenn ich sie im Bett empfangen sollte.«

»Sie kommt aber nicht mehr«, versetzte Harry be­trübt.

»Warum nicht?«

»Weil sie soeben einen Brief geschickt hat.«

Hastig riss Holmes seinem niedergeschlagenen Ge­hilfen das zierliche Kuvert aus der Hand. Er las:

Sehr geehrter Mr. Holmes.

Meinem Versprechen, Ihnen alles, was mir Be­merkenswertes begegnet, mitzuteilen, komme ich hier­durch nach; und so bringe ich zu Ihrer Kenntnis, dass seit heute früh meine Cousine Helene aus meiner Wohnung verschwunden ist. Einen Grund hierfür kann ich nicht finden. Heute Vormittag ist endlich mein Bräutigam Robert Norton zu mir zurückgekehrt. Alle Ihre Vermutungen über seine Ermordung sind zum Glück hinfällig geworden. Ich danke Ihnen trotzdem für Ihre Bemühungen, und wollen Sie mir baldigst Ihre Liquidation einsenden.

Ergebenst Edith Sommerfield.«

Langsam ließ Sherlock Holmes den Brief auf die Bettdecke gleiten.

»Ich glaubte, er würde davon Abstand nehmen; aber was blieb ihm jetzt anderes übrig? War Dr. Watson etwa heute Vormittag schon hier, während ich schlief?«

»Nein, Mr. Holmes, aber ich glaube, er kommt ge­rade die Treppe herauf.«

Der Angekündigte stand nach wenigen Minuten vor dem Kranken.

»Nun, mein Freund«, redete er diesen an, »schon wieder im Geschäft, wie ich sehe? Ich hätte dich gern noch acht Tage ans Bett gefesselt, um deinen Nerven einmal ordentlich Erholung zu gönnen.«

»Kann ich morgen aufstehen?«, fragte Holmes kurz, »das heißt, ohne Schaden für meine Gesundheit meinen Geschäften nachgehen?«

»Du wirst dich von mir doch nicht halten lassen. Dein Fieber ist völlig verschwunden. Wenn du dich also kräftig genug fühlst, magst du ruhig ausgehen.«

»Ich danke dir, du bist ein verständiger Arzt. Und nun muss ich dich schon bitten, mich allein zu lassen. Ich habe noch manches zu überdenken, denn es handelt sich jetzt um den Schluss einer Tragödie.«

»Nun denn, viel Glück; adieu.«

»Harry«, sagte Sherlock Holmes bald darauf, »abgesehen von deiner Torheit, die du aber begangen hast, um mich zu schonen, bist du ein ganz verständiger Mensch. Du hast schon öfter mir Beweise deiner Geschicklichkeit und Gewissenhaftigkeit gegeben. Ich könnte mich in der Sache, die mich augenblicklich beschäftigt, an Mr. Burns und seine Leute wenden, aber die Zeit drängt. Es handelt sich, wenn ich mich nicht irre, um ein Menschenleben.«

»O, Mr. Holmes«, bat Harry, »übertragen Sie mir die Sache. Sie wissen, dass ich mindestens ebenso viel leiste, wie die windigen Burschen von Burns. Sie brauchen mir nur die Richtschnur zu geben, an die ich mich zu halten habe.«

Der Detektiv hatte inzwischen einen Schreibblock ge­nommen und mit eilender Feder seine Anweisungen ge­geben.

»So«, sagte er, »lies dir dies durch; wann glaubst du, mit deinen Feststellungen fertig zu sein?«

Harry überflog die Zeilen, dann blickte er zur Uhr.

»Es ist zwei Uhr mittags«, sagte er, »um acht Uhr bin ich wieder hier, und dann ist alles erledigt.«

»Gut; wenn dir alles gelungen ist, und ich zweifle hieran keinen Augenblick, so springe zu Miss Edith Sommerfield heran und bringe ihr diese Karte.«

Harry steckte die Schriftstücke sorgfältig in seine Bluse; dann schwenkte er hoffnungsfroh die Mütze und stürmte davon.

»Arme Frau«, murmelte Holmes nachdenklich, »ich werde sie kaum retten können; aber sie hat sich ihr eigenes Grab gegraben.«

Fortsetzung folgt …