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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 6 – 8. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 6
Der verschwundene Bräutigam
8. Kapitel

Im fliegenden Holländer

An den Ufern der Themse, am Hafen, dort, wo die weniger tief gehenden Schiffe und die Leichterfahrzeuge liegen, befinden sich unzählige Wirtshäuser, nur zum Besuch von Matrosen und Arbeitern berechnet. Diese Gegend wird zur Nachtzeit von jedem, den nicht ein dringendes Geschäft hierherführt, ebenso gemieden wie der übel berüchtigte Stadtteil Whitechapel.

Es war am späten Nachmittage, als ein großer hagerer Herr an den Hafenanlagen unweit London-Bridge umherschlenderte. Er schien keinen besonderen Zweck mit seinem Spaziergang zu verbinden, nur hin und wieder blickte er zu der Lotsenstation, wo von Zeit zu Zeit Signale, die jeder Landratte unverständlich sind, aufge­zogen wurden.

Jetzt öffnete sich die Haupttür der Station, und heraus traten eine Anzahl stämmiger Leute, denen man ihren Seemannsberuf schon von Weitem ansah. Ihr Dienst mochte für heute beendet sein, denn sie zerstreuten sich nach allen Seiten. Nur wenige, vielleicht Unverhei­ratete, standen am Hafen unschlüssig umher oder gingen in die Kneipen.

Der hagere Herr ließ seinen prüfenden Blick über sie gleiten. Auf einem, der allein seinen Weg verfolgte, blieb er haften. Er hatte nur wenige Schritte zu machen, um an seine Seite zu kommen.

»Nun«, fing er ein Gespräch mit dem Seemann an, »ist der Dienst für heute beendet?«

»Ganz recht, Sir, bis morgen früh haben wir frei.«

»Doch wohl ein aufreibender und verantwortungs­voller Beruf, dieser Lotsendienst?«

»Soll wohl sein, Sir; aber immer noch besser als jahraus jahrein der Sklavendienst als Matrose an Bord.«

»Könnt Ihr mir nicht einmal von Euren Abenteuern erzählen? Kommt mit, wir trinken einen Grog drüben in der Kneipe.«

Der Fremde wies aufs Geratewohl nach einem Haus, das als Schild ein großes, altertümliches Segel­schiff zeigte, das von einem blassen Schimmer umgeben war.

Zum Fliegenden Holländer wollt Ihr, Sir?«, fragte der Seemann, sich bedenklich hinter dem Ohr kratzend.

»Wenn Ihr ein besseres Wirtshaus wisst, wollen wir dorthin gehen; mir soll es recht sein.«

»Im Grunde genommen sind sie alle gleich«, ver­setzte der Lotse und schritt auf den Fliegenden Holländer zu. Dichter Tabaksqualm und der scharfe Geruch von Whisky, Brandy und Grog empfing sie. Ein halbes Dutzend Gäste, wüste Gesellen, denen die Rohheit und Trunkenheit auf dem Gesicht geschrieben stand, saßen zerstreut an den einzelnen Tischen. Mit misstrauischen Blicken musterten sie die beiden Ankömmlinge, besonders den hageren Herrn, der sich aber um sie nicht im Geringsten kümmerte.

»So«, sagte er, als die dampfenden Gläser vor ihnen standen, »nun spinnen Sie einmal Ihr Garn; habt wohl manche stürmische Nacht auf dem Lotsenkutter durchge­macht?«

»Will’s meinen, Sir. Wenn der Sturm die Wellen haushoch auftürmt und ein Schiff durch die Signale einen Lotsen verlangt, muss der, den die Reihe gerade trifft, hinaus. Oft kann der Kutter am Schiff nicht an­legen vor Wellengang, dann muss dem Lotsen ein Seil zugeworfen werden, mit welchem er manchmal mitten durch die Wellen aufs Schiff gezogen wird.«

»Kommt es wohl vor, dass auch Passagiere von den auf hoher See befindlichen Lotsenkuttern aufgenommen werden?«

Der Lotse blickte ihn verständnislos an.

»Ich meine«, fuhr der Hagere fort, »ob Sie sich erinnern, dass Passagiere von Schiffen, die nicht den Kurs auf London haben, sich ausbooten und von Lotsenkuttern nach London befördern lassen?«

»O ja, wenn der Kutter sowieso zum Hafen zurückfahren will, nimmt er es nicht so genau und ver­dient sich das Passagiergeld. Bin selbst vor ungefähr 10 Tagen dabei gewesen, wie sich ein Passagier eines deutschen Schnelldampfers, der Kurs auf Hainburg hatte, ausbooten und von uns hier absetzen ließ.«

Der Hagere trank einen Schluck des scharfen Ge­tränkes und ließ es langsam durch die Kehle gleiten.

»Und … der Name … des Dampfers«, fragte er mit heiserer Stimme.

»Kann es nicht sagen, Sir«, erwiderte der Lotse gleichmütig, »weiß nur, dass es eine Frauensperson als Galion hatte, wird also wohl einen Weibernamen führen.«

»Würdet Ihr wohl den Passagier auf einer Foto­grafie wiedererkennen?«

»Nicht unmöglich, Sir; habe ja mit den anderen Lotsen zusammen mit jenem hier an Land noch einige Glas Grog getrunken; könnte schon sein, dass ich ihn wiedererkenne.«

Der Fremde zog eine Fotografie hervor und hielt sie dem Lotsen entgegen.

»Weiß Gott, Herr, das ist er, wie er leibt und lebt.«

Über Sherlock Holmes zog es wie ein Wetterleuchten. Ruhig steckte er das Bild wieder ein.

»Ein deutsches Schiff«, flüsterte er, »ich komme dem Ende meiner Aufgabe immer näher.«

Der Lotse musterte ihn mit etwas misstrauischen Blicken.

»Ihr seid doch nicht etwa ein Policeman?«, fragte er so laut, dass die anderen Gäste aufhorchten.

»Nicht um die Welt«, versicherte der Detektiv kalt­blütig.

»Es sollte mir auch leidtun, dem Gentleman Unan­nehmlichkeiten zu bereiten, denn er zeigte sich uns gegen­über sehr nobel, zahlte sogar das zweifache Passagier­geld, weil uns der andere Passagier entgangen war.«

»So«, meinte Holmes in gleichgültigem Ton, »wollten denn zwei Reisende von dem deutschen Schiff sich ausbooten lassen?«

»Jawohl, zwei waren uns signalisiert. Es kamen auch die Gepäckstücke von den beiden, aber nur der eine Reisende, dessen Bild Ihr mir zeigtet, kam vom Fallreep zu uns in den Kutter gestiegen.«

»Das ist doch merkwürdig«, meinte Holmes.

»Ja, auf dem deutschen Schiff schien man unruhig zu werden; denn man suchte anscheinend nach einer Per­son, wie wir aus dem Rufen entnahmen.«

»Und was wurde denn schließlich aus der Sache?«, fragte der Detektiv, sich eine Zigarette drehend.

»Unser Passagier schrie hinauf, dass der Gesuchte schon unten sei.«

»Und dabei beruhigte sich der Deutsche?«

»Es muss wohl so gewesen sein, Herr; es war ja, wie ich Euch sagte, finstere Nacht, sodass man nicht die Hand vor Augen sehen konnte. Wir glaubten selbst zuerst an die Versicherung unseres Passagiers. Unser Kapitän war nicht schlecht unwillig, als er merkte, dass er nur einen Passagier statt zwei an Bord hatte. Aber der Fremde zahlte gutwillig den doppelten Überfahrtpreis und meinte, er habe sich in der Dunkelheit selbst geirrt. Das konnten wir ihm schon glauben.«

»Wann war dies ungefähr?«, forschte Holmes.

»Es können 10 Tage her sein.«

»Und wie lange fahren die Dampfer von New York bis London?«

»Nun, Sir, die Deutschen fahren mit ihren Wind­hunden 5 Tage, eher weniger denn mehr.«

Sherlock Holmes zog seinen Taschenkalender her­vor und rechnete nach. Dann schrieb er einige Zeilen auf ein Blatt des Notizblocks, riss es heraus und gab es dem Lotsen.

»Bringt dies so schnell wie möglich zum Telegrafen­amt; hier habt Ihr eine Pfundnote; bezahlt damit die Gebühren und behaltet, was Ihr herausbekommt. Macht schnell, Mann, jede Minute ist kostbar; ich will inzwischen unsere Getränke bezahlen.«

Der Lotse nahm sich kaum Zeit, sein Glas auszutrinken; er hatte nur einen Blick in die Depesche geworfen, dann war er davongestürmt.

Sherlock Holmes hatte seine Börse gezogen, um die Zeche zu begleichen. Er blickte sich nach dem Wirt um, den er noch kurz zuvor am Schanktisch gesehen hatte: Er war verschwunden.

Der Detektiv war ein mutiger Mann. Schon wieder­holt hatte er dem Tod kühn ins Auge geblickt; aber in diesem Momente, als er die sechs Burschen sah, wie sie sich mit mordlüsternen Augen von ihren Plätzen er­hoben hatten und seine Börse, seinen in der Abendsonne funkelnden Brillantring anstarrten, seine goldene Uhrkette musterten – nun überlief es ihn eiskalt.

Er wusste, dass er in dem Moment, wo er zu seinem in der hinteren Beinkleidtasche steckenden Revolver grei­fen wollte, verloren sei. Er sah voraus, dass sechs paar Mörderfäuste sich schneller um seinen Hals legen wür­den, als er eine Kugel unter diese Bande geschleudert hätte.

Nun fiel ihm die Warnung des Lotsen vor dem Fliegenden Holländer ein. Zu spät; es gab kein Zu­rück mehr für ihn.

Langsam blickte er einen nach dem anderen an.

»Na, Jungs«, sagte er kaltblütig, »ich soll wohl eure Zeche mitbezahlen? Gut, holt den Wirt, ich werde euch heute freihalten.«

Wie auf Kommando waren die sechs Burschen auf ihn zugetreten; im Nu hatten sie ihn umringt.

»Deine Börse her«, flüsterte der eine, ein schwarz­bärtiger Matrose, mit heiserer Stimme, »wir werden selbst bezahlen.«

Noch ehe Holmes ein Wort erwidern konnte, war ihm das Geld entrissen, der Ring vom Finger gezogen, Uhr und Rette genommen, sogar der Revolver.

»Es ist ein Policeman«, rief einer von der Bande, der augenscheinlich zu kurz gekommen war. »Der Lotse hat es auch gemeint. Schlagt den Spitzel tot.«

»Seid Ihr wahnsinnig?«, rief Holmes, um sich schla­gend, »sehe ich wie ein Policeman aus? Mögt ihr be­halten, was ihr mir abgenommen habt: Lasst mich nun fort, ich habe keine Zeit mehr, mich mit euch herumzubalgen.«

Ein brüllendes Gelächter antwortete ihm.

»Schön«, schrie der Schwarzbärtige, »wollen ihn gehen lassen, aber durch die gute Stube.«

Sherlock Holmes blickte sich um. Der Weg durch die Tür, zu welcher er vorher mit dem Lotsen eingetreten war, war ihm versperrt, aber neben dem Schanktisch sah er eine zweite Tür, die ebenfalls ins Freie zu füh­ren schien. Ohne sich um die Räuber noch zu kümmern, schritt er auf diese Tür zu. Merkwürdigerweise wurde er weder verfolgt noch sonst belästigt.

Er stieß die Tür auf und befand sich nun in einem kleinen Gemach ohne jegliches Mobiliar. Nur ein Fen­ster, das zum Wasser hinauszuführen schien, war vorhanden, aber keine weitere Tür als die, durch welche er soeben eingetreten war.

Er rüttelte an derselben – sie war verschlossen. Die Burschen, deren Gebrüll ihm noch in den Ohren klang, waren nun still. Nichts regte sich im Schankzimmer.

»Ich bin verloren«, murmelte der Detektiv, wenn ich mich nicht durch das Fenster rette.«

Mit einem Satz wollte er hinaufspringen, aber in demselben Augenblick, in welchem er zum Sprung ansetzte, ereignete sich etwas, das ihm die Haare zu Berge stehen ließ.

Er fühlte nämlich, wie sich der Fußboden unter seinen Füßen an einer Seite abwärts bewegte, sodass er eine schräge Fläche bildete. Er musste an der einen Seite in einem Scharnier hängen.

Ein Schrei entrang sich der Kehle des zu Tode erschreckten Mannes; er sah, dass es auf seinen Tod abgesehen war. Er strengte alle Kräfte an, um das Fenster zu erreichen, vergebens. Von irgendeiner Stelle aus musste er beobachtet werden, denn sowie er sich auf dem schrägen Fußboden vorwärtsbewegen wollte, senkte sich dieser sofort.

Nun zeigte sich schon zwischen Wand und Diele ein Spalt, in den Augen des Detektivs ein Abgrund, in den er hineingeschleudert, ein Grab, in das er lebendig ver­senkt werden sollte. Noch nie war ihm der Tod in so grausiger Gestalt entgegengetreten. Da – ein Ruck, ein Geräusch wie von Ketten – der Fußboden wich völlig beiseite, und mit einem fürchterlichen Schrei stürzte Sherlock Holmes in die Tiefe.