Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 6 – 7. Kapitel
Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 6
Der verschwundene Bräutigam
7. Kapitel
Die Brieftasche
Um die Mittagszeit des nächsten Tages klopfte es an Sherlock Holmes’ Tür.
»Mr. Wilson«, meldete der Diener.
»Lass ihn sofort eintreten, Harry«, befahl der Detektiv. »Du weißt, dass Mr. Wilson von der Kriminalpolizei mein Freund ist, den du stets ungemeldet eintreten lassen kannst.«
»Sehr wohl, Mr. Holmes.«
Mr. Wilson blieb einen Augenblick wie gebannt in der Tür stehen.
»Aber lieber Holmes«, rief er hüstelnd, »wie ist es nur möglich, in dieser Luft zu atmen. Gestatte, dass ich das Fenster öffne, um dem Tabakrauch etwas Abzug zu verschaffen.«
»Geniere dich nicht«, versetzte der Angeredete, sich auf seinem Diwan, auf dem er vorher der Länge nach gelegen hatte, zurechtsetzend.
»Was in aller Welt treibst du denn«, fuhr Wilson fort, sich einen Sessel heranziehend, »ich erwartete kaum, dich zu Hause anzutreffen, weil ich dich auf Recherchen in deiner famosen Mordsache vermutete.«
»Ich löse Rätsel«, war die trockene Antwort.
»Bilderrätsel, wie ich sehe.«
»Ganz recht, du glaubst nicht, wie derartiger Zeitvertreib den Geist schärft.«
Der Polizeiinspektor lachte laut auf.
»Nun, das muss ich sagen«, rief er, »ich sah dich im Geist die Kaschemmen und Spelunken absuchen nach dem Mörder des armen Robert Norton, und du beschäftigst dich hier mit solchen Nichtigkeiten.«
Holmes richtete sich ein wenig aus seiner bequemen Lage empor.
»Nichtigkeiten?«, wiederholte er, »was in der Welt ist nichtig? Der Schmutz, der an deinen Stiefeln klebt, ist an deinen Stiefeln gewiss nichtig, und doch erzählt er mir ganz unzweideutig den Weg, den du gekommen bist.«
»Da wäre ich aber wirklich neugierig«, versetzte der Polizeibeamte, erstaunt auf seine Fußbekleidung blickend.
»Also zunächst hast du keinen Wagen genommen, sondern bist bei dem schönen Wetter zu Fuß gegangen.«
»Stimmt; nun weiter.«
»Du gingst durch den Hyde Park und trafst dort einen Bekannten, mit dem du dich längere Zeit unterhieltest. Dich interessierte das Thema nicht, du wurdest ungeduldig, gingst dann an den Strand und von dort durch die Nordstraße hierher.«
»Hol mich dieser und jener«, rief Wilson aufspringend, »und das willst du alles von meinen Stiefeln ablesen? Wenn ich dich nicht in so derangierter Toilette sähe, würde ich annehmen, dass du mich heute observiert und den ganzen Vormittag über verfolgt hättest.«
Der Detektiv stopfte sich, ohne eine Miene zu verziehen, eine neue Pfeife.
»Also, du wartest auf die Lösung, die im Übrigen so einfach ist, dass ich mich ihrer kaum rühmen kann; ich bin überzeugt, dass sogar einer deiner Leute, wenn ihm Gelegenheit gegeben würde, deine Stiefel gründlich zu betrachten, sie finden würde.«
Der Inspektor lächelte etwas verlegen.
»Ich will ihn doch lieber nicht auf die Probe stellen«, sagte er, »nun aber heraus mit der Sprache.«
»An deinem Stiefel befindet sich so viel Straßenschmutz, dass du durchaus den Weg zu Fuß zurückgelegt haben musst. Wie ich dir bereits sagte, gingst du durch den Hyde Park, denn in ganz London existiert nur dort diese schwarze Erde, wie sie an deinen Stiefeln klebt.«
»Schön, aber das Zusammentreffen mit einem Bekannten?«, rief Wilson gespannt.
Nachlässig deutete der Detektiv auf einen runden Schmutzfleck auf der Spitze des rechten Stiefels seines Freundes.
»Wer so eingeweiht ist in die Gewohnheiten seiner Bekannten, wie ich, lieber George, dem kann es nicht entgehen, dass du mit der Spitze deines Stockes, an welchem noch das gesegnete Erdreich des Hyde Parkes klebte, deinen Stiefel malträtiertest. Du warst also auf deinem Gang aufgehalten worden. Eine Sache, die dich besonders interessierte, kann es nicht gewesen sein, weil du dann sicher nicht die Muße gehabt hättest, deiner üblen Gewohnheit nachzugehen. Das Nächstliegende ist also eine Begegnung mit einem Bekannten, der dich mit seinem Gespräch langweilte.«
»Ich muss zugeben, dass bisher alles zutrifft.«
»Dass du am Strand warst, beweist der allerdings nur schwach vorhandene Geruch von Fischen, und dass dein Weg dich über die Bordstraße hierhergeführt hat, wird durch den feinen roten Ziegelstaub bewiesen, der deinen Stiefeln anflog, als du den Rohbau der Englisch- Amerikanischen Bank passiertest.«
Wilson reichte dem berühmten Mann die Hand.
»Wirklich, Sherlock«, sagte er mit warmem Ton, »du verdientest der Superintendent unserer Kriminalpolizei sein; was würdest du mit deinem Scharfsinn alles erreichen.«
»Oder auch nicht, mein Freund«, versetzte Holmes, »zwinge mich täglich an den Schreibsessel, lass mich Hunderte von gleichgültigen Aktenstücken durchlesen, und ich werde ein unglücklicher Polizeischreiber und gehe schließlich am Gehirnschwund zugrunde.«
Der Polizeiinspektor seufzte tief auf.
»Du hast recht; nur in der Ungebundenheit kann sich ein Talent entwickeln. Sei zufrieden, dass du kein Amt hast, das dich an allen Ecken einzwängt. Aber bist du nicht neugierig, den Grund zu erfahren, weshalb ich zu einer so ungewöhnlichen Stunde zu dir komme?«
»Nein!«
»Du würdest riesig gespannt sein, mein Freund, wenn du ihn wüsstest!«
»Ich weiß ihn.«
Wilson lachte dem Detektiv laut ins Gesicht.
»Was ich selbst vor einer Stunde noch nicht wusste, das willst du wissen?«
»Ganz recht.«
»Ich wette hundert Pfund, dass du keine Ahnung hast.«
Holmes schüttelte den Kopf. »Ich wette niemals.«
Er legte beide Hände auf die Schultern des Freundes und blickte ihn durchdringend an. Dann sagte er, jedes Wort betonend: »Du bist zu mir gekommen, um mir mitzuteilen, dass Robert Norton, oder vielmehr derjenige, der sich für diesen ausgibt, bei dir vor einer knappen Stunde die Anzeige erstattet hat, dass ihm in der Wallstreet von einem Taschendieb seine Brieftasche mit ungefähr 19.000 bis 20.000 Pfund Sterling aus der inneren Tasche seines Rockes gestohlen worden sei.«
Der Polizeiinspektor Wilson wich unwillkürlich vor dem Detektiv zurück. Er hatte vor Überraschung sogar die Farbe gewechselt.
»Das muss ich sagen«, versetzte er langsam, »du bist gut bedient; entweder, du hast mit Robert Norton selbst gesprochen, und das kann nach meiner Auffassung nicht möglich sein, oder du …« Er stockte einen Augenblick und sah seinen Freund misstrauisch an.
»Sprich ruhig weiter«, ermunterte ihn Holmes.
»Oder du stehst mit dem Taschendieb in direkter Verbindung.«
»Ich bewundere deinen Scharfsinn; du hast es erraten.«
»So kennst du den Dieb?«
»Gewiss; ich weiß sogar, wo sich in diesem Augenblick das gestohlene Geld befindet.«
Das Gesicht des Polizeiinspektors wurde rot vor innerer Aufregung.
»Dann gibt es nur eine Lösung: Du bist der Anstifter dieses Taschendiebstahls.«
Sherlock Holmes setzte sich wieder bequem auf seinem Diwan zurecht.
»Und wenn dem so wäre?«
»So hättest du dich einer schweren Straftat schuldig gemacht.«
»Straftat?«, wiederholte der Detektiv, »wenn ich einem Räuber, einem Mörder das geraubte Gut wieder abjagen ließ?«
»Und ich sage dir, deine Idee von der Ermordung des Robert Norton ist ein Produkt deiner Fantasie; ich habe den Menschen selbst kennengelernt und zweifle keinen Augenblick, dass er der wirkliche Norton ist, der auf der in deinen Händen befindlichen Fotografie dargestellt ist.«
»Da sind wir eben verschiedener Meinung.«
»Wirst du ihm das gestohlene Eigentum zurückgeben lassen?«, fragte Wilson nach einer Weile.
»Ich denke nicht daran.«
»So werde ich dich zu zwingen wissen. Lebe wohl.«
Sherlock Holmes hielt den aufgeregten Mann am Ärmel fest.
»Einen Augenblick; du weißt, dass ich dir zugestanden habe, der Mitschuldige jenes Taschendiebes zu sein.«
»Gewiss.«
»Du kennst aber doch auch das englische Gesetz, nach welchem ein Beschuldigter nicht gezwungen werden kann, gegen sich oder seinen Mitschuldigen eine Aussage zu machen. Ich bitte dich also, beruhige dich und lasse meinen Maßregeln freien Spielraum. Du kennst mich wohl genug, um zu wissen, dass der Mann bei Heller und Pfennig sein Eigentum zurück erhält, wenn ich mich geirrt habe.«
Einige Minuten zauderte Wilson.
»Nun«, sagte er endlich, »mag es drum sein; hoffentlich siehst du deinen unglückseligen Irrtum bald ein; lebe wohl!«
Er streckte dem Freund die Hand hin und wandte sich zum Gehen.
»Hat der Robert Norton dir seine Adresse hinterlassen?«, fragte Sherlock Holmes, herzhaft in die Hand einschlagend.
»Nein. Er sagte, er würde gelegentlich herankommen und sich nach dem Erfolg der Nachforschungen erkundigen.«
»Sehr vorsichtig, und nun adieu!«
Raum hatte sich die Tür hinter Wilson geschlossen, als Holmes eine rotlederne Brieftasche aus seinem Rock zog und mit unwilliger Bewegung auf den Tisch warf.
»Alles ist gelungen«, flüsterte er, »genau so, wie ich es mit Tom verabredet hatte, und doch alles umsonst. Da liegt das ganze Vermögen, was dieser Mensch von der Barrowbank abgehoben hatte und weswegen höchstwahrscheinlich ein Mord verübt worden ist, und das Wichtigste, nämlich die Passkarte, welche die rote Kitty in der Brieftasche gesehen hatte, ist nicht da.«
Sinnend stand er einen Augenblick da.
»Das einzig Gute bei der Sache ist, dass er, aller Mittel bar, so leicht nicht aus London fortkommt. Das Bilderrätsel, das Bilderrätsel, wenn ich es nur erst gelöst hätte.«
Wieder setzte er sich hin und betrachtete die geheimnisvollen Zeichen: ein Tau, einen Hut, dann ein Wirrwarr von Gegenständen, die er überhaupt nicht bezeichnen konnte, wieder ein Hut.
Er nahm seine Lupe und unterzog die Zeichen einer nochmaligen, aufmerksamen Untersuchung. Plötzlich fuhr er empor.
»Da ist in der Krempe des Hutes ein Buchstabe, den die Buchdruckerschwärze dem bloßen Auge vollständig verdeckt hatte; im zweiten Hut derselbe Buchstabe, augenscheinlich ein g.«
Nur einige Sekunden sann er angestrengt nach, dann richtete er sich langsam empor. Sein Gesicht war tiefblass vor Aufregung geworden.
»Beinahe hätte der junge Advokat Walter Wortmann mit seiner Behauptung, ich sei ein Esel, recht gehabt. Wer aber konnte ahnen, dass die Worte, welche diese Zeichen darstellen, der deutschen Sprache entnommen sind. Harry«, rief er seinem im Vorzimmer wartenden Vertrauten zu.
»Sie wünschen, Mr. Holmes?«
»Du hast Burns, der von mir hin und wieder kleine Aufträge bekam, selbst gesprochen?«
»Jawohl, Mr. Holmes.«
»Und was hat er dir gesagt?«
»Dass seine Leute in allen Londoner Schiffskontoren gewesen sind und festgestellt haben, dass ein Passagier namens Robert Norton unter den seit vier Wochen von New York nach London übergeführten Passagieren sich nicht befunden hat.«
»Gut; jetzt hole mir die fotografischen Abzüge, welche ich von den Löschblättern genommen hatte; sie werden nun trocken sein. Verdammt will ich sein, wenn ich nun, da ich ahne, dass es sich um einen deutschen Namen handelt, nicht die Adresse des angeblichen Robert Norton herauslese.«
In wenigen Augenblicken hatte der Detektiv die Blätter in den Händen. Lange prüfte er sie, oft verband er Schriftzüge, die anscheinend ohne Zusammenhang waren, durch Bleistiftstriche miteinander, und als sich immer wieder dieselben Worte zeigten, legte er die Abzüge beiseite.
»Harry«, sagte er zu dem Gehilfen, der ihn aufmerksam betrachtet und aus seinen Mienen entnomnen hatte, dass sich etwas ganz Außerordentliches ereignet hatte. »Lass dir von unserer Wirtin die Kellerschlüssel geben und suche die beste Marke Champagner heraus: Die Arbeit ist getan; was nun noch kommt, ist nur noch der Ausputz.«
Fortsetzung folgt …