Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 6 – 5. Kapitel
Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 6
Der verschwundene Bräutigam
5. Kapitel
Im Sektrausch
Im Ballsaal des Kristallpalastes befand sich um Mitternacht eine lärmende Menge. Sie setzte sich meist aus jungen Lebemännern der oberen Zehntausend und ihren Freundinnen zusammen. Ein jeder, der genug Geld im Beutel trug, um die recht teuren Genüsse der Ballnacht tragen zu können, hatte Eintritt.
Als Sherlock Holmes eintrat, war die Stimmung schon sehr animiert. Er hatte sich an einen Pfeiler gestellt, von wo aus er die Tanzenden gut übersehen konnte.
Eine rothaarige Schöne, die am Arm eines Herren an ihm vorbeischritt, warf ihm einen verheißungsvollen Blick zu. Unauffällig drängte er sich durch die Menge bis zu dem Platz, wo der Tänzer seine Dame soeben abgesetzt hatte.
»Gehen Sie zum Palmengarten«, flüsterte diese ihm zu. Kaum hatte Holmes hinter einer Gruppe von Azaleen Platz genommen, als das Rauschen seidener Gewänder ihn auf das Nahen der Tänzerin aufmerksam machte.
»Nun, schöne Kitty, etwas für mich?«, redete der Detektiv sie an, indem er einen Sessel für die Dame näher rückte.
»Ich weiß nicht, Mr. Holmes, ob meine Mitteilungen für Sie Wert haben werden. Immerhin handelt es sich um eine merkwürdige Persönlichkeit.«
»Weshalb kommt sie Ihnen merkwürdig vor?«, fragte Holmes gespannt.
»Nun, durch das ganze Auftreten des Mannes, das mit seinem Äußeren und seinen Manieren nicht in Einklang zu bringen ist.«
Schweigend zog der Detektiv die Fotografie von Robert Norton, welche er von Edith Sommerfield erhalten hatte, hervor.
»Ist er etwa dieser Mann?«
Erschrocken fuhr das Mädchen zurück.
»Sie können wohl hexen?«, rief sie, ihre Blicke starr auf das Bild heftend.
»Nein, das nicht; aber versetzen Sie sich in die Lage eines jungen Mannes, der, vielleicht jahrelang in kleinen Verhältnissen lebend, plötzlich zu Geld gekommen und vom Schicksal nach London verschlagen ist. Woraus wird wohl dieses Menschen Sinnen und Trachten zunächst gerichtet sein?«
»Sich nach Kräften zu amüsieren, für sein Geld das Leben in vollen Zügen zu genießen«, lautete die Antwort.
»Sehen Sie, Kitty, ich habe es immer gesagt, aus Ihnen kann noch einmal etwas werden. Sie haben schon eine ganze Menge von mir gelernt, und wenn Sie sich entschließen könnten, ein solides Mädchen zu werden, würden Sie mich im Bedarfsfalls sogar vertreten können.«
Die rothaarige Tänzerin lachte laut auf.
»Ich danke dafür, mich mit Verbrechern abzugeben und stündlich mit dem Tode bedroht zu sein. Lassen Sie mich, wie ich bin. Machen Sie keine Besserungsversuche, sondern begnügen Sie sich mit meiner gelegentlichen Hilfe.«
»Nun schön; wir sind aber von unserem Thema ganz abgekommen. Ich wollte Ihnen nur beweisen, dass es kein Kunststück ist, zu erraten, wohin ein junger vergnügungssüchtiger Mensch in London seine Schritte lenkt, um mit Anstand sein Geld ausgeben zu können.«
Kitty hatte sich wieder in den Anblick der Fotografie vertieft.
»Je mehr ich diese Züge ansehe, desto mehr bin ich überzeugt, dass es das Bild des Mannes ist, den ich meine.«
»Mir kommt es zwar vor, als ob dieses Gesicht hier etwas feiner ist als das des Fremden, aber es ist derselbe kurze Backenbart, dieselbe niedrige Stirn, derselbe feste Mund, dieselben Augen, also …«
»Stellt die Fotografie einen anderen dar«, ergänzte Holmes lachend, »aber gerade darum ist der von Ihnen beobachtete Mann der von mir gesuchte. Erzählen Sie mir, wodurch er Ihnen aufgefallen ist.«
»Zunächst durch seine ausgearbeiteten, großen Hände, die in direktem Widerspruch zu seiner eleganten Kleidung stehen. Dann durch seine auffallende Freigebigkeit. Er hat im Umsehen ein Dutzend gerade nicht der feinsten
Damen um sich versammelt und traktiert sie seit einer Stunde mit Sekt, sodass fast die ganze Gesellschaft betrunken ist.«
»Wo sind sie?«
»Im kleinen roten Salon.«
Der Detektiv sann einen Augenblick nach.
»Kitty«, sagte er dann, »Sie müssen mir einen Gefallen tun.«
»Handelt es sich um eine große Sache?«
»Das können Sie sich eigentlich selbst sagen.«
»Richtig, Sherlock Holmes gibt sich nicht mit Bagatellen ab; also was soll ich mit dem Kerl da machen?«
»Seinen Namen auskundschaften.«
»Hm, eigentlich nicht viel, aber unter Umständen recht schwierig.«
»Ich bewundere Ihren Scharfsinn, schöne Kitty; bei diesem Manne umso schwieriger, als er einen falschen Namen führt und alles daransetzen wird, seinen wahren zu verheimlichen.«
»Donnerwetter«, rief die Tänzerin, »und wie viel Zeit geben Sie mir zur Lösung dieser Aufgabe?«
Sherlock Holmes antwortete nicht sofort. Er zog vielmehr sein Portefeuille, langte eine Zwanzigpfundnote heraus und legte sie auf den Tisch.
»Diese Nacht«, sagte er mit harter Stimme.
»Gut«, rief Kitty, die Banknote an sich nehmend, »wenn es sein muss, muss ich es wagen. Halten Sie sich hier in der Nähe auf. Ich weiß noch nicht, wie ich an den Mann herankomme, und ob ich Sie nicht noch brauche.«
»Gut, ich bleibe hier.«
»Übrigens, wie nennt sich der Fremde mit seinem falschen Namen?«
»Robert Norton. Aber lassen Sie um Himmelswillen willen nicht merken, dass Sie ihn kennen.«
»Seien Sie unbesorgt. Adieu!«
Im nächsten Augenblick war sie hinter den hohen Gewächsen verschwunden. Der Detektiv zündete sich eine Zigarette nach der anderen an und versank in tiefes Sinnen. Was alles hatte sich im Laufe des Nachmittags und des Abends vor seinen Augen abgespielt! Er sah Edith Sommerfield mit den beiden sich widersprechenden Briefen vor sich, sah das geheimnisvolle Bilderrätsel zu Boden fliegen, hörte die leidenschaftliche Liebeserklärung des jungen Advokaten Walter Wortmann, sah den fremden Menschen die Wohnung Ediths beobachten. Die beiden Löschblätter aus der Schreibmappe ihrer Cousine fielen ihm ein, dann trat die rothaarige Kitty vor sein geistiges Auge …
»Armes Mädchen«, murmelte er, »vielleicht begibt sie sich in eine gefährliche Lage meinetwegen; aber ich kann ihr nicht helfen. Habe ich den Namen des Menschen, dann ist es mir ein Lichtes, das Schiff auszukundschaften, mit dem Robert Norton von New Port nach London gereist ist. Freilich kann Norton schon in New York ermordet sein, aber das ist höchst unwahrscheinlich, weil ich ja Tag für Tag die von der dortigen Kriminalpolizei herausgegebenen Depeschen las und nichts gefunden habe, was auf die Ermordung Nortons Hinweisen könnte.«
Er versenkte sich immer tiefer in seinen Fall. Bisher hatte er Glück genug gehabt; alle seine Kombinationen von dem Zeitpunkt ab, wo er die gefälschte Schrift erkannte, bis zum Aufsuchen des angeblichen Robert Norton im Kristallpalast hatten sich als richtig erwiesen. Nur ein Umstand konnte das ganze Gebäude stürzen, wenn nämlich die von ihm verfolgte Person der wirkliche Robert Norton war.
Konnte dieser nicht in New York krank geworden sein, konnte er nicht den Brief des unglücklichen Norton mit einem kranken Arm, mit einer unsicheren Hand geschrieben haben? Sollte Wilson doch recht haben?
»Nein, nein«, rief Sherlock Holmes fast laut, »mein Gefühl täuscht mich nicht; es ist nicht Robert Norton. Aber ich muss es erst beweisen. Wo Kitty nur bleibt?«
Unruhig erhob er sich und schlich zum roten Salon, wo sich die Tänzerin befinden musste. Von einer tiefen Fensternische aus konnte er das Zimmer übersehen. Dort an der Wand, welche an den großen Tanzsaal grenzte, herrschte großer Trubel. Mindestens ein Dutzend der gewerbsmäßigen Besucherinnen des Kristallpalastes schwärmten um einen Tisch, Sektgläser in der Hand; hin und wieder tauchte auf Sekunden der dunkle, kurz geschorene Kopf eines Mannes auf, augenscheinlich des freigebigen Fremden. Aber wo war Kitty?
Brausendes Gelächter erhob sich in diesem Augenblick an jenem Tisch. Irgendein Umstand, den Holmes nicht erraten konnte, musste die zechenden Personen ungeheuer amüsieren. Sollte Kitty damit in Zusammenhang stehen?
Er musste sich auf alle Fälle Gewissheit zu verschaffen versuchen. Vorsichtig schlich er näher; nun trennten ihn nur noch einige dicht mit Personen besetzte Tische von jenem Platz und da – ein leiser Fluch entfloh seinen Lippen. Dicht neben dem dunklen Kopf des von ihm gesuchten Mannes tauchte Kittys rotes Haupt auf. Die Tänzerin saß auf den Knien des Fremden, hatte den Arm vertraulich um seinen Hals geschlungen, und war betrunken.
»Sie ist verloren«, murmelte Holmes, eine Schattierung bleicher werdend, »wenn sie …«
»Du bist mein Freund«, hörte er Kittys lallende Stimme, »du bist mein einziger Freund; o, ich kenne dich … schon … lange. Du bist mein … Robert …«
Holmes sah, wie der Fremde bei diesem Namen trotz seiner Bezechtheit emporzuckte.
»Robert?«, fragte er, mit einem erzwungenen Lächeln um die Lippen, »woher kennst du mich?«
»Ach, was weiß ich«, rief Kitty lachend, »du heißt Robert Nor… Nor…, na, so ähnlich; habe … ich nicht … recht? Gieß mir wieder ein; Robert … dein Wohl.«
Noch einige Male goss sie den schäumenden Trank hinunter, dann stand sie auf und schwankte zum Palmensaal hin, anscheinend, um Sherlock Holmes aufzusuchen.
Dieser war ihr nachgegangen, nachdem er sich überzeugt hatte, dass der Fremde ruhig sitzen geblieben war.
»Unglückliche«, fuhr Holmes das Mädchen heftig an, »du hast mir alles verdorben.«
Verständnislos blickte Kitty ihn an.
»Verdorben? Alles verdorben?«, wiederholte sie, indem sie Halt an einer Palme suchte.
»Komm schnell fort, damit du nicht noch einmal mit dem Menschen zusammentriffst.«
Der Detektiv wollte die Betrunkene mit sich fortziehen, da er Tritte hörte, die sich ihm näherten; doch eigensinnig blieb Kitty stehen.
»Ich bleibe hier«, stieß sie hervor.
»Willst du noch mehr verraten?«, zischte Holmes ihr zu.
Die Tänzerin schien einen Moment zur Besinnung zu kommen.
»Hast du ihm nicht den Namen Robert Norton genannt, trotz meiner ausdrücklichen Warnung?«
Kitty griff sich an die Stirn.
»Robert Norton«, flüsterte sie nachsinnend, »aber wie war es damit? Ich hatte vorher seine Brieftasche ihm … aus dem Rocke gezogen; aus Scherz … und hineingesehen … und … eine Passkarte … gefunden …«
»Und der Name, Kitty, um Gotteswillen, den Namen, den du gelesen hast; nicht wahr, du hast ihn doch gelesen?«
»Ja, gewiss«, versetzte das Mädchen, »aber er lautete nicht Robert Norton.«
»Nun also, den anderen Namen, Kitty, besinne dich.«
Die Tänzerin hatte sich in einen Sessel sinken lassen.
»Ich will mich besinnen«, murmelte sie, »er wird mir einfallen; gewiss. Holen Sie mir eine Flasche Sodawasser.«
Sherlock Holmes stürzte zum Buffett und kehrte nach wenigen Minuten mit dem gewünschten Getränk zurück. So nahe am Ziel; sein Herz schlug voller Erwartung. Kitty musste sich besinnen; das Gegenteil wäre gleichbedeutend mit einer Niederlage gewesen. Wie konnte sie nur die Dummheit machen und sich betrinken! Oder sollte jener Mensch das Mädchen absichtlich betrunken gemacht haben, um sie den Namen, den sie auf der Passkarte gelesen hatte, vergessen zu machen?
Bei Gott, so war es. Deutlich sah Holmes noch, wie jener mit der vollen Sektflasche in der Hand der Tänzerin immer von Neuem einschenkte.
Aber Kitty würde sich sicher in der Zwischenzeit besonnen haben.
»Hier«, rief er ihr entgegen, »trink schnell und besinne dich.«
Ein tiefes Schnarchen tönte ihm entgegen. Vornüber gesunken saß die betrunkene Tänzerin da, von tiefem Schlaf umfangen. Kein Rufen, kein Rütteln vermochte sie zu wecken, die Geister des Champagners hatten allzu stark ihren Geist umnebelt.
»Es ist vergebens«, murmelte Holmes stirnrunzelnd, »ich habe die Schlacht verloren.«
Er ließ die Schlafende ruhig liegen und durchstrich noch einmal die weiten Säle des Kristallpalastes; aber der, den er suchte, war verschwunden.
»Wie ich mir dachte; es wäre ja an einem Tag auch zu viel Glück gewesen, und dabei kann ich Kitty nicht einmal Schuld geben. Sie ist systematisch von jenem Schurken betrunken gemacht worden, und ich habe keinen Zweifel mehr daran, dass er seinen Zweck erreicht hat. Kitty wird sich auf seinen Namen nicht eher besinnen, als bis er ihr genannt und so wieder ins Gedächtnis zurückgerufen wird. Für heute muss ich hier Schluss machen.«
Er ließ sich seine Garderobe geben und ging in Gedanken verloren davon.
Fortsetzung folgt …