Der Welt-Detektiv Nr. 5 – 1. Kapitel
Der Welt-Detektiv Nr. 5
Das Rätsel am Michigan-See
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin
1. Kapitel
Die Brüder Fergusson
Das hatte Chicago noch nicht erlebt! Es war, als ob die Millionenstadt in Aufruhr geraten sei. Menschenmassen wälzten sich aufgeregt durch die Straßen. Wutschreie, wilde Empörungsrufe erfüllten die Luft.
In der Innenstadt musste die Polizei mit Gewalt gegen die Menge, die die Absperrung durchbrechen und gegen den Schauplatz der Katastrophe gelangen wollte, vorgehen.
Denjenigen aber, denen ein Durchschlüpfen der Polizeikette geglückt war, bot sich ein Bild des Grauens. Ein riesiger Autobus war mit höchster Geschwindigkeit in einen aus Triebwagen und zwei Anhängern bestehenden Straßenbahnzug hineingefahren; sämtliche Wagen lagen umgestürzt am Boden, auf ihnen der völlig zertrümmerte Autobus. Die Kraftwagen der Rettungsgesellschaft jagten hin und her, denn obwohl sich der fürchterliche Zusammenstoß bereits vor einer Stunde ereignet hatte, war es noch nicht gelungen, alle Verletzten unter den Trümmern hervorzuziehen.
Tote waren bisher nicht zu beklagen, doch hatten einige der Fahrgäste so schwere Verletzungen erlitten, dass mit ihrem Ableben gerechnet werden musste.
Die Nachricht von dem Unglück hatte sich mit Windeseile in der Stadt verbreitet und die Gemüter aufgepeitscht, denn es handelte sich in der Katastrophe – und das war eben das Entsetzliche – nicht um ein Verkehrsunglück im gewöhnlichen Sinne, sondern um einen unerhörten verbrecherischen Gewaltakt. Die tollsten Gerüchte durchschwirrten die Stadt, aber volle Klarheit über das, was geschehen war, erhielt man erst, als die CHICAGO TRIBUNE mit einem sensationellen Extrablatt herauskam.
Die Zeitung berichtete: Verbrecherjagd in den Straßen Chicagos! Entsprungene Zuchthäusler verursachen schweres Verkehrsunglück! Heute Nachmittag kurz nach zwei Uhr ereignete sich in der Fulham Street durch Schuld der berüchtigten Brüder Fergusson ein schwerer Zusammenstoß zwischen Autobus und Straßenbahn, bei dem zahlreiche Personen lebensgefährlich verletzt wurden. Über die Vorgeschichte dieser furchtbaren Verkehrskatastrophe erfahren wir folgende Einzelheiten: Da verschiedene Anzeichen darauf schließen ließen, dass sich die aus dem Zuchthaus Cleveland entwichenen Raubmörder Fergusson – zwei Brüder, deren Schreckenstaten noch in aller Erinnerung sind – nach Chicago gewandt hatten und sich hier versteckt hielten, setzte sich Polizeidirektor Jeffries mit Sherlock Holmes in Verbindung, der sich in New York aufhielt.
Dass Sherlock Holmes dem Ruf sogleich Folge leistete und bereits gestern Vormittag im Flugzeug mit seinem Gehilfen Jonny Buston hier eintraf, ist ebenso bekannt, wie die Tatsache, dass er noch in der gleichen Stunde mit dem Chicagoer Polizeidirektor eine längere Unterredung hatte, in der alle Maßnahmen, die zur schleunigsten Wiederergreifung der gefährlichen Verbrecher führen sollten, besprochen wurden.
Heute Vormittag um halb zwei Uhr bemerkte Jonny Buston einen Mann in der Westhalle des Zentralbahnhofs, der eine gewisse Ähnlichkeit mit einem der Brüder Fergusson aufwies, obwohl ein Bart die untere Gesichtshälfte verdeckte. Buston wollte sicher gehen und verfolgte den Mann durch einige Straßenzüge. An der Ecke Taxer Street/Battersea Street traf der Verdächtige mit einem zweiten Mann zusammen, der hier gewartet hatte. In diesem erkannte Jonny den anderen Bruder Fergusson. Unter diesen Umständen zögerte er nicht, sofort zur Verhaftung zu schreiten.
Mit zwei rasch verständigten Policemen folgte er den Verbrechern und forderte sie auf, ihm zur nächsten Polizeistation zu folgen. Das war für die Brüder Fergusson das Signal zu einer Reihe schreckensvoller Taten, wie sie Chicago bisher noch nicht erlebt hat. Beide zogen sofort ihre Schusswaffen und eröffneten auf die Beamten ein wildes Feuer, um die darauf unter dem Straßenpublikum ausbrechende Panik zur Flucht zu benutzen; sie bemächtigten sich eines Motorrades, schwangen sich darauf und fuhren, fortwährend in die Menge hineinschießend, davon.
In der Bullham Street war ein Pferd gestürzt. Der Wagen versperrte die ganze Straße. Hart vor einem Zusammenstoß sprangen die Verbrecher vom Rad und liefen, von einer hundertköpfigen Menge verfolgt, dem Innenkanal zu. Von dort rückte aber ein schnell alarmiertes Polizeiaufgebot heran. Die Verfolgten bogen in eine Seitenstraße ab, sich den Weg mit vorgehaltenen Revolvern erzwingend. In der Journey Street versuchten sie, sich eines Automobils zu bemächtigen, doch misslang ihr Vorhaben. Die Polizei folgte ihnen auf dem Fuß. Immer mehr Verstärkungen rückten heran.
In diesem Augenblick erschien auch Sherlock Holmes auf dem Schauplatz. Das wilde Feuer der Verfolgten nicht achtend, stürzte er auf die Verbrecher zu. Diese wandten sich zur Flucht. Sie jagten weiter und sprangen plötzlich in höchster Bedrängnis auf einen in voller Fahrt heransausenden Autobus.
Tom Fergusson stieß den Chauffeur vom Wagen und übernahm die Steuerung, während sein Bruder John, auf der hinteren Plattform stehend, die entsetzten Fahrgäste mit der Schusswaffe in Schach hielt. In wahnsinnigem Tempo raste der Autobus durch die Straßen, bis es dann in der Fullham Street zu der unausbleiblichen Katastrophe kam. Ein aus Triebwagen und zwei Anhängern bestehender Straßenbahnzug kreuzte die Straße. Wenige Augenblicke vor dem Zusammenstoß sprangen die Verfolgten ab und retteten sich auf den Bürgersteig. Sekunden später mischten sich in das ohrenbetäubende Krachen der aufeinander gefahrenen Fahrzeuge die entsetzlichen Hilfeschreie der unter den Trümmern begrabenen Menschen.
Die Verfolgung der Verbrecher dauert bei Drucklegung dieser Extra-Ausgabe an.
Genau fünfunddreißig Minuten später erschien das zweite Extrablatt der CHICAGO TRIBUNE. Es berichtete in lakonischer Kürze:
John Fergusson erschossen!
Bei dem Versuch der Brüder Fergusson, sich erneut in den Besitz eines Kraftwagens zu setzen, kam es zu einem Kampf zwischen ihnen und dem Besitzer des Wagens, wobei John, der Jüngere der beiden Brüder, durch drei Schüsse so schwer verletzt wurde, dass er nach wenigen Minuten starb. Dagegen scheint es Tom Fergusson gelungen zu sein, endgültig zu entkommen.